Der Überfall auf Plataiai In der Nacht vom 4. auf den 5. April, knapp drei Tage vor Neumond, fiel in Boiotien starker Regen. Er hielt die Nacht über an und blieb nicht ohne Einfluß auf das, was in den frühen Morgenstunden geschehen sollte. Nach attischem Kalender schrieb man das Ende des Monats Anthesterion, die Amtszeit des eponymen Archonten Pythodoros (432/1), nach dem das Jahr benannt und gezählt wurde, neigte sich dem Ende zu. Gegen zehn Uhr, zur Zeit des «ersten Nachtschlafes», näherten sich etwas mehr als 300 Männer aus Theben von Norden her – vorbei am Heroon, der Kultstätte des mythischen Androkrates – der Nachbarstadt Plataiai. Diese lag – 70 Stadien oder etwa zwei bis drei Wegstunden entfernt – strategisch bedeutsam an der Straße nach Athen. Vor knapp einem halben Jahrhundert hatten bei Plataiai die verbündeten Griechen unter Führung von Sparta und Athen das Landheer des Xerxes geschlagen. Die Thebaner hatten damals auf seiten des persischen Gegners gekämpft, doch die Feindschaft zwischen Theben und Plataiai reichte noch weiter zurück, bis in die archaische Zeit. Nach der Schlacht von 479 erhielt Plataiai einen Ehrenstatus unter den siegreichen Griechen, den militärischen Schutz gegen den übermächtigen Nachbarn Theben übernahm Athen. Daß Plataiai und Athen nicht nur Kampfgefährten waren, sondern beide auch demokratisch regiert wurden, hatte dabei eine wichtige Rolle gespielt.
Die Plataier ahnten nicht, welche Gefahren auf sie zukamen. Zwar hatte in diesem Jahr die Kriegsrhetorik in Sparta und Athen wieder einmal zugenommen, aber das besaß inzwischen kaum noch Neuigkeitswert. So war trotz der späten Abendstunden noch eine ganze Anzahl von Einwohnern draußen auf den Feldern. Wachen hatte man keine aufgestellt, beging man doch gerade das Fest der Mondgöttin. Dennoch war die Stadt alles andere als ungeschützt. Sie besaß eine starke Befestigungsmauer von nicht geringer Höhe, deren Tore mit mächtigen Querbalken verriegelt waren. Wohnhäuser aus Lehm und mit Ziegeln gedeckt lehnten an der Stadtmauer oder umgaben, direkt aneinander anstoßend, den Markt, zu dem ungepflasterte Straßen führten; zum Zeitpunkt des Angriffs waren sie tief verschlammt.
Für einen Überfall auf eine Stadt waren 300 Männer nicht viel, auch wenn sie gut bewaffnet waren. Zudem waren sie erschöpft. Doch die Hoffnung, die sie in ihren Plan setzten, stützte sich nicht allein auf ihre eigene Kampfkraft; sie gründete vielmehr auf einer fünften Kolonne in Plataiai selbst. Dort lief ein Riß zwischen dem Lager der Spartanerfreunde und jenem der Verbündeten Athens. Ein anderer Riß, der die gesamte Bürgerschaft spaltete, zog sich durch beide Lager: Es war das Mißtrauen, mit dem sich Demokraten und Oligarchen in manchen Städten belauerten. In Plataiai war aus Mißtrauen Haß geworden, und dieser Haß entlud sich, da beide Parteien auf die Hilfe ihrer Vormächte hoffen konnten, in blutiger Gewalt. Thukydides beschreibt den Bürgerzwist, der sich nicht auf Plataiai beschränkte, in einem kurzen Kapitel, der sogenannten Pathologie: «Ob sie nun durch unredliche Abstimmung oder mit Gewalt zur Herrschaft kamen, sie waren zu allem bereit, nur um ihre Streitwut zu sättigen. Mit ehrlichem Gewissen handelte keine der beiden Parteien, wem es aber gelang, abscheuliche Taten unter dem Deckmantel schöner Phrasen zu verbergen, der stand in besserem Ruf.»
So war auch der Anstoß, die Stadt zu überfallen, gar nicht von den Thebanern ausgegangen, die nur eine günstige Gelegenheit nutzen wollten, den alten Feind zu unterwerfen. Die Idee stammte von Bürgern aus Plataiai selbst. Sie planten einen Putsch und hatten deswegen Verbindung zu dem oligarchisch regierten Theben aufgenommen. Der Tag des Handstreiches war klug gewählt, und es war alles andere als ein Zufall, daß er auf das Fest der Mondgöttin fiel. So standen «die Verräter», wie Thukydides sie nennt, schon bereit, als der Feind anrückte. Sie entriegelten unbemerkt eines der Stadttore und führten die Thebaner zum Markt. Bis dahin verlief alles wie verabredet, dann jedoch kam es zu einem ersten Streit zwischen den Verschwörern und ihren Helfern. Als die Verräter verlangten, die Thebaner sollten in die Häuser eindringen und ihre innenpolitischen Widersacher im Schlaf massakrieren, weigerten sich diese. Sie waren erschöpft von dem langen Anmarsch unter widrigen Bedingungen, wollten wohl auch das neu zu schließende Bündnis mit ihrer Heimatstadt nicht mit einem Gemetzel beginnen, zudem war aus Theben Verstärkung unterwegs, die bis zum Morgen eintreffen sollte. So wähnten sie sich in der überlegenen Position.
