Die neue Vielfalt
Seit sich der Biertrinker im Restaurant genauso wichtig machen kann, ist es mit dem Privileg des Weintrinkers vorbei. Dieser hatte lange genug exklusiv die Möglichkeit, seine Flüssigkeitszufuhr zum dominanten Thema einer Bestellung zu machen. Er legte den Blick über die Weinkarte, wählte die Farbe seines Getränks. Dann entschied er sich für einen Kontinent, ein Land, eine Region, eine Traubensorte, einen Winzer, einen speziellen Jahrgang. Er evaluierte die geografische Ausrichtung des Weinbergs, die Geologie des Untergrunds, unter Umständen das Alter der Weinstöcke. Zu klären hatte er die Frage nach Barrique. Und damit an den Nebentischen jeder mitbekam, mit wie viel zwingendem Wissen der fortgeschrittene Konsum von Wein einher gehen kann, stellten Gourmetrestaurants ihren Gästen einen Sommelier zur Verfügung. So ließen sich alle weiteren wichtigen Aspekte im Experten-Talk erläutern: Körper, Tannine, Textur.
An einem der Nebentische saß der gemeine Biertrinker und brütete über seinen Minderwertigkeitsgefühlen. War er dran, ein Getränk zu bestellen, ging es schnell. Ihm stand eine erschreckend kümmerliche Auswahl zur Verfügung: Pils oder Weizen, groß oder klein, Flasche oder Zapfhahn.
Doch seit Craftbier in Deutschland in relevanten Mengen getrunken wird, mutiert der Biertrinker zum Fachmann, denn auch er hat nun den Lockruf der Vielfalt vernommen und spürt die Herausforderung, sich auszukennen. Sarkastisch gesagt: Mit der Einfachheit ist’s vorbei; wir Biertrinker müssen heute dieselben Hürden nehmen wie der Weintrinker.
Früher habe ich einfach »ein Bier« bestellt, heute erkundige ich mich nach der Bierkarte. Und die hat mehrere Seiten. Darauf finden sich Kontinente, Länder, Erzeuger, Bierstile, Malzsorten, Hopfensorten. Mitunter Jahrgänge und lateinische Namen von Hefen. Auch die Preise sind nicht mehr, was sie mal waren. Und schon kommt der Biersommelier herbeigerannt, gleich werden wir übers Terroir reden.
Natürlich sind bessere Zeiten angebrochen, seit Gast und Kellner nicht mehr nur das gewünschte Fassungsvermögen von Krug oder Glas, sondern Marken, Zutaten und Brauarten zu besprechen haben. Die Qualität der Biere, die wir an gut sortierten Zapfstellen bekommen, ist im Vergleich zu früher atemberaubend. Astra, Beck’s oder Paulaner gibt es natürlich wie eh und je. Aber auf der Tafel neben dem Tresen steht jetzt oft noch eine verführerische Liste mit gänzlich Unbekanntem.
Es gibt einen jährlich durchgeführten Wettbewerb, der diese Entwicklung deutlich zeigt. Der European Beer Star ist die europäische Weltmeisterschaft der Biere. Es gibt auch eine amerikanische (den World Beer Cup), die ist natürlich größer. Aber längst ist die in München abgehaltene Veranstaltung genauso unüberschaubar geworden. Traten bei der Premiere 2005 erst 271 Biere an, so verkostete die Jury im Jahr 2018 bereits 2344 Biere aus 51 Ländern.
Für mich als Mitglied der Jury heißt das: 160 Biere in zwei Tagen trinken. Als mich vor Jahren das Glück ereilte, in dieses Gremium berufen zu werden, habe ich mich nicht dagegen gewehrt. Als einer von mittlerweile 144 Köpfen arbeite ich mich jährlich durch die Bierwelt hindurch, verkoste Sauerbiere, Honigbiere, Düsseldorf-Style Altbiere, Dry Stouts. Manchmal erwischt es mich, dass ich auch die ganze belgische Vielfalt bezwingen muss: die Dubbels und Tripels in jeweils eigenen Kategorien und die noch stärkeren Quadrupel, die unter den »Ultra Strong Beers« eingereiht sind.
Zwei Tage lang bekommen wir Bier in neutralen Gläsern vorgesetzt. Alles im Blindtestverfahren: Wir kennen weder die Namen der Biere, noch die der teilnehmenden Brauereien. Erst vergeben wir Punkte. Schließlich verleihen wir in den Finalrunden Gold, Silber und Bronze in 67 Kategorien. Diese große Auffächerung nach Sorten oder Bierstilen hängt damit zusammen, dass sich Flascheninhalte selbst dann schlecht vergleichen lassen, wenn sie mit identischen Zutaten gebraut sind; Starkbier und Lightbier gegeneinander antreten zu lassen, wäre sinnlos, selbst wenn Hopfen und Malz die gleichen sind.
Allein beim »Weizenbier nach süddeutscher Brauart« werden in sieben verschiedenen Kategorien die Weltbesten erkoren: leichtes Weizen, Hefeweizen hell, Hefeweizen bernsteinfarben, Hefeweizen dunkel, Kristallweizen, Weizenbock hell, Weizenbock dunkel. Es geht noch weiter: Weizenmalz findet sich in Belgian-Style Witbieren, in obergärigen Alkoholfreien, in der Kategorie der fassgereiften Starkbiere oder unter dem etwas sperrigen Oberbegriff »Traditional Belgian-Style Lambic, Geuze and Fruit Geuze«. Allein das Verkosten dieser letzten Kategorie ist immer ein Überraschungstrip. Die Lambics sind eine der ältesten Biersorten der Welt. Die Belgier machen daraus wahre Schätze, die man wie einen Bordeaux zwanzig Jahre im Keller aufbewahren kann. Sie reifen in Eichen- oder Kastanienfässern, und manche bekommen nach vielen Monaten zusätzlich Gesellschaft von frischen Sauerkirschen – wodurch sie zu einem Kriek werden. Sie vergären nämlich erneut, weil Mikroorganismen auf den Schalen der Kirschen mit jenen im Lambic zusammen eine zweite Phase der Fermentation anstoßen.
