EINLEITUNG
Kochen zählt zu den ältesten Tätigkeiten der Menschheit. Lebte der Urmensch als Sammler und Jäger noch von der Hand in den Mund, so führte erst die Aufbewahrung und Konservierung von Nahrungsmitteln zur Seßhaftigkeit und ließ eine Urbanisierung zu. Die Bereitung von Speisen steht somit an den Anfängen der Kultur überhaupt und zieht das Bauen von Häusern, Formen und Bilden von Figuren oder das Malen von Bildern erst nach. Über die Jahrtausende und Jahrhunderte hat sich ebenso wie in anderen Kunstgattungen auch im Kochen und Essen ein steter Wandel vollzogen, überliefert in unterschiedlichsten Quellen, die entwicklungsgeschichtlich einer behutsamen und sorgfältigen Interpretation bedürfen. Die Bereitung von Speisen stellt bekanntlich eine vergängliche Kunstform dar, als Forschungsgegenstand verbleiben lediglich die entsprechenden Anweisungen in den Rezepten oder anderen Aufzeichnungen. Über die grundsätzliche Schwierigkeit, Kochkunst verbal zu erklären, debattierten schon die Griechen: „Schriftliche Anweisungen sind schlimmer als unbrauchbar. Nein, die Kunst des Kochens läßt sich nicht erklären.“1 Trotzdem sind in den Kochbüchern als „Büchern des Lebens“ all jene Ideen und Botschaften gerettet, die ohne Zweifel Auskunft über den Entwicklungsstand eines Menschen und eine bestimmte kulturelle Epoche geben.
Nach Peter Kubelka ist ein Kriterium für Kunst, „daß die Kunst Kulturen auszudrücken imstande ist: Barock, Gotik, französische Renaissance, italienische Renaissance, genau das kann das Kochen auch. (…) Kulturepochen drücken sich durch das Kochen aus. Aber auch Individuen, vergleichbar am Unterschied zwischen Bach und Händel oder zwischen Rembrandt und Jan Steen. Genauso ist es beim Kochen.“2
Kochen als Gegenstandsbereich der Kunstgeschichte zu betrachten ist nach Paul v. Naredi-Rainer, Vorstand am Institut für Kunstgeschichte in Innsbruck, in etwa so umstritten wie im Mittelalter bzw. der angehenden Neuzeit die Zurechnung der um Nobilitierung bemühten bildenden Künste zu den artes liberales. Spätestens seit den Experimenten zahlreicher Künstler aus unserem Jahrhundert und der Etablierung eines Lehrstuhls für Film und Kochen als Kunstgattung im Jahre 1980 durch Peter Kubelka an der Städel-Kunsthochschule in Frankfurt scheint diese Zuordnung für die zeitgenössische Kunstszene außer Frage zu stehen.3
Allein aus der Verbindung kochender Maler, Musiker und Architekten4 oder der Verknüpfung schöner Bilder und Rezepte in kostspieligen Büchern möchte ich die Anerkennung von Kochen als eigener Kunstgattung nicht herleiten. Das Kochen folgt wie jede andere schöpferische Tätigkeit eigenen Gesetzlichkeiten, deren Grundlage im Wechselspiel zwischen dem historisch gegebenen Ausgangspunkt und einer kochimmanenten Entwicklung liegt. Die künstlerische Gestaltung folgt einer polaren Vorstellungswelt, wo Gegensatzpaare von fest und flüssig, trokken und naß, jung und alt, kalt und warm gegenübergestellt sind. Die formale Ordnung trifft auf formloses Chaos, welches den Ausgangspunkt der allgemeinen und individuellen Kreativität darstellt. In der Wechselwirkung des materialimmanenten Triebs im Stoff begegnet dieser im künstlerischen Tun dem Trieb zur Form und gestaltet so den Prozeß. Dabei vermittelt der Stofftrieb die Tendenz des Lebendigen, wo der Formtrieb strukturieren möchte. Der Komposition liegt die Vorstellung vom Ganzen, die Idee zugrunde, die es in der Folge zu kultivieren gilt. So wie der bildende Künstler wählt die Köchin oder der Koch aus den zur Verfügung stehenden Materialien aus, stellt sie zusammen und bringt sie in eine bestimmte Anordnung oder Reihenfolge. Die Mischung und die Menge, ebenso wie die Größe und die Form der Zutaten werden festgelegt, der zeitliche Ablauf überlegt, das nötige Werkzeug und andere Prozeduren vorbereitet. Hierin, in derVorbereitung, liegt bereits jener Moment, welcher der Inspiration wichtige Impulse verleiht und das Schöpferische einleitet. Eine solche Vorgangsweise entspringt dem Willen, die äußerste Präzision des Ausdrucksmittels auszubeuten, das Zusammentreffen der Zutaten zu strukturieren und somit eine Speise zu artikulieren. Zum Thema Kochen als Kunstgattung hat sich Prof. Kubelka, langjähriger Leiter einer Kochklasse am Städel in Frankfurt, eingehend geäußert, auf seine diesbezüglichen Vorträge und Seminare möchte ich in diesem Zusammenhang verweisen.5
In den achtziger und neunziger Jahren ist eine vermehrte theoretische Auseinandersetzung mit kulinarischen Themen zu verzeichnen6, die Diskussion über „Kunst und Küche“ ist im Vormarsch. Damit einhergehend ist eine fortschreitende Vernachlässigung des handwerklichen Kochens in der Praxis zu beobachten, einer ehemals tagtäglich in jedem Haushalt ausgeführten Tätigkeit. Mein Interesse an diesem Wissensgebiet läßt sich nicht zuletzt auch auf diese Entwicklung zurückführen, verbunden mit dem Bedürfnis, Antworten darauf zu finden. Das stete Verlangen, die aus den alten Rezepten aufgenommenen Anregungen auch praktisch umzusetzen, hat letzten Endes zu einer mehrere Jahre dauernden Beschäftigung mit diesem Thema geführt.
