KAPITEL 1
Saisonende – ein stürmischer Abschied
Ich kann mich nicht daran erinnern, mich schon einmal so auf das Saisonende gefreut zu haben wie im Herbst 2017. Und das, obwohl ich ja gar nicht von Saison und Nichtsaison spreche, denn bei mir im Haus ist immer Saison. Aber draußen wird es ruhiger. Die Tage werden kürzer, und insgesamt läuft alles etwas langsamer. Beschaulicher. Schon allein wegen des Winterfahrplans der Fähre, der Ende Oktober in Kraft tritt. Dann gibt es montags und mittwochs keine Verbindung mehr zum Festland, an den anderen Tagen verkehrt die Fähre nur einmal am Tag, und man hat nur noch donnerstags die Chance, einen langen Tag auf dem Festland zu verbringen. Dann können Halligbewohner morgens übersetzen und abends wieder zurückfahren. Ausflugsschiffe gibt es in dieser Zeit so gut wie gar nicht und somit kaum noch Tagesgäste, die für ein paar Stunden auf die Hallig kommen. Die Hauptsaison endet, Ruhe kehrt ein. Alles scheint langsamer zu laufen, weniger zu werden.
Bis es so weit ist, muss allerdings noch einiges organisiert werden, wie beispielsweise die Abreise unserer vierbeinigen Sommergäste – in Bayern würden wir es Almabtrieb nennen. Auf Hooge gibt es keinen besonderen Ausdruck dafür, man spricht einfach nur davon, dass die Tiere wieder zurück auf das Festland gehen. Zum Ende der Saison, also bis spätestens Ende Oktober, müssen fast alle Rinder wieder auf das Festland. Die meisten gehen in die Winterställe, um im nächsten Frühjahr wieder auf die Hallig zu kommen, andere kommen nie wieder. Wenn das Wetter es zulässt, gönnt man den Tieren so lange wie möglich den Freilauf auf der Hallig. Mein Freund Jan, auf dessen Fenne meine Kuh Schmusi und ihre Gefährtinnen die Sommermonate verbringen, plante die Rückreise der vierbeinigen Damen in diesem Jahr für Mitte Oktober. Wir glaubten Anfang September also noch an entspannte fünf Wochen, sowohl für die Kühe als auch für uns. Für uns, weil wir endlich mal wieder die ruhigere Zeit genießen und ohne Termindruck bei den Kühen sein konnten. Für die Kühe, weil sie gemeinsam mit ihren Kälbern noch eine Weile in ihrer vertrauten Umgebung bleiben durften.
Doch dann wurde »Sebastian« angekündigt. Der erste schwere Herbststurm tobte noch über Großbritannien. Als für Mittwoch, den 13. September 2017, wegen »Sebastian« eine Sturmflutwarnung ausgegeben wurde, hieß es für uns bereits am Dienstag umfangreiche Vorbereitungen zu treffen. Mobile Zaunelemente wurden auf die Warften gefahren und daraus erste Absperrungen gebaut. Manch Schaf- oder Kuhherde wurde schon in die Nähe der Warft des Eigentümers umgetrieben. Gemeindearbeiter holten die blau-weißen Strandkörbe von den Badestellen am Deich ein, und andere sahen zu, dass sie Gartenmöbel, Schubkarren und sonstige Gerätschaften, die leicht vom Wind hätten aufgegriffen werden können, festbanden oder wegräumten.
Auf dem Parkplatz unseres Halligkaufmanns herrschte reger Verkehr, denn einige erledigten noch schnell einen Großeinkauf. Es war abzusehen, dass der nächste Einkauf auf sich warten lassen würde, denn wenn der Sturm erst mal Fahrt aufgenommen hätte, würde sich niemand mehr vor die Tür wagen. Eine leichte Anspannung war jetzt schon überall zu spüren, obwohl der Höhepunkt des Sturms erst für den nächsten Tag angesagt war. Die ersten Meldungen vom Festland machten deutlich, dass sich da ganz schön was zusammenbraute. »Sebastian« war früh dran für diese Jahreszeit. Sogar die letzten Schwalben, die sich noch nicht auf den Weg Richtung Süden gemacht hatten, hatten jetzt schon ihre Schwierigkeiten mit dem Vorboten des Sturmtiefs. Vor allem der Nachwuchs, der ja erst wenige Wochen alt war, kämpfte gegen die heftigen Böen. Die bevorstehende Nacht, in der »Sebastian« auf die deutsche Küste treffen würde, sollte zeigen, was letztendlich wirklich auf uns zukommen würde und getan werden müsste.
»Haben Sie schon einmal selbst einen richtigen Sturm auf der Hallig erlebt?«, wurde ich bei einigen Veranstaltungen zu meinem ersten Buch häufig gefragt. Na klar! Meine erste Sturmflut habe ich schon als Kind mitgemacht, als wir 1981 das erste Mal im Urlaub auf Hooge waren. Allerdings nimmt man dieses Szenario als Kind ganz anders wahr. Ich kann mich gut an den Trubel auf der Ipkenswarft erinnern, auf der wir damals zu Gast waren. Auf dem benachbarten Zeltplatz war eine Jugendgruppe aus Frankreich, die sehr schnell ihre Zelte abbauen musste und mit uns zusammenrückte. An den Sturm, der draußen tobte, erinnere ich mich gar nicht mehr, dafür aber daran, dass meine Mutter als Dolmetscherin einsprang und plötzlich ganz schön viele Leute in der großen Garage saßen, in der wir einen sehr geselligen Abend verbrachten.