Andere Kategorien sind hierzulande bekannter: Bock, Lager, Kölsch. Die Einführung einer neuen Kategorie beschließen die Veranstalter, sobald ein alter Stil erfolgreich aus der Versenkung geholt wurde oder Kreativbrauer ihn überhaupt erst erfunden haben: Session Beer, Baltic-Style Porter, Fruit Beer, New Style India Pale Ale, New Style Lager.
Das Biertrinken ist so kompliziert geworden, dass schon allein das Saisonbier oder Farmhouse Ale, das vor wenigen Jahren in Deutschland kaum einer kannte, beim European Beer Star nicht mehr mit einer Kategorie zurechtkommt. Weil vor allem die amerikanischen Craft Brewer jede in Europa erspähte Sorte in ihrem schöpferischen Furor weiterentwickeln, mussten irgendwann die Biere aus dem Komplex »Traditional Belgian-Style Saison« von den alkoholisch und geschmacklich mit einem Turbo ausgerüsteten »New Style Saison« getrennt werden.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären Braumeister. Sie möchten ein wenig ihren Ambitionen als Craft Brewer nachgehen. Sie haben erfahren, dass es einen interessanten Trend gibt: Zusätzliche Geschmacksnuancen lassen sich ins Bier bringen, ohne dass Sie gegen die Heilige Schrift der orthodoxen Brauwelt (das Reinheitsgebot) freveln müssen. Die Methode erinnert an Homöopathie: Whiskyaroma ins Bier, ohne dass Whisky im Bier ist. Sie müssen das Bier nur einem Holzfass anvertrauen, in dem zuvor Schnaps reifte. Möchten Sie einen Versuch starten? Wenn Sie diese Frage mit Ja beantworten, haben Sie als Braumeister einen einzigen Punkt geklärt. Es kommen aber viele Punkte hinzu.
Zum Beispiel: Soll das finale Bieraroma von einem alten Irish Whiskey-, Scotch- oder Bourbonfass geprägt sein? Soll zuvor im Fass Cognac, Rum, Tequila, Gin, Sherry, Madeira, Weißwein oder Ultra Strong Bier gelegen haben? Die Frage, ob das Fass getoastet sein soll oder getoastete Holzchips zum Einsatz kommen dürfen (bis 2006 verboten), beschäftigte über Jahre fast nur die Winzer mit ihren Trauben. Längst ist diese Debatte im Sudhaus angekommen. Wie lange soll das Bier im Fass bleiben – zehn Tage oder drei Jahre? Nehme ich eins mit Hefen in den Fugen zwischen den Dauben, oder dürfen es Milchsäure- und Essigsäurebakterien sein?
Ich würde Sie jetzt gerne erlösen und inhaltlich weitergehen. Aber die Holzartfrage haben wir noch nicht geklärt. In der französischen Eiche sind mehr Tannine, das Aroma wird kräftiger. Amerikanische Eiche bringt Kokos- und Vanillearomen hervor. Russische Eiche macht das Bier cremiger. Überdies sind die Jahrringe nicht zu vernachlässigen! Sie geben Aufschluss über das Tempo des Baums beim Wachsen: Langsame Hölzer haben höheres Aromapotenzial. Und mit welcher Technik gleiche ich aus, dass das Bier im Fass einen Großteil seines Kohlendioxids verloren hat? Wieder drei Möglichkeiten. Erstens: Exakt so abfüllen – ergibt ein ziemlich schaumloses Getränk. Zweitens: In der Flasche nochmals gären lassen. Drittens: Zusätzlich CO2 in den Tank geben, im Fachjargon »aufkarbonisieren«.
Selbst jetzt, unmittelbar vor dem Abfüllen, wird Ihnen noch einmal eine grundsätzliche Entscheidung abverlangt. Denn was der Winzer mit Cuvées seit Jahrhunderten praktiziert, kann der Brauer heute genauso: Zielgerichtetes Zusammenschütten unterschiedlicher Sude balanciert die Aromen aus. In der Fachsprache: Blending.
Ich habe vor ein paar Jahren auch nicht verstanden, warum ein Schluck Bier zum Reifen Cellulose braucht und davon profitieren soll, wenn zuvor beim Rösten oder Toasten des Holzes die Makromoleküle aus Zucker in kleinere Bausteine aufgespalten und karamellisiert werden, sodass danach im Fass Süße und Farbe ins Bier gelangen. Aber an einem Herbsttag landete ich glücklicherweise in der Brauerei Camba Bavaria im bayerischen Truchtlaching. Ich hörte den Meistern zu. Ich verkostete. Und vor allem: Ich schmeckte es. So ist mir das mit der Cellulose nach dem Weizenbock aus dem Bourbonfass, nach dem Hellem Bock aus dem Zwetschenbrandfass, spätestens aber nach dem Imperial Stout, gereift im Rumfass, irgendwie klar geworden.
Allerdings frage ich mich manchmal, ob es gut war, mich auf all diese Horizonterweiterungen einzulassen. Ich habe in meinem Leben selten viel Geld für Wein ausgegeben. Im Biersektor aber gehöre ich vielleicht längst zu den »Spinnern«. Das ist keine Selbstdiagnose. Ich bin sicher, einige...