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Jakobspilgern im Massentourismus

Künstlerisches Erlebnisbuch über 2000 km Jakobsweg

AutorBrigitte Halewitsch
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl228 Seiten
ISBN9783749442119
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Jakobspilgern im Massentourismus Ein künstlerisches Erlebnisbuch über 2000 km Jakobsweg

Geb. 1940 in Mährisch Ostrau, Medizinstudium, Psychoanalytische Ausbildung W-Berlin, nebenberuflich Künstlerin und Autorin. Wahlkölnerin, mehrere Indienreisen, Schriftstellerverband VS. Veröffentlichungen: Der Osilaus und andere Kurzgeschichten Kafkas Welten- Erzählungen aus Absurdistan Paradiese sind keine Heimat Videoleungen auf Youtube www.brhalewitsch.de/Autorin

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Leseprobe

I Unvergessliche Erinnerung


Le Puy en Velay - Golinhac

28.August - 9.September 2005

Im ersten Anlauf sind wir Anfang August 2005 von Le Puy-en-Velay in Frankreich aus gestartet und binnen zwei Wochen auf einer Strecke von zweihundert Kilometern auf der Via podiensis fast bis Conques gelangt. Wir, das waren meine Tochter und ich. Sie hatte mir ihre Wanderbegleitung zu meinem 65.Geburtstag geschenkt. Es ging uns dabei auch um unsere Beziehung, für die wir uns auf dem Jakobsweg eine neue Qualität erwandert haben. Vielleicht eine riskante Unternehmung in mehrfacher Hinsicht. Denn an solchem Härtetest könnten Beziehungen auch endgültig scheitern. Wir beide hatten aber wohl Glück miteinander und waren uns nach diesem gemeinsamen Erlebnis näher als zuvor. Ohne meine Tochter hätte ich mich alleine vielleicht gar nicht auf den Weg gemacht, weil ich eingedenk fortgeschrittenen Alters doch gewisse Bedenken hatte. Rückblickend betrachtet hat sich das Alter zwar nicht als entscheidende Einschränkung erwiesen, wohl aber permanent als Thema gestellt. Allerdings hatte ich auch schon längere Zeit zuvor im Fitness-Center auf dem Laufband mit zunehmenden Steigungsgraden, zuletzt auch mit vollgepacktem Rucksack, trainiert.

Unglaublich war die Intensität dieser Erfahrung, die meine körperlichen Kapazitäten weit stärker gefordert hat als angenommen. Dachte ich doch, dass wir im Altweibersommer nach dem ersten Hügel auf einer leicht gewellten Ebene gemütlich dahinpilgern werden. Doch es war an vielen Tagen unvorstellbar heiß, etliche Berge waren verdammt hoch und elend steil. Nie zuvor habe ich so viele Liter geschwitzt und getrunken und bin so weit jenseits meiner Grenzen gelangt. Mein Gepäck, zu Anfang eine verhasste Last, wurde später zum guten Freund. Unzählige Szenen, mit der dazugehörigen musikalischen Untermalung, sind nur in meinem Gedächtnis gespeichert und anfänglich noch ungemalt geblieben. Eins der schönsten Bilder sehe ich aus der Vogelperspektive: wie wir auf endlos langen Serpentinen, in großem Abstand voneinander, in einem Regensturm bergauf kriechen, der unsere Pelerinen zu Ballons aufbläst. Wir krümmen uns vor Lachen und brüllen, dass man uns von weitem hören kann. Man sieht unvergesslich komisch aus mit einem Regenschutz über dem Rucksack und nackten Beinen darunter. Zwei triefende Vogelscheuchen, die vor Lachen kaum laufen können. Wir hatten danach Muskelkater im Zwerchfell. Überhaupt haben meine Tochter und ich in der ganzen Zeit mehr zusammen gelacht als je zuvor, und selbst die wenigen Streitszenen entbehrten nicht einer gewissen Komik.

Es ist wie ein Film, den ich im Kopf bewahrt habe, über diese erste Etappe meines Chemin de Saint Jaques. Immer wenn ich ihn abspiele, spüre ich wieder glückliche Dankbarkeit. Das erste Bild aus meiner inneren Fotogalerie zeigt Karoline in Le Puy, wie sie ihren aus badischen Wäldern stammenden Ast-Rohling an der ehrwürdigen Mauer unseres ersten Gite schärft. So lautet die französische Bezeichnung für Herberge. Ein wahrer Rübezahl-Stock, der sie um Hauptes Länge überragt. Wir wollten an diesem Tag möglichst früh starten. Gerade kommen wir aus der Frühmesse in der Kathedrale, wo wir in eisiger Kälte einen Pilgersegen und eine schwarze Madonna als roten Stempel im Pilgerpass erhalten, außerdem jeder einen Muschelanhänger als Talisman erstanden haben.

Hinter uns liegt unsere Ankunft mit dem französischen Schnellzug TGV am Vorabend und der Erstkontakt mit einem solchen Gite. Wir haben später weit unbequemere Unterkünfte angetroffen. Aber diesen ersten habe ich mit seinen endlos langen düsteren Fluren, in denen man sich bei nächtlicher Toilettensuche verlaufen hat, doch in schockartiger Erinnerung. An diesem Abend kann ich mir nämlich noch nicht vorstellen, überhaupt mit mehreren Menschen zusammen in einem Raum schlafen zu können. Meine Jugendherbergszeit liegt mehrere Jahrzehnte zurück, ich hatte wohl mit Einzelzimmern gerechnet. Karoline seufzt in stiller Verachtung. Beschämt ergebe ich mich meiner ungewissen Zukunft, die ich irgendwie zu überstehen hoffe.