»Haben Sie heute Angst, wenn ein Sturm angesagt wird?«, ist auch eine beliebte Frage an mich. Nein! Angst ist das letzte Gefühl, das sich einschleicht. Das letzte Gefühl, das sich einschleichen darf! Dazu kam es zum Glück noch nicht. Anspannung ja, Sorge, ob rund um das Haus wirklich alles fest sitzt und steht, und Respekt vor der Naturgewalt sind die Gefühle, die sich einschleichen. Aber Angst hatte ich bis jetzt noch nie, vor allem auch, weil wir alle wissen, was zu tun ist und dass wir uns in einem solchen Fall aufeinander verlassen können.
Dieses Mal kam alles genau so wie angesagt. Die Meldungen in den Nachrichten überschlugen sich: Es wurde vor Orkanböen gewarnt, erste Bäume waren entwurzelt und hatten Autos unter sich begraben oder Straßen versperrt. Brücken durften von Kraftfahrtzeugen mit Anhängern und leeren Lkw nicht mehr befahren werden, und der Schienenverkehr wurde eingestellt. Vom Flughafen Hamburg gingen keine Flüge mehr. All das sind Folgen eines Sturms, die zwar uns auf den Halligen nicht betreffen – bei uns wird nur der Fährverkehr eingestellt –, aber wenn auf dem Festland solche Ausmaße zu spüren sind, dann liegt es auf der Hand, dass auf den Halligen, wo der Wind ungebremst über uns hinwegrauscht, die Post abgeht. Nicht nur, dass wir uns vor umherfliegenden Gegenständen in Acht nehmen müssen. Hinzu kommt das ansteigende Wasser, das bei einem Sturm wie »Sebastian« über kurz oder lang über den Deich auf die Hallig gekrochen kommt und unseren Lebensraum innerhalb von kürzester Zeit auf ein Drittel reduziert.
Bevor das passiert, muss alles sehr schnell gehen. Alle Tiere mussten bei »Sebastians« Ankunft auf den Warften verteilt werden. Alle Tiere hieß: ein paar Hundert Kühe und Schafe, wir sprechen hier von locker vierhundert Tieren. Überall waren kleine Gruppen von Menschen zu sehen, die auf den Fennen ihre Tiere zusammentrieben. Können wir sie sonst aus weiter Entfernung rufen oder mit leckerem Kraftfutter anlocken, war das diesmal unmöglich. Gegen starken Wind anzuschreien, kostet nur Kraft und bringt gar nichts.
Wir waren zu viert, um die Tiere von Jans Fenne zu holen. Nico und Sören warteten an der Einfahrt zur Fenne, Jan und ich liefen gute zehn Minuten bis zum anderen Ende der Fläche, wo die Tiere noch in aller Ruhe grasten. Beide waren wir in Regenklamotten eingepackt und trugen Gummistiefel. Der Wind riss lärmend an unseren Jacken, die Hosen flatterten, und die Schuhe wurden bei unseren langen und schnellen Schritten immer schwerer. Es war aber keine Zeit für eine Pause, die Zeit lief gegen uns. Als wir oben angekommen waren, schienen die Tiere unsere Anspannung und Sorge zu erahnen, denn sie kamen uns die letzten Meter entgegen und trabten dann in einer geschlossenen Gruppe zum Tor hinunter. Das war für uns beide zumindest eine kleine Erholung, denn jetzt hatten wir den Wind im Rücken.
Die sturmerprobten Mutterkühe waren immer noch relativ ruhig, aber die Kälber kannten diese Situation noch gar nicht und waren sichtlich nervös. Und so kam es, wie es kommen musste. Susis Kalb, die kleine Solveig, bekam plötzlich Panik und rannte in die entgegengesetzte Richtung, direkt an Jan und mir vorbei. Nico und Sören, die geduldig am Tor standen, um die Herde in Empfang zu nehmen, damit wir – die beiden voraus, dann die Kühe und Jan und ich hinten nach – zügig auf die Warft hätten weiterlaufen können, schüttelten nur mit den Köpfen. Die Flucht ergreifend, lief die kleine Solveig im gestreckten Galopp zurück ans andere Ende der Fenne, von wo wir gerade erst kamen.
»Damminomolto!« Jan stieß den nordfriesischen Fluch aus tiefstem Herzen aus, und wir rannten hinter dem Kalb her. Auf halber Strecke hatte Solveig eine Verschnaufpause eingelegt, sodass wir das Kalb einholten und sie dazu bewegen konnten, wieder zu den anderen Kühen zurückzulaufen. Die Nervosität war ihr anzusehen. Die kleinen Ohren standen pfeilgerade nach oben, der Schwanz war gespannt und ebenfalls nach oben gestellt. Sie wusste nicht, was los war. Woher auch. Einen Sturm hatte sie in den fünf Monaten ihres Lebens noch nicht erlebt. Ein Viertel der Strecke war geschafft, da wurde sie, aus welchen Gründen auch immer, vom Hafer gestochen und rannte plötzlich los. Eigentlich hätte sie nur ein paar Meter nach rechts laufen müssen, denn dort standen ihre Mutter, Tanten und Halbgeschwister und betrachteten ihr Tun mit norddeutscher Gelassenheit. Davon war bei Solveig leider gar nichts zu sehen. Das kleine Kalb drehte plötzlich nach links ab, nahm Anlauf und sprang wie ein Reh über den Graben zur nächsten Fenne und rannte dort im gestreckten Lauf querfeldein. Wir waren der Verzweiflung nahe, denn inzwischen war über eine halbe Stunde vergangen und wir wussten nicht, wie wir ein einzelnes nervöses Kalb wieder einfangen sollten. Noch dazu setze ein Hagelschauer ein, und harte Eiskugeln von der Größe von...