Einführung:
Sind wir endlich da?
Als Gemeindeleiter sind wir im Heilsgeschäft tätig. Das Evangelium als Ganzes zielt ab auf Erlösung. Unsere Chance (und unser Problem) besteht darin, dafür zu sorgen, dass wir wirklich verstehen, was Erlösung genau bedeutet. Und zwar umfassend.
Dallas Willard
Sind wir endlich da?
Jeder Vater und jede Mutter kennt diese Frage.
Jedes Kind hat sie schon einmal gestellt.
Jeder Mensch hat sie in sich gespürt.
Wir leiden an Ankomm-Ungeduld. Wir hasten durch unser Leben und sind ständig in Eile, weil wir ankommen wollen – wo, wissen wir nicht.
Der verstorbene amerikanische Kardiologe Meyer Friedman hat einmal den Begriff Hetzkrankheit geprägt, womit er diesen stets getriebenen, besorgten, geschäftigen und zeitarmen Charakter unseres Lebens bezeichnete. Er kam auf diese Bezeichnung, nachdem seinem Polsterer das auffällige Abnutzungsmuster der Stühle in seinem Wartezimmer aufgefallen war. Die Stühle waren nur an der Vorderkante verschlissen. Menschen, die nichts anderes zu tun hatten, als darauf zu warten, dass sie ihren Kardiologen sprechen konnten, saßen buchstäblich auf dem Sprung – auf der äußersten Stuhlkante.
Sind wir endlich da?
Irgendetwas in uns wartet. Worauf, wissen wir nicht.
Auf etwas anderes? Etwas Besseres? Auf etwas, auf das wir – gefühlt – immer schon warten.
Der christliche Glaube hat als tiefsten und geheimnisvollsten Ausdruck für das, worauf wir warten, das Wort Ewigkeit gefunden. Gott hat dem Menschen „die Ewigkeit ins Herz gelegt“, erfahren wir in Prediger 3,11. Wir werden die Ahnung nicht los, dass es mehr gibt als diese vergängliche Welt, dabei sind wir Menschen die Einzigen unter allen Geschöpfen, die wissen, dass „alles Fleisch wie Gras ist“. Aber Gott hat die Ewigkeit ins Herz des Menschen gelegt.
Sind wir endlich da?
Die meisten von uns denken, die Ewigkeit sei einfach Zeit von endloser Dauer. Aber wir hungern nach mehr als einfach einer unendlichen Fortsetzung des Lebens, wie wir es jetzt erleben, mit all seinem Leid und seinen Enttäuschungen. Tatsächlich gibt es für die Angst vor einer endlosen Existenz einen eigenen Begriff – Apeirophobie – und sie kann ebenso beunruhigend sein wie der Gedanke an den Tod.1
Brenda Colijn allerdings schreibt in ihrem Buch Images of Salvation in the New Testament (Bilder der Erlösung im Neuen Testament), dass das ewige Leben, von dem die Bibel spricht, nicht in erster Linie durch seine Dauer gekennzeichnet ist. Ewiges Leben ist „qualitativ anders als das sterbliche menschliche Leben. Es ist ,das Leben, durch das Gott selbst lebt‘.“2 „Es ist in erster Linie qualitativ und nicht quantitativ.“3 „,Ewig‘ beschreibt Leben von der Art, wie man es in Christus hat.“4
Das bedeutet, ewiges Leben hat es nicht nur mit der Zukunft zu tun. Wir können es jetzt schon haben. Und es geht auch nicht um ein Irgendwo-anders, sondern wir können hier bereits darüber verfügen.
Vor allem ist ewiges Leben nichts, was wir durch eine einfache Transaktion erhalten, die unseren zukünftigen Zielort bestimmt. Vielmehr ist es etwas, das wir bereits jetzt erleben, indem wir Jesusschüler werden, und etwas, das der Tod einmal nicht mehr zu beenden vermag.
Das bedeutet, dass viele von uns ein neues Verständnis der Guten Botschaft entwickeln müssen, die Jesus uns gebracht hat.
Nach Stephen Prothero, Professor an der Boston University, ist es diese Vorstellung eines „Arrangements“, das zum Eintritt ins ewige Leben berechtigt, was das Christentum von anderen Religionen unterscheidet. In seinem Buch God is not One definiert er das Christentum als „den Weg der Erlösung“. Die übliche christliche Botschaft beschreibt er folgendermaßen: „Sünder können keinen Einlass in den Himmel bekommen und auch kein ewiges Leben.“ Deshalb „kann jeder, der diese Geschichte (das Evangelium) hört, seine Sünden bekennt und sich Jesus zuwendet, gerettet werden“, was zur Folge hat, dass er einmal „in den Himmel kommt“. Prothero fährt fort: „Heute ist der Eintrittspreis in die christliche Familie noch immer eher die Orthodoxie (das richtige Denken) als die Orthopraxie“, nämlich zu tun, was Jesus gesagt hat.5 Mit anderen Worten: Christen sind Leute, die die richtigen Dinge glauben und deshalb in den Himmel eingelassen werden, wenn sie sterben.
Diese Sicht weckt Erinnerungen an den Höhepunkt des Films Monty Python und der Heilige Gral: König Artus und seine Ritter erreichen endlich das Schloss, das sie lange gesucht haben. Zwischen ihnen und dem Schloss ist ein bodenloser Abgrund, und die einzige Brücke, über die man zum Schloss gelangt, wird von einem alten, verhutzelten Torhüter bewacht. Nur wer die richtige Antwort auf seine Frage geben kann, erhält Zutritt zum Schloss. Wer sie nicht kennt, wird in den Abgrund gestürzt.
