Vorwort
Migration bedeutet für Kinder oft, dass sie in Situationen »dazwischen« leben: zwischen den Familien, zwischen den Religionen und zwischen zwei oder mehreren Ländern. Dies kann einerseits bereichernd sein, denn wir wissen, welchen Vorteil es für die Neuroplastizität des Gehirns bedeutet, zweisprachig aufzuwachsen, andererseits kann es zu innerer Unsicherheit führen und zu dem Gefühl, nirgendwo zu Hause zu sein. Wo ist heute Heimat? Wo ist Fremde? Worte wie daheim, einheimisch, heimelig beziehen sich nicht nur auf die Außenwelt, auf nationale Territorien, sondern sind psychologisch gesehen immer auch Abstufungen subjektiven Erlebens. Der Ort, der daheim beschreibt, ist eine Erfahrung, in der subjektives und objektives Erleben zusammenwirken. Adalbert Stifters früheste Kindheitserinnerungen weisen darauf hin: »Es waren dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, dass es Wälder gewesen sind, die ausserhalb mir waren« (Stifter, 1867). Heimat könnte also in erster Linie dort sein, wo innen und außen noch nicht getrennt sind, ein symbolischer Ort, an dem man »früher« gewesen ist und wo – daran scheint eine tiefe Überzeugung festzuhalten – alles noch gut war. An diese grundlegende Erfahrung von daheim scheinen im Erwachsenenleben nur noch Anäherungen möglich. Für viele Schriftsteller stellt im Erwachsenenleben die Sprache ein wahres Zuhause dar sowie das Netz von Beziehungen, die das Gefühl vermitteln, von anderen in der eigenen Wesensart anerkannt zu sein. Daheim könnte dort sein, wo wir sein dürfen und nichts beweisen müssen. W. G. Sebald gibt zu bedenken, dass der Begriff Heimat in reziprokem Verhältnis zu dem stehe, worauf er sich beziehe. Je mehr von der Heimat die Rede sei, desto weniger gäbe es sie. Und wie steht es mit dem Begriff der Fremde? Seit dem letzten Jahrhundert haben sich Bezeichnungen wie Verfremdung, Entfremdung, Überfremdung in der bildenden Kunst, Literatur, Sozialwissenschaften, Philosophie, Anthropologie eingebürgert; über den Begriff des »Anderen«, des »Fremden« und des »Fremden in uns« wurde viel geschrieben. Wenn es also zutrifft, dass ein Phänomen im Verschwinden begriffen ist, je mehr darüber gesprochen wird, dann ist die Frage berechtigt, welche Bedeutung dieser Begriff heute eigentlich noch haben kann. Aus der konkreten, geografisch bestimmten Fremde, in die man noch gehen konnte, ist Entfremdung geworden, von der das Individuum – gewollt oder ungewollt – eingeholt wird. Das Fremde ist in der Moderne vorwiegend innen. Dies entspricht der epochalen Wende des 20. Jahrhunderts, das als das Jahrhundert der Psychoanalyse bezeichnet worden ist: die Aufmerksamkeit hat sich von den äußeren Geschehnissen in die Innenwelt verlegt. Das Unbewußte wurde entdeckt, das zu ähnlichen Konsequenzen wie die Entdeckung Amerikas 500 Jahre zuvor führte. Eine im Inneren des Menschen lokalisierte Welt tat sich auf, in denen sich die Polaritäten von heim und fremd neu repräsentieren konnten. Zugleich hat sich auch die äußere, physische Welt grundlegend geändert. Die geografischen Entfernungen haben sich durch die billigeren Kommunikations- und Transportmittel verkürzt. Dadurch ist das vorherige Fremde näher gerückt, es erscheint zugänglich, erreichbar, begreifbar und ist vor allem konsumierbar geworden. Es hat oft seine Eigenheit als Fremdes verloren und bewahrt fast nur noch eine äußere, käufliche Form.
Entwurzelung und Entfremdung entstehen heute auch durch die Kluft, die sich nach erfolgter Migration zwischen den Generationen aufmacht: während die älteren Mitglieder eines Sozialverbandes an der Tradition festhalten, bricht die junge Generation mit den Gewohnheiten. Dies bringt enorme psychische Herausforderungen für Heranwachsende mit sich: wo ein stabiler soziokultureller Rahmen vorhanden ist, entstehen Subkulturen als Kompensation: sie sind eine kreative Antwort auf etwas bereits Bestehendes, das der Veränderung bedurfte. Wenn Jugendliche hingegen in einer sozialen und kulturellen Leere aufwachsen, dann entsehen unter Umständen regressiv orientierte Subkulturen, welche das Ziel haben, eine brüchige Identität zu ersetzen und die sich oft – wie im Bandenwesen – nur an der Macht des physisch Stärkeren orientieren. Wenn eine Psychotherapie für Jugendliche notwendig wird, dann ist es meistens schon sehr spät: seit Jahren war dabei nicht nur eine Familie überfordert, sondern ein gesamtes soziales Umfeld war außerstande, lebensnotwenige Bedürfnisse eines Kindes wahrzunehmen und in konstruktive Bahnen zu lenken.
