3 Wie geht Schmecken?
Die Zunge – rebellisch und klug
Die vielleicht rebellischste Zunge gehörte Albert Einstein. Als er die Feier anlässlich seines zweiundsiebzigsten Geburtstages zu später Stunde verließ, wurde er von den wartenden Paparazzi regelrecht umzingelt. Einstein dürfte alles andere als begeistert gewesen sein, er huschte gesenkten Hauptes in die für ihn bereitstehende Limousine. Als er von einem Fotografen, der ihm bis zum Auto gefolgt war, überrascht wurde, streckte er, ohne zu zögern, die Zunge raus und setzte sich damit selbst ein Denkmal. Ungestüm abstehende weiße Haare, weit aufgerissene Augen und die rausgestreckte Zunge sind das Symbolbild eines der größten Physiker unserer Zeit.
Dass eine rausgestreckte Zunge nicht nur rebellisch, sondern auch hinreißend aussehen kann, beweist das Model Cara Delevingne. Sie stellte gleich zu Beginn ihrer Karriere klar: Zunge raus ist das neue Lächeln. Das ist gut so, denn es gibt gute Gründe, die Zunge aus ihrem Schattendasein zu befreien. Auf wissenschaftlichem Parkett ist sie längst zum heimlichen Star avanciert. In jüngster Zeit explodiert die Zahl der Studien rund ums Schmecken regelrecht. Die Erkenntnisse sind beeindruckend, wie diese Beispiele zeigen: Die Gene beeinflussen, was wir schmecken. Die Nahrung der Mutter wirkt prägend auf den Nachwuchs, Geschmackstraining beginnt bereits im Mutterleib. Diäten verändern Geschmacksvorlieben, Stress lässt Süßes weniger süß schmecken. Wenn wir Mineralwasser trinken, hat das dieselbe Wirkung wie saure Vorspeisen – wir werden hungrig. Was wir essen, und was nicht, wie wir leben und sogar wie lange – darüber könnte unsere Zunge Auskunft geben. Die Zunge ist klug. An der Zunge geht kein Weg vorbei. Höchste Zeit, sie unter die Lupe zu nehmen.
Die Anatomie der Zunge
Was wir entdecken, ist eine faszinierende Landschaft mit sanften Hügeln, gefurchten Rinnen und schroffen Rändern, schimmernden Oberflächen und bedeckten oder eher belegten Tälern. Vor allem aber stechen zartrosafarbene Erhebungen hervor – die Zungenpapillen. Hier gilt die schon beschriebene Faustregel: Je mehr es sind, desto ausgeprägter ist die Geschmackswahrnehmung. Ist die Zunge etwas belegt, etwa nach dem Genuss von Milch, lassen sich die Papillen auch mit bloßem Auge gut erkennen. Manchmal sind sie infolge eines Infekts gerötet oder sogar geschwollen und stechen einem sofort ins Auge. Im Normalfall sind sie eher klein und unauffällig.
Zunge mit sichtbaren Zungenpapillen
Auch die Blattpapillen haben Rasensprenger, aber deutlich weniger Fläche auf der sie sich ausbreiten können. Sie schmiegen sich wie Reihenhäuser eng aneinander. Und zwar an den hinteren Zungenrändern, wo sie eine Art Barriere bilden. Während an den Pilzpapillen schon mal ein Geschmack vorbeihuschen kann, stellen die Blattpapillen sicher, dass kein Geschmacksmolekül über die Seitenlinie hinausrutscht, ohne zuvor auf seine Verträglichkeit getestet worden zu sein. Die entscheidende, weil letzte prüfende Instanz sind die Wallpapillen. Sie sind besonders groß, bildlich betrachtet sind es Hochhäuser, die sich v-förmig wie die Formation eines Vogelschwarms auf der Zungenwurzel ausbreiten. (Das ist der Bereich unter dem Gaumensegel, manchen eher als »Zäpfchen« bekannt.) Weil das eine heikle Stelle ist, gibt es hier ein besonders engmaschiges Überwachungsnetz. Bei Ungereimtheiten schlagen die Wächter in den Wallpapillen in letzter Sekunde Alarm und bewirken, dass die möglichen Schadstoffe umgehend hinausgeworfen werden. Das Ganze nennt man dann den Würgereflex. Die Älteren unter den Lesern erinnern sich bestimmt an die bittere Medizin, die sie als Kinder schlucken mussten. Heutzutage sind Hustensäfte gesüßt oder mit chemischen Stoffen versetzt, die die Bitterrezeptoren blockieren – und damit den Würgereflex entmachten. Auch Säuren können Würgereiz auslösen; denken Sie an verdorbene Milchprodukte.