Ich glaube, so ähnlich verstehen viele Menschen heute Erlösung. Wenn wir sterben, landen wir entweder im Schloss (Himmel) oder im Abgrund (Hölle), und „Erlösung“ oder „Rettung“ besteht darin, die richtige Antwort zu kennen, damit Gott uns erlauben muss, über die Brücke zu gehen.
Das Problem ist nur: Jesus redet so nicht von der Erlösung. Er redet so auch nicht über das ewige Leben. Tatsächlich definiert Jesus – und übrigens das gesamte Neue Testament – ewiges Leben nur einmal, und zwar sehr präzise und auf eine Weise, die heute weitgehend vergessen zu sein scheint: „dich, den einen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast“ (Johannes 17,3).
Ewiges Leben = Gott erkennen.
Wohlgemerkt, Jesus sagt nicht: „Dass sie von dir wissen.“ Er sagt: „Dass sie dich erkennen.“ Philosophen unterscheiden zwischen einem Kennen aufgrund einer Beschreibung und einem Kennen aufgrund von persönlicher Bekanntschaft.6 Ich kann zum Beispiel Moskau beschreiben, weil ich etwas darüber in Büchern gelesen oder in Filmen gesehen habe; aber wie es an einem heißen Augustabend in Rockford, Illinois, ist und wie es nach einem Gewitter hier riecht, das weiß ich aus Erfahrung und persönlichem Kennen. Ich kenne das Geräusch, das ein Tennisball auf den Tennisplätzen der East High School macht. Ich kenne die Hoffnungen und Streitigkeiten und Ängste dieser Stadt und ich kenne das Stockholm Swedish Inn, denn Rockford war meine Heimatstadt.
Kennen aus Erfahrung schließt Kennen durch Beschreibung ein, geht aber viel tiefer. Es ist interaktiv, partizipatorisch und erfahrungsbezogen. Die Art, „Gott zu (er)kennen“, die das ewige Leben ausmacht, ist eine interaktive Beziehung, in der ich Gottes Gegenwart und Güte und Macht hier in meinem wirklichen Leben auf dieser Erde erfahre.
Gott zu erkennen bedeutet ein reiches, von Dankbarkeit erfülltes, partizipatorisches Miteinanderleben von Augenblick zu Augenblick.
Gott zu erkennen bedeutet, mich selbst zu erkennen – als von Gott geliebten Freund, was ein Geschenk der Gnade ist.
Gott zu erkennen bedeutet zu wissen, was Paulus „die Kraft seiner Auferstehung“ (Philipper 3,10) genannt hat, und zwar in den Details und Aufgaben und Herausforderungen meines ganz normalen Alltags.
Das ist ewiges Leben. Nicht etwas, das weit weg irgendwo im Universum stattfindet und von dem wir nur hoffen können, dass wir es erleben, wenn wir einmal sterben. Es besteht nicht einfach darin, dass wir in der Kirche die richtigen Antworten geben können, die richtigen Dogmen unterstützen oder die Mindestanforderungen erfüllen, um über die Brücke zu dürfen und in den Himmel zu kommen.
Ganz im Gegenteil, es ist etwas viel Größeres und bei weitem Erstaunlicheres. Das Evangelium, das Jesus verkündet hat, ist die Gute Nachricht, dass dieses Leben, das ewig ist, jetzt schon erlebt werden kann. Durch die Gnade. Durch Jesus. Für immer und über den Tod hinaus. „Das ewige Leben des Einzelnen beginnt nicht nach dem Tod, sondern an dem Punkt, an dem Gott den Einzelnen mit seiner rettenden Gnade berührt und ihn in ein Leben hineinzieht, in dem er mit ihm selbst und seinem Reich im Gespräch ist.“7
Ich habe in meinem Büro ein Bild an der Wand, das ich mir morgens, wenn ich mich an den Schreibtisch setze, als Erstes ansehe. In Großbuchstaben steht dort ein Satz, den mein Freund Dallas Willard gern gesagt hat: „Die Ewigkeit hat schon begonnen.“
Gott wartet nicht darauf, dass die Ewigkeit anfängt. Er lebt jetzt schon darin. Es ist die interaktive Gemeinschaft und Freude, die zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist besteht. Die Ewigkeit umspült uns hier und jetzt und wir sind eingeladen, daran teilzuhaben – jetzt.
Sicher, solange wir in dieser Welt sind, gibt es vieles, worauf wir warten müssen. Sind wir endlich da? Natürlich nicht. Noch raubt uns der Tod Menschen, die wir lieben; noch hungern Kinder, noch haben Flüchtlinge keinen Ort, wo sie bleiben können. Wir verlieren unseren Job und unsere Träume und unsere Lieben. Unser Körper altert und verfällt. Jeden Tag, wenn ich in den Spiegel sehe, werde ich daran erinnert: Wir sind noch nicht da. Paulus schreibt, dass die ganze Schöpfung sich nach dem Tag sehnt, wenn sie „einmal von Tod und Vergänglichkeit erlöst und zu einem neuen, herrlichen Leben befreit“ wird (Römer 8,21). Und erstaunlicherweise seufzt sogar der Geist Gottes nach dieser Befreiung (V. 26). Für alle, die das verwundert, sage ich mit einem alten neurotischen...