Montag, 20:15
Streit in der SafeIT
»Was denkst du dir eigentlich dabei?«
Eleanore Ortiz war laut geworden. Gleichzeitig hatte sie sich nach vorne gebeugt und ihre Hände links und rechts auf der Tischplatte aufgestützt. Paul Steiner sah, wie sich ihre Finger verspannten. Es wirkte, als ob sie sich schon im nächsten Moment auf ihn stürzen könnte. Da schlägt wohl wieder einmal ihr südamerikanisches Temperament durch, dachte er, während er sich betont langsam zurücklehnte.
»Ich verstehe gar nicht, warum du dich so aufregst.«
»Das verstehst du nicht?«, fuhr ihn Ortiz an. Sie war nun tatsächlich von ihrem Stuhl aufgesprungen. Ihre Augen funkelten zornig.
»Ele, setz dich bitte wieder hin und lass uns vernünftig darüber reden«, probierte er es auf die väterliche Tour, die normalerweise immer funktionierte. Die beherrschte er wie kein anderer: Luft herausnehmen, sich in einzelnen Punkten nachsichtig zeigen, den eigentlichen Vorwurf aber sukzessive entkräften, bis am Ende alles auf ein Missverständnis hinauslief.
»Vernünftig?«, wurde ihm die Tour schon im Ansatz vermasselt. »Das sagst ausgerechnet du?«
»Jetzt beruhige dich doch erst mal!«, versuchte es Steiner noch einmal. Doch seine Kollegin war nicht mehr zu bremsen. »Wie soll ich mich beruhigen, wenn du unsere Arbeit vorsätzlich sabotierst?«
»Ich bin doch kein Saboteur!«, wandte Steiner ein, hörte aber selbst, wie schwach das klang.
»Allein dein Verhalten im heutigen Meeting: die pure Verweigerung! Als hättest du immer noch nicht verstanden, dass Transparenz und Offenheit für unsere Arbeit essenziell sind.«
Steiner setzte erneut an, doch seine Kollegin wischte seinen Einwand mit einer energischen Handbewegung zur Seite, bevor er ihn aussprechen konnte. Sie war jetzt so richtig in Fahrt gekommen.
»Schlimm genug, dass du deine Teamkollegen an der kurzen Leine hältst«, schleuderte ihm Ortiz ins Gesicht. »Aber deine Geheimniskrämerei im Projekt bringt das Fass endgültig zum Überlaufen!«
Steiner musste blinzeln und fuhr sich rasch über die Augen. Ortiz starrte ihn unverwandt an. Obwohl sie fast einen Kopf kleiner und sicher 30 Kilo leichter war, musste Steiner zugeben, dass jetzt etwas Bedrohliches von seiner Kollegin ausging. Ihr ganzer Körper wirkte wie ein einziger Muskel, der zum Zerreißen angespannt war. Als er sich gerade fragte, ob sie wirklich einen Angriff wagen würde, gab es plötzlich einen ohrenbetäubenden Knall. Steiner fuhr zusammen. Wie vom Blitz getroffen, kam ihm in den Sinn, während er die Tischplatte unter Ortiz’ Hand anschaute, die immer noch von der Wucht ihres Schlages zu zittern schien.
Dann aber ging ein Ruck durch ihn. Ansatzlos sprang er auf. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«, brüllte er sie an. »Dass du mir da Moralvorträge halten kannst!«
»Moralvorträge!«, schrie Ortiz zurück. »Es geht nicht um Moral. Es geht um Fairness! Und Loyalität!«
Steiner schluckte. »Du bist ja verrückt«, presste er hervor, konnte aber nicht verhindern, dass er dabei den Blick abwandte.
»Leugne nur. Du wirst schon sehen, wohin das führt!«, zischte Ortiz so heftig, dass sich zwischen ihnen ein feiner Sprühregen von Speicheltropfen ergoss.
»Willst du mir etwa drohen?«, fragte Steiner, während er seinen Blick wieder in die Richtung seiner Kollegin zwang.
»Jedenfalls werde ich morgen noch einmal mit Viktor reden«, erklärte Ortiz. »Und am Donnerstag wird das Projekt das Erste sein, was ich mit Heidrun und Ferdinand bespreche. Dieses Mal kommst du nicht ungeschoren davon!«
»Tu, was du nicht lassen kannst«, entgegnete er so gleichgültig wie möglich. Ortiz sollte ja nicht glauben, dass er sich gleich in die Hose machte, wenn sie zu den beiden Geschäftsführern lief. Seit Heidrun und Ferdinand Junior ihren Vater beerbt hatten, war zwar vieles anders geworden – passiert war ihm dennoch nie etwas. Und Viktor Solochin war zwar fachlich ein Genie, sozial aber eher autistisch unterwegs. Wahrlich kein Grund, sich derart zu echauffieren! Wenn ihm jetzt noch ein verächtliches Grinsen gelang, war die Sache wohl wieder im Lot. In seinen 30 Jahren im Vertrieb hatte er weiß Gott schon schwierigere Situationen bewältigen müssen!