Einen technischen Unterschied macht der in letzter Sekunde hinausgewürgte Kirschkern. Der wurde nämlich nicht am Geschmack, sondern an seiner Größe erkannt. Und diese Materialuntersuchung wird von den Fadenpapillen übernommen. Die Fadenpapillen sind Materialprüfer. Sperriges sortieren sie akribisch aus. In die Speiseröhre lassen sie ausschließlich, was weich, soft und gut eingespeichelt ist. Fehler passieren auch hier gelegentlich, wie im echten Leben. Sie führen dazu, dass die Fadenpapillen in Zukunft noch besser aufpassen, in diesen Fällen sind sie für ein bestimmtes Material oder eine bestimmte Form sensibilisiert. Für Knorpel gilt das beispielsweise oder für das splittrige Gehäuse eines Apfelkerns. Die Materialprüfung beginnt bereits an der Zungenspitze und endet an der Zungenwurzel. Die Fadenpapillen bilden ein starkes, rege kommunizierendes Netzwerk, das sich über die gesamte Zunge ausbreitet. Die Ergebnisse ihrer Materialprüfung senden sie an die Kommandozentrale im Gehirn. Bevor wir Gefahr laufen, eine Fischgräte zu verschlucken, schlagen die Fadenpapillen Alarm und veranlassen, dass wir so lange mit der Zunge im Speisebrei fummeln, bis der Übeltäter identifiziert und ausgespuckt ist. Fadenpapillen sind äußerst emotional. Sie tanzen vor Freude, wenn sie von angenehmen Texturen überrascht werden: dem zarten Schmelz einer Schokolade, dem Prickeln von Champagner, dem luftigen Schaum einer Mousse au Chocolat. Das Knuspern eines ofenwarmen Baguettes, die krosse Haut eines Hühnchens oder ein butterzartes Filet, das beinahe von selbst auf der Zunge zergeht, versetzen die Fadenpapillen in Jubelstimmung. »Gib mir mehr!«, signalisieren sie uns in diesen Fällen. Gleichzeitig können sie sich vollkommen stur stellen, wenn die Textur eines Lebensmittels nicht ihrem Willen entspricht.
Wenn es »nicht schmeckt«, liegt es überhaupt viel häufiger als gedacht an der Textur. Ein ledriges, drei Tage altes Baguette besteht noch immer aus denselben Zutaten, schmeckt aber längst nicht mehr so gut wie frisch aus dem Ofen. Ein Filet, das falsch zubereitet wurde, wird zäh und ist nur noch das halbe Vergnügen. Was machen Sie, wenn etwas nicht schmeckt? Sie gießen Soße dazu und salzen nach, stimmt’s? Die Hersteller von Fertigprodukten tun genau dasselbe – deren Grundzutaten sind ja niemals knackig frisch, sondern mehrfach verarbeitet. Soßen, Aromen, Salz und Zucker sollen über eine erschlaffte Textur hinwegtäuschen. Der eigentliche Geschmack einer Speise wird willentlich unterdrückt. Der Koch des im 16. Jahrhundert lebenden französischen Heeresführers Henri de La Tour d’Auvergne trieb die Soßen-Manie auf den Gipfel. Er soll seinem prominenten Gast ein Ragout aus einem feinen ledernen Handschuh vorgesetzt haben. Diese vermeintliche Delikatesse muss aus einer sehr üppigen Soße bestanden haben.