Allen, die an der Realisierung dieses Buches mitgewirkt haben, möchte ich an dieser Stelle danken, ganz besonders meiner Familie und meinen Freunden. Prof. Peter Kubelka bin ich als Mentor und Auslöser dieser Arbeit zu besonderem Dank verpflichtet, ebenso Prof. Paul Naredi-Rainer, der sich in einer fächerübergreifenden Betreuung meiner Sache angenommen hat. Der Fotografin Franziska Wächtler und dem Grafiker Benno Peter danke ich für die Berücksichtigung der vielen Wünsche und die kooperative Zusammenarbeit. Für wertvolle Hinweise, anregende Einwände und die freundliche Hilfe bei der Beschaffung von Quellen danke ich Christoph Bertsch, Hellmut Bruch, Birgit Humpeler, Elisabeth Meyer-Renschhausen, Alois Niederstätter, Katharina Pfleger-Siess, Harry Schraemli, Franziska Schulz, Max Siller, Stefan Sonderegger, Renate Sparr, Hugo Tiefenthaler, Alice Vollenweider, Claudia Wedekind und Andreas Winkler.
Zielsetzung
Ich habe mir in dieser Arbeit die Aufgabe gestellt, auf die in alten Rezepten steckenden und bislang wenig notierten Maßangaben hinzuweisen, deren Lesbarkeit durch die Auseinandersetzung mit diesem nicht zu unterschätzenden Teilaspekt, dem Maß im Kochen, zu erleichtern. Bei der Untersuchung des Maßes in den uns über die Jahrhunderte im Abendland erhaltenen Rezepten lag neben der Erfassung quantitativer Angaben das Hauptaugenmerk auf der Auseinandersetzung mit deren qualitativem Gehalt. Eine gegebene Quantität im Kochen ist dann von Interesse und Bedeutung, wenn sie gleichzeitig eine Qualität ausdrückt. Dabei treten die in der Vergangenheit an Maße oder Messungen gebundenen Überzeugungen, ein am Menschen orientiertes und nicht vom Gegenstand abstrahiertes Messen ebenso wie die den Maßen innewohnenden Eigenschaften als Träger von Macht und Prestige, zutage. Es geht neben den in konkreten Zahlen ausgedrückten Quantitäten und den über die Sinne wahrgenommenen Größen auch um die Gestalt und Form der Zutaten, um die Berücksichtigung eines Maßes, das von der Qualität des Objektes hergeleitet auch einen sozialen Gehalt, der sich hinter der Heterogenität der Angaben verbirgt, zum Vorschein bringt.
Die in der Fachliteratur häufig anzutreffende Behauptung, daß in mittelalterlichen Rezepten jegliche Mengen- oder Zeitangaben fehlten, fußend auf einer rein quantitativen Beurteilung in Zahlen ohne Rücksicht auf die über die Sinne gesteuerten Messungen, sollte in diesem Zusammenhang einer Klärung oder zumindest einem besseren Verständnis zugeführt werden. Nicht immer sind die vorgefundenen Maße sofort nachvollziehbar, erst die genauere Kenntnis des quantitativen Denkens, der religiösen oder diätetischen Auffassungen, des sozialen Umfeldes und der wirtschaftlichen Bedingungen läßt eine Systematik oder Struktur erkennen. Auch ist aus dem Fehlen einer Angabe nicht voreilig auf deren Bedeutungslosigkeit oder gar auf eine Unfähigkeit im Umgang mit Mengen zu schließen, es kann das Gegenteil der Fall sein. Allgemein bekanntes und weit verbreitetes Grundwissen einer Zubereitung, beispielsweise Brot oder Gemüse, bedurfte keiner schriftlichen Erwähnung, und entsprechend rar sind die Rezepte dafür. Die über Jahrzehnte gültige Auffassung völlig überwürzter Speisen im Mittelalter, die der angeblichen Übertünchung eines verdorbenen Fleischgeschmackes oder ausschließlich dem Zwecke der Konservierung gedient haben sollen, stand neben dem schlechten Ruf einer ausschweifenden römischen Küche, die sich mit Vorliebe und ausschließlich dem Luxus und der Exotik hingab.7 Fehleinschätzungen dieser Art entstanden nicht zuletzt aus dem mangelnden Verständnis für Mengen- und Maßangaben, interpretiert aus der heutigen Sicht. Wichtig ist das Erkennen von Maßen, die sich zwar einer heutigen Umrechnung großteils entziehen (eine Umrechnung auf ihr metrisches Äquivalent ist problematisch, läßt sich in der Praxis meist gar nicht durchführen),...