WILLKOMMEN IN DER HAUSBAR
Die Geschichte des Cocktails und der Bar ist von vielen Mythen umrankt. Denn obwohl es sich bei beiden um Phänomene der jüngeren Geschichte handelt, streiten sich Experten noch immer, woher der Name Cocktail überhaupt kommt. Leitet sich das Wort vom französischen »coqueter« (kokettieren) ab? Wurde es bei Hahnenkämpfen geprägt, bei denen der Gewinner den Siegestrunk mit einer Schwanzfeder des besiegten Gockels schmückte (»cock« – Hahn / »tail« – Schwanz)? Oder hat man bei der Namensfindung anzüglich an die Stärkung der »Manneskraft« gedacht?
Genauso ist es möglich, dass der Name aus der Pferdezucht stammt. Zugpferden im 18. und 19. Jahrhundert hat man gerne die Schwänze aus praktischen Gründen gestutzt, so dass diese sich wie ein Hahnenschwanz aufrichteten. Jene in der Regel nicht reinrassigen Arbeitstiere nannte man daher »cock-tailed«. Der Begriff setzte sich im Pferdesport als Synonym für gemischte Rassen durch. Ein Cocktail könnte daher auch der Drink sein, den man nicht »reinrassig«, sondern mit anderen Zutaten gemischt trinkt. Manche Historiker wiederum verweisen auf den Hahn, der im Dorf früh lauthals den Morgen begrüßt. Denn anders als heute wurden um 1800, als der Begriff in den damaligen Medien erstmalig die Runde machte, Cocktails noch vor dem Frühstück direkt nach dem Aufstehen getrunken. Spirituosen, mit Wasser verlängert, mit Zucker gesüßt und mit Bitters verfeinert. Ein Cocktail galt zu dieser Zeit als Heiltonikum, sollte für den Tag stärken, Krankheiten besiegen, Energie freisetzen und wurde damals von Ärzten und Apothekern wie heute Aspirin verschrieben. Welche Geschichte nun wirklich stimmt? Man weiß es bis heute nicht.
Bier und Wein tranken Menschen schon 3 000 Jahre vor Christus. Spirituosen galten seit jeher aber eher als Mittel der Alchemie und Pharmazie. Alkohol ist eine hervorragende Trägersubstanz für Pflanzenextrakte und andere Heilmittel – eine Methode, die in der Traditionellen Chinesischen Medizin noch immer zum Einsatz kommt. Ab dem 18./19. Jahrhundert machte die Destillation große technische Fortschritte: So wurde die Produktion günstiger, und Spirituosen hielten immer mehr Einzug in den Alltag der Menschen. Um 1830 kamen Cocktails schließlich auch in der Beletage an und wurden somit sprichwörtlich salonfähig. Dass Alkohol neben medizinischen auch gesellige und anregende Wirkungen haben kann, war zu der Zeit klassenübergreifend kein Geheimnis mehr.
Dass man Spirituosen zunächst verdünnt mit Wasser und Zucker zu sich nahm, lag zumeist daran, dass die Destillate jener Zeit sehr hochprozentig, handwerklich schlecht ausgeführt und pur quasi ungenießbar waren. Seefahrer tranken ihren Rum nicht ohne Grund als Grog – mit heißem Wasser und Zucker gestreckt. Und schon im 16. Jahrhundert sollen mexikanische Agavenbauern ihren Tequila mit fermentiertem Limettensaft und Salz versetzt zu sich genommen haben. Erst mit der Zeit entwickelten sich Spirituosen zu den ausgeklügelt raffinierten und auch pur genießbaren Produkten, wie man sie heute kennt.
Damit der Cocktail zum schimmernden Helden der Nacht werden konnte, bedurfte es allerdings der industriellen Revolution. Durch diese entstanden nämlich nicht nur zahlreiche Städte, in denen sich Menschen nach der harten Fabrikarbeit nach Unterhaltung sehnten. Das Aufkommen der Elektrizität konnte den Tag durch Beleuchtung künstlich verlängern, und Strom ermöglichte zudem die Produktion und Kühlung von Eis. Ein kostbares Gut, das zuvor noch von Gletschern händisch abgetragen werden und viele Meilen reisen musste, um in die Städte zu gelangen. Ein Wunder der damaligen Technik. So entstanden die ersten Bars, und Eis ist bis heute wesentlicher Bestandteil der meisten Drinks. Die damaligen Pioniere hinter dem Tresen schufen zahlreiche Klassiker, die bis heute bekannt sind, und machten den Cocktail zu dem, wie man ihn dieser Tage kennt und definiert. Aus dem bitteren Heiltrank wurden liquide geschmackvolle Kompositionen, die zum elementaren Bestandteil der Food- und Gastronomiekultur avancierten und durchaus Potenzial zum Kunstwerk haben.