Was ist nun das Spezifische an der Methode der Sandspieltherapie für Migranten? Als vorwiegend nicht verbale und nicht direktive Methode kann das Sandspiel auch dann angewendet werden, wenn Therapeut und Patient nicht diesselbe Sprache sprechen. Der Interkulturalität und den individuellen Bedürfnissen des Spielenden wird also größtmöglicher Raum gewährt. Außerdem kann das Spielmaterial so ausgewählt werden, dass der jeweilige kulturelle, soziale, religöse und auch politische Hintergrund unmittelbaren Ausdruck finden kann, ohne dass sich der Therapeut im Tiefen mit dem jeweiligen kulturellen Kontext auseinandergesetzt haben muss. Das ist in vielen Situationen, in denen sich Therapeuten heute befinden, gar nicht möglich und nicht einmal unbedingt notwendig, denn im Sandspiel gilt die in den 1930er Jahren von der britischen Kinderärztin und Psychotherapeutin Margarete Lowenfeld geprägte Aussage, dass das Kind im Sandspiel seine innere Welt zu seiner eigenen Reflektion vor sich ausbreite. (Lowenfeld, 1979)
In diesem Band kommen Beiträge von Sandspieltherapeuten aus neun Ländern zur Sprache. Eine ebenso breite Palette stellen die Lebenssituationen der behandelten Kinder und Jugendlichen dar: Behelfssiedlungen am Rande der Großtädte Lateinamerikas oder Südafrikas, in denen sich die vom Krieg Vertriebenen sammeln, Adoptivfamilien aus Mitteleuropa, Ein-Kind-Familien in China sowie Großfamilien in Palästina. Welche Form von Leid teilen diese Kinder trotz unterschiedlichen geografischen, religiösen und sozialen Kontexten? Den meisten fehlen Erwachsene, die sich in ihr Leben einfühlen könnten. Oft fehlt ihnen aber einfach die Möglichkeit, frei und der eigenen Phantsie gemäß zu spielen: damit regulieren sich Kinder spontan, durch das Spiel verarbeiten sie problematische Erfahrungen, mentalisieren, entwickeln Resilienz und reifen nach. In unserer Gesellschaft ist der Lebensraum vorgegeben, architektonisch bis in den letzten Winkel ausgebaut, dazu ist immer weniger unstrukturierte Zeit vorhanden: die Kinder müssen sich dem allgemein beschleunigtem Tempo anpassen. Oft fallen sie bereits im Mittelschulalter aus den Schulsystemen heraus. In jedem Fall reagieren sie, so gut sie können: wie z. B. mit stummem Rückzug wie das chinesische Mädchen, das trotz brillanter Leistungen die Schule verweigert. Dabei werden Kinder gar nicht leicht psychisch krank. Kinder haben ein unerschöpfliches Potential zu psychischer Selbstregulierung. Damit sich neurotische Symptome entwickeln können, muss ein Kind tagtäglich, über Jahre hinweg und konsequent von der Mehrzahl signifikanter, in seinem Lebensraum vorhandener Erwachsener falsch behandelt werden. Auch wenn beide Eltern versagen, suchen Kinder mit sicherem Instinkt nach einem anderen, psychisch gesunden Erwachsenen in ihrer Umgebung und zwar so lange, bis sie ihn gefunden haben. Nur wenn sie schon in frühester Kindheit missbraucht und misshandelt worden sind, ist dieser Instinkt beinträchtigt und bringt die Kinder dazu, sich an pathologische Erwachsene zu klammern und sie enden in einem Teufelskreis von seelischer Bedürftigkeit und Missbrauch. Kinder, die in den ersten Lebensjahren eine sichere Bindungsbeziehung aufbauen konnten, sind hingegen psychisch stabil, haben große Resilienzbereitschaft, können multiple Traumata überstehen und sogar an ihnen wachsen. Dass es heute so viele Kinder gibt, die Hilfe brauchen, hängt wohl damit zusammen, dass diesen Kindern schon sehr früh ihr eigenes, natürliches Selbstsein verweigert worden ist. Die Kindertherapeuten und unter ihnen vor allem die Ausdruckstherapeuten leisten nicht nur wichtige klinische Arbeit und helfen Kindern ihre neurotischen Verhaltensweisen zu überwinden, sie nehmen auch eine kollektive Aufgabe wahr und von ihnen geht eine Wirkung aus, weil sie Modelle schaffen, in denen die Kreativität selbst zum Vehikel wird. Dass heute ein so großer Bedarf an Kindertherapeuten besteht, ist eigentlich ein Armutsszeugnis für das Schul-und Erziehungssystem. Es wäre so unermesslich kostengünstiger, wenn kreatives Gestalten im öffentlichen Bildungssystem als etwas Zentrales eingebaut wäre wie z. B. im Schulsystem in Finnland – in dem Musik, Kunst, Tanz und Drama diesselbe Wichtigkeit haben wie...