Zunächst gab es keine Probleme. Die Einwohner schreckten aus dem Schlaf, wähnten ihre Stadt besetzt, den Markt von Feinden umstellt. Indessen versuchte ein thebanischer Herold, das boiotische Nationalgefühl gegen das Bündnis mit Athen auszuspielen: Wer nach Vätersitte für den Kampfbund aller Boiotier sei, solle bewaffnet zu ihnen auf den Markt stoßen und sich den Empörern anschließen. In ihrer Verwirrung fügten sich die Plataier, zumal sie die Zahl der Gegner wegen der Dunkelheit nicht einschätzen konnten und diese zunächst auf Gewalt verzichteten. Sie gingen auf die Vorschläge ein, akzeptierten den Anschluß an Theben, doch während sie noch verhandelten, wurde ihnen allmählich bewußt, wie wenige ihre Gegner tatsächlich nur waren. So faßten sie Mut – und einen Plan: Da keine Brandmauern zwischen den Häusern existierten, durchbrachen sie die Zwischenwände, die ja nur aus Lehm und Geflecht bestanden, und konnten sich auf diese Weise, unbemerkt von draußen, in ihren Häusern bewaffnen und sammeln. Während sie dann Fuhrwerke in die Gassen zogen, um die Wege zu blockieren, wurden die Belagerer nach und nach und unbemerkt zu Belagerten.
Kurz vor dem Morgengrauen brachen die Plataier schließlich aus ihrer Deckung hervor. In der Finsternis waren sie aufgrund ihrer genauen Ortskenntnis im Vorteil. Als die Thebaner erkannten, daß sich das Blatt gewendet hatte und in welcher Gefahr sie schwebten, formierten sie sich zu einem Abwehrblock, und es gelang ihnen tatsächlich, den ersten, zweiten und sogar einen dritten Angriff zurückzuschlagen. Inzwischen aber hatten Frauen und Sklaven, die die Szene von den Hausdächern aus beobachtet hatten, begonnen, sie von oben mit Steinen und Ziegeln zu bewerfen. Die Thebaner gerieten in Panik. Sie flohen durch die Stadt, fanden aber die Gassen durch Wagen versperrt.
Immer noch fiel starker Regen, der inzwischen die Straßen in einen einzigen Morast verwandelt hatte. Für die Eindringlinge wurde er zur tödlichen Falle, in der sie steckenblieben. In ihrer Verwirrung wußten sie nicht mehr, wohin sie sich wenden sollten. Das einzige offene Tor, durch das sie gekommen waren, hatte ein Plataier inzwischen mit einem Lanzenschaft verriegelt. Einige Thebaner erklommen die Stadtmauer und stürzten sich von dort zu Tode, andere wurden in den Straßen niedergemacht. Nur eine kleine Gruppe erreichte ein unbewachtes Tor. Eine unbekannte Frau reichte ihnen eine Axt, mit deren Hilfe es ihnen gelang, den Riegel aufzubrechen – es sollten die einzigen bleiben, die in dieser Nacht entkamen. Der Haupttrupp der Thebaner aber gelangte schließlich in ein großes Gebäude unter der Stadtmauer. Die Männer glaubten, als sie auf eine halboffene Tür stießen, diese führe geradewegs ins Freie. Doch es gab nicht einmal eine Treppe zum Dach, von dem aus über die Mauer hinweg Flucht vielleicht noch möglich gewesen wäre. Als die Thebaner ihren Irrtum erkannten, waren sie bereits umstellt. Die Plataier erwogen, kurzerhand das ganze Gebäude in Brand zu stecken, doch scheuten sie schließlich davor zurück – sei es, daß es noch zu stark regnete, sei es, daß sie fürchteten, der Brand könne auf andere Gebäude übergreifen. Die Eingeschlossenen und wer sonst noch von den Thebanern umherirrte, ergaben sich auf Gnade und Ungnade.
Zwar war das ersehnte Hilfskontingent noch nachts aus Theben aufgebrochen, doch der heftige Regen hatte den Vormarsch gestoppt. Der Fluß Asopos, der auf dem Weg lag, war angeschwollen und nur schwer zu überqueren. Als die Thebaner endlich das Gebiet von Plataiai erreichten, erfuhren sie sogleich, daß ihre Mitbürger teils gefallen, teils in Gefangenschaft geraten waren. So machten sie Jagd auf jene Plataier, die sich noch auf ihren Feldern befanden, weil sie – wenn auch vor der Stadt – ebenso von dem Überfall überrascht worden waren. Vielleicht würde es möglich sein, mit den Gefangenen als Geiseln die eigenen Landsleute in der Stadt freizupressen. Die Plataier schickten sogleich einen Herold und drohten, alle Thebaner umzubringen, die sie in ihrem Gewahrsam hielten, falls die Angreifer nicht sofort wieder ihr Gebiet verließen. ...