Der Rest ist bekanntlich Geschichte. Im 20. Jahrhundert entwickelten sich Bar-Kulturen auf der ganzen Welt. Der wachsende Tourismus und der blühende globale Handel brachten nach dem Zweiten Weltkrieg Produkte und Einflüsse aus aller Welt nach Europa. Cocktails wurden zum dauerhaften Trend und Teil der Popkultur: James Bonds Martini ab den 60ern, die Piña Colada, die nicht nur von Rupert Holmes in die Charts gesungen wurde, oder der White Russian aus »The Big Lebowski« und der Cosmopolitan seit »Sex and the City«. Die Liste lässt sich praktisch endlos fortsetzen. In der hiesigen Cocktailwelt dominierten lange Drinks, die Ferne und Urlaub suggerierten. Daiquiri, Margarita oder der brasilianische Caipirinha sollten auch in Berlin und Basel für tropisch-karibische Gefühle sorgen, so die Hoffnung. Da war man sich sogar für kleine Sonnenschirme aus dem Eiscafé als Deko nicht zu schade.
Im 21. Jahrhundert hat sich die Bar-Kultur noch mal radikal weiterentwickelt. Eine neue Generation talentierter Bartender hat alte Techniken und Rezepte wiederbelebt. Dabei stand zunächst die Rückbesinnung auf klassische Werte im Vordergrund. Zutaten wie Sirups, Bitters und Infusionen wurden wieder selbst hergestellt, und man setzte vermehrt auf saisonale und regionale Produkte. So finden sich statt wie früher Kokos und Ananas immer häufiger Rote Bete, Apfel und lokale Wildkräuter in den Drinks guter Bars. Ebenfalls floriert die Szene lokaler Kleinhersteller – eine Reaktion auf die immer mächtiger werdende globalisierte Getränkegroßindustrie. Die Protagonisten setzen auf Kontrolle und Transparenz in der Produktion und haben mit Freiheit und Kreativität eine vielfältige Produktlandschaft geschaffen, die in der Geschichte wohl einmalig ist: Die Tatsache, dass man heute Gin aus dem Schwarzwald und Wermut aus regionaler Produktion bekommt, wäre vor 20 Jahren unvorstellbar gewesen. Und natürlich inspirieren solche Produkte und Bewegungen auch Bar-Profis. Heute spricht man oft vom Cuisine Style, wenn Elemente und Stile aus Sterneküchen Einzug hinter der Bar halten. Aber auch im Food Pairing spielen ausgetüftelte Drinks eine größere Rolle denn je. Wieso Wein servieren, wenn man gemeinsam mit dem Chefkoch trinkbare Aromakompositionen passend für jeden Gang ersinnen kann? Es muss auch nicht per se alkoholisch sein.
Bartender sind heute nicht mehr nur stille Servierpinguine in Edelhotels. Sie dürfen Charakter und Persönlichkeit zeigen, kreativ sein, das Unmögliche probieren, bestehende Klassiker revolutionieren und kommende neu erfinden. Das macht sie neben Köchen zu den neuen Stars der zeitgenössischen Gastronomieszene. Die Besten von ihnen werden weltweit für die bekanntesten Clubs gebucht wie internationale DJs.
In diesem Buch zeigen wir Ihnen, wie man heute mit dem Wissen der vergangenen Jahrhunderte die besten Drinks aus den besten Bars der Welt zu Hause zubereiten kann. In der Hausbar geht es nicht darum, das teuerste Equipment parat zu haben, die coolste Haltung beim Shaken zu präsentieren oder das am besten gestärkte Hemd und die akkurateste Fliege zu tragen. Es darf gerne improvisiert werden, und die Devise lautet: Jeder kann zu Hause eine exquisite Hausbar starten. Viele vorhandene Küchenutensilien eignen sich bestens für die Zubereitung von Cocktails, und es braucht eigentlich nicht viel, um professionell mixen zu können, wichtig sind vor allem Begeisterung und Motivation. Perfektes Mixen ist eine Frage des Handwerks und der Übung. Also ran an die Hausbar! Die Ergebnisse und Komplimente belohnen Ihre Mühe um ein Vielfaches. Selbst gemacht schmeckt einfach besser.
»WENN SIE MICH FRAGEN, OB ICH JE IN DER MISSLICHEN LAGE GEWESEN BIN, MEINEN TÄGLICHEN COCKTAIL ZU VERPASSEN: ICH BEZWEIFLE ES. BEI BESTIMMTEN DINGEN IM LEBEN PLANE ICH IM VORAUS.«
LUIS BUÑUEL (1900–1983, FILMEMACHER UND HAUSBAR-PIONIER)
Neben ausführlichen Erklärungen und Hintergründen zu grundlegenden Techniken, Tools und Warenkunde finden Sie in diesem Buch auch Erläuterungen zu den wichtigsten Spirituosen und natürlich eine umfassende Rezeptsammlung. Wichtige Klassiker, die in jeder großen Bar zu finden sind, einfache und nachhaltige Drinks für die spontane Hausbar-Party, aber auch hochmoderne, anspruchsvolle Interpretationen, die zu eigenen Kreationen inspirieren.
Wer einmal in einer guten Bar einen schönen Old Fashioned getrunken hat, wird sich gefragt haben, wie aus so wenigen Zutaten etwas so Großartiges geschaffen werden kann. Das Mixen von Cocktails ist immer wieder magisch. Das knackende Eis, das Spiel aus Aromen, Texturen und Temperaturen und das wunderbare Gefühl, wenn einem so etwas erneut perfekt gelingt. Solche Momente kann man sich nicht kaufen, die gibt es nur an der Hausbar. Und wenn die eigene Hausbar wie die besten Bars der Welt zudem ein Ort der Gastfreundschaft und positiven Atmosphäre wird, dann weiß man vielleicht noch...