Fadenpapillen sind äußerst wählerisch. Sie mögen es lieber cremig, als klumpig, lieber zart als zäh. Sperriges und Knorpeliges lehnen sie ab, Frisches und damit naturgemäß Vitaminreiches wird akzeptiert. Wir sollten den Fadenpapillen dankbar sein und lernen, ihnen zuzuhören. Sie führen uns nicht nur zu den gesünderen Lebensmitteln, sondern auch auf den Pfad des Genießens. Der französische Gourmet und Gelehrte Paul Reboux schrieb Hunderte von Rezepten nieder. In einem davon beschreibt er eine Speise aus gewöhnlichen Zutaten: Kartoffelscheiben, Kopfsalat und ein cremiges Dressing mit einer Garnitur aus gekochten Orangenschalen und Karotten. Klingt verdammt simpel, wäre da nicht die Forderung die Beilagen in »kiefernnadeldünne Stifte« zu schneiden. Ein kleiner Kunstgriff, der zur Aufmerksamkeit zwingt, à la war das jetzt die Orange, oder doch die Karotte? »Ich interessiere mich nicht für Spinnenkompott, Ragout von Fledermäusen oder Blindschleichengratin«, gestand Reboux. »Es geht mir lediglich darum, die althergebrachte Verbindung bestimmter Lebensmittel und Zutaten in der Küche aufzubrechen. Meine Mission ist es, das Unerwartete mit dem Köstlichen zu verbinden.«
Mögen Sie Tomaten lieber gewürfelt, in Scheiben geschnitten, geviertelt oder püriert? Als Soße eher stückig oder glatt? Wenn Tomaten nicht »schmecken«, liegt es häufiger als gedacht an der Form der Zubereitung und damit an der Textur. Die Art der Zubereitung eines Lebensmittels zu verändern, kann dazu führen, es unverhofft lieben zu lernen. Die französische Küche ist bekannt für ihren aufmerksamen Umgang mit Texturen. Je kleiner ein Gemüse oder ein Obst geschnitten wird, desto mehr Aromen setzt es frei. In einem Pariser Bistro bekam ich einmal mitten im Hochsommer einen wunderbar kühlen, in winzige Würfel geschnittenen Tomatensalat serviert. Er enthielt außerdem ähnlich kleine Quader von Zitronenschalen und fein gezupftes Basilikum. Es war der köstlichste Salat, den man sich vorstellen kann. Es brauchte mehrere Anläufe und ein gut geschärftes Messer, bis mir zu Hause ähnliches gelang. Seitdem ist mein Tomatensalat à la française die Krönung eines heißen Sommerabends. Einzige Notwendigkeit ist, dass die Tomaten wirklich sonnengereift sind.
Megatrend Textur
Sie sind Freizeitkoch, Foodie oder Restaurantbetreiber? Dann aufgepasst. Textur ist der nächste Megatrend! Farbige Teller und Straßen aus bunten Soßentüpfelchen sind Schnee von gestern, die Aufmerksamkeit wird künftig verstärkt der Textur gelten. Das ergab eine aktuelle Big-Data-Analyse der Global New Products Database (GNPD) der Mintel Marketing und Analyseagentur. Textur soll verstärkt die Sinne stimulieren, außergewöhnliche Erfahrungen ermöglichen und nicht zuletzt für Gesprächsstoff und Zuspruch in sozialen Medien sorgen.
Der haptische Trend »Textur« folgt im Jahr 2019 dem visuellen Trend »Farbe« aus dem Jahr 2017. Wo einst Kurkuma, Matcha, Rote Bete und Aktivkohle für intensive Farben und...