Im Einschlafen denke ich an das bedeutungsvolle Zusammentreffen mit einer Frau namens Uli aus Bayern beim Abendessen vorhin, wie an ein gutes Omen. Uli war mit ihren 60 Jahren zwölf Wochen lang alleine unterwegs, obwohl sie kein Wort Französisch spricht. Nach dem Tode ihres Mannes wollte sie lernen, zum ersten Mal im Leben etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Da ihr letzter Tag mit unserem ersten zusammenfiel, übergab sie uns eine Minidose Nescafé als Staffelstab. Wir werden sie als Kostbarkeit sehr zu schätzen wissen, den Rest am Ende der Reise sogar noch weiterreichen können.

Auf dem Foto trägt Karoline noch ihren Uralt-Rucksack. Obwohl es noch früh am Morgen ist, scheitert unser geplanter Frühstart an einer defekten Hüftschnalle dieses museumsreifen Teils. Ich beginne wütend zu knurren, weil wir uns hier und jetzt auf die Suche nach einem neuen Sack machen müssen, den meine Tochter schon längst gebraucht hätte, sich aber aus Nachhaltigkeitsbedenken wohl dazu nicht entschließen konnte. Sie hofft auch jetzt, nur eine neue Schnalle zu finden oder den Defekt reparieren zu lassen. Es wird unerwartet heiß, und wir sind viel zu warm angezogen. Mit Mühe gelangen wir endlich per Bus in einen entfernten Vorort, wo wir zum Glück auch wirklich einen Rucksackladen finden, der sogar geöffnet hat. Da derartige Schnallen weder erhältlich noch reparierbar sind, muss nun doch ein neuer Sack her. Das Prachtstück darf ich meiner Tochter schenken. Nach Ablauf eines halben Tages treffen wir endlich erneut in Le Puy ein. Bei einem XL-Eisbecher beratschlagen wir, ob es sich überhaupt noch lohnt, heute aufzubrechen. Unsere Tour ist knapp kalkuliert. Wenn wir eine Nacht verlieren, werden wir nicht bis Conques kommen können. Außerdem darf man nicht zwei Mal hintereinander im selben Gite übernachten. Wir müssten uns also ein Hotel suchen.

Kurz entschlossen stehen wir plötzlich auf und marschieren einfach los. Es ist schon späterer Nachmittag. Eine weitere halbe Stunde verstreicht bei vergeblicher Suche nach Wegmarken aus unserem Outdoor-Führer. Wir wissen noch nicht, dass dieses Reiseepos zu unserer Orientierung oft weniger taugen wird, als die eigene Nase. Vor allem Karolines Intuition erweist sich wiederholt als zuverlässiger. Es geht bereits auf 16 h zu, als wir die steile Rue de Compostelle am Ortsausgang von Le Puy endlich zu ersteigen beginnen.

Karoline ist mir rasch so weit voraus, dass ich sie schon bald nicht mehr sehe. Mit ihren guten Augen erspäht sie die rot-weißen Wegmarkierungen der balises schon von weitem, die mir entgehen, solange ich mich auf meine Vorhut verlasse. Als es nach der ersten Kuppe offensichtlich immer weiter bergauf gehen soll, fühle ich quasi mein letztes Stündlein gekommen. Mit bitterem Bedauern stelle ich mich auf die konkrete Möglichkeit ein, diesen Abend nicht mehr zu erleben. Mein Sack wiegt viel zu viel, es ist viel zu heiß, und meine Kräfte werden nicht ausreichen, weil ich schon zu alt für ein solches Abenteuer bin. Mir kommt aber nicht der Gedanke, mich einfach an den Straßenrand zu setzen. Schweißtriefend keuche ich Schritt für Schritt aufwärts - bis ich meine Qual angesichts der wahrhaft traumhaften Kulisse plötzlich vergessen habe. Die außergewöhnliche Schönheit der zerklüfteten Landschaft hat mich in eine Art Wanderekstase versetzt. Karoline treffe ich an einer Weggabelung wieder, als das Schlimmste überstanden ist. In stummem Einklang werden wir von Meter zu Meter mehr zu Pilgern. Aufgenommen vom Strom der Geschichte, verschmelzen wir mit unserer steinigen Straße. Worte werden kaum noch gewechselt. Etwas singt im Inneren.

Mit Einbruch der Dunkelheit kehren wir ohne Anzeichen besonderer Erschöpfung in Tallode in dem Gite privé von Madame Allègre ein. Wir genießen ihr köstliches Mahl – lentilles de Le Puy – und lernen unsere zukünftigen Reisegefährtinnen kennen. Neben uns sitzen zwei Engländerinnen aus Südafrika, mit denen wir viel zu erzählen und zu lachen haben. Wir schlafen himmlisch im Zweierzimmer und erwachen ausgeruht und mit dem erwarteten Muskelkater. Das nächste Bild zeigt uns bereits startklar zusammen mit der freundlichen Wirtin. Wir wissen noch nicht, dass so entgegenkommende Gastgeber keineswegs die Regel sind. In manchen Gites werden wir froh sein müssen, überhaupt ein Bett zu bekommen. Manchmal dürfen wir uns in einer Gemeinschaftsküche etwas zubereiten. Mit anderen Pilgern ergeben sich dabei oft interessante Begegnungen. Wenn der Gastgeber kocht, sind köstliche Spezialitäten zu erwarten.

Die Engländerinnen sind schon in aller Frühe aufgebrochen. Doch jeweils gänzlich unerwartet, werden wir ihnen noch wiederholte Male begegnen. Es geht in Richtung Monbonnet. Auf einem weiteren Bild lässt sich meine Tochter in einer für Pferde gedachten Maschine die Schuhe beschlagen. Auf dem nächsten posiere ich neben einer schlichten Rochuskapelle. Der mittelalterliche Heilige, erkennbar an der Pestwunde am Bein und seinem...

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