»Darauf kannst du Gift nehmen«, holte ihn Ortiz wieder in die Gegenwart zurück. Sofort fiel Steiner auf, dass sich ihre Stimme wieder ganz normal anhörte. Keine Spur von Emotion mehr. Was sie sagte, klang wie eine nebensächliche Feststellung. War das die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm? Doch bevor Steiner sich die plötzliche Veränderung erklären konnte, machte seine Kollegin auf dem Absatz kehrt und ging rasch davon. Ehe er sich versah, war sie beim Ausgang angelangt. Das Licht im Treppenhaus sprang an und er sah, wie sie Stufe für Stufe kleiner wurde. Für eine Weile hörte er noch das Klappern ihrer Absätze. Dann war es auf einmal ganz still.
Steiner atmete durch. Erst jetzt, da er seinen langen Körper langsam durchstreckte, fiel ihm seine Anspannung auf. Das war nicht gut, das war gar nicht gut! Ob man ihm jetzt doch noch einen Strich durch die Rechnung machte, wo doch schon die Kassa klingelte?
Die macht ihre Drohung doch ohnehin nicht wahr, versuchte er sich zu beruhigen. Bei der SafeIT verpetzte man einander nicht. Stattdessen tat man alles dafür, die Konflikte kollegial zu lösen. Und Konflikte hatte es zuhauf gegeben, seit die jungen Glaser-Geschwister die Geschäftsführung übernommen hatten.
Zugegeben: In den letzten Monaten waren die Auseinandersetzungen des Öfteren eskaliert. Daran war vor allem die Einführung dieser Kanban-Methode schuld. Warum musste plötzlich alles transparent sein? Wozu brauchte es überall Austausch? Und das nicht nur zwischen den Kollegen untereinander, den verschiedenen Geschäftsbereichen, dem Management und sogar zwischen Unternehmen und Kunden? Am Anfang hatte er das Ganze ja bloß für ein Kinderspiel gehalten. Er erinnerte sich noch gut an sein herzhaftes Lachen, als der eigens von der Geschäftsführung eingestellte agile Coach die Idee vorstellte. Dieser Nikolas Gauss glaubte allen Ernstes, dass man seine Arbeit auf ein paar Zettelchen auf einem Whiteboard darstellen konnte! Und bildete sich ein, damit komplexe Unternehmensprozesse managen zu können! Aber nachdem alle davon so angetan waren, hatte er halt gute Miene gemacht. Schließlich wollte er nicht als Spielverderber dastehen.
Sein Team hatte er von Anfang an ganz gut im Griff gehabt. Die fraßen ihm ja ohnehin aus der Hand. Wer von denen hatte denn schon eine Ahnung von den speziellen Vorgängen im Bankensektor, auf den sie sich fokussiert hatten? Von den eigenen Gesetzen des Vertriebs ganz zu schweigen!
Doch jetzt war allerorten Kommunikation angesagt. Überall mussten nunmehr Informationen fließen, explizite Abstimmungen erfolgen und klare Vereinbarungen getroffen werden. Wofür das gut sein sollte, konnte ihm bislang keiner erklären. Das führte doch bloß dazu, dass man sich permanent rechtfertigen musste, statt sich auf seine eigentliche Arbeit konzentrieren zu können – so wie früher, wo ihn wochenlang keiner gefragt hatte, womit er sich eigentlich beschäftigte.
Im Grunde brauchte sich also keiner zu wundern, dass er sich diesem Transparenzzwang entzog, wo es nur ging. Mittlerweile war es wie ein Spiel, dessen Regeln er auszureizen versuchte – und manchmal bewusst übertrat. Natürlich führte das zu weiteren Konflikten. Erst letzte Woche hatte ihm Gauss vorgeworfen, die größte Blockade in der SafeIT zu sein! Aber solche Angriffe war er gewohnt und Gauss’ Wutausbrüche hatten fast schon etwas Rituelles. Der konnte sich so schön ärgern, dass es die reine Freude war, die getroffenen Vereinbarungen zu missachten. Doch möglicherweise sah die Sache nun doch ein wenig anders aus. Vorausgesetzt, dass Ortiz wirklich etwas wusste. Aber das konnte doch gar nicht sein – oder doch? Hatte etwa Viktor etwas verraten?
Steiner blickte auf die Uhr: 20:42. Wahnsinn! Eigentlich wollte er am Abend nur noch ein paar Kleinigkeiten erledigen. Aber dann war alles ganz anders gekommen. Zuerst war Gauss bei ihm vorbeigeschneit, um sich für das morgige Retrospektive-Meeting abzustimmen. Dann traf eine neue Nachricht von Luka Novacic im Posteingang ein – dessen Drohungen wurden allmählich auch immer lästiger. Und zu allem Überfluss hatte dann auch noch seine Schwester angerufen.
Alles in allem war es wohl höchste Zeit, hier die Zelte abzubrechen. Aus irgendeinem Grund musste er auf einmal grinsen – und spürte sofort, wie seine Sicherheit zurückkehrte: Nein, es würde nichts mehr dazwischen kommen! Nur noch ein paar Tage und dann wartete ein neues Leben auf ihn....