Vorwort zur aktualisierten Neuauflage
Meine Mutter und ich – das war immer ein schwieriges Kapitel. Viele Jahre meiner Kindheit und auch im Erwachsenenalter bemühte ich mich, ihre Liebe zu gewinnen. Mit wenig Erfolg. Zumindest war ich weitaus erfolgloser als meine ältere Schwester – obwohl ich das brave Kind war. Sie durfte rebellieren, schmollen, Türen knallen. Ich bekam schon beim kleinsten Fehlverhalten oft schmerzhaft Grenzen gesetzt. Einschlägige Erinnerungen an Liebesentzug und andere von mir als extrem ungerecht empfundene Strafen waren für mich lange Zeit Belege dafür, dass meine Mutter mir – beschönigend ausgedrückt – Desinteresse entgegenbrachte. Es gab kaum Zärtlichkeit, kaum Verständnis, kaum unbeschwertes Zusammensein.
Meine Kindheit mit dieser Mutter war alles andere als glücklich. Als ich erkannte, dass ich daran selbst mit größtem Wohlverhalten nichts ändern konnte, ging ich sooft ich konnte auf Abstand. Ich suchte Unterschlupf bei einer Tante, später bei einer Freundin und deren Familie. Sobald es möglich war, zog ich aus, und weil das nicht ausreichte, nahm ich nach Abschluss meines Studiums einen Job in einer weit entfernten Stadt an.
Von da an konnten wir besser miteinander, das heißt: Ich konnte besser mit meiner Mutter. Es war mir möglich, ihre Bedürfnisse ohne Groll zu erfüllen.
Dennoch verschwand das schmerzhafte Gefühl, ein ungeliebtes Kind gewesen zu sein, nie ganz. Vor allem in schwierigen, stressreichen Lebenssituationen machte es sich blockierend bemerkbar. Als ich in einem Interview (Süddeutsche Zeitung Magazin 18/2018) diese Aussage des Regisseurs Oskar Roehler las, verstand ich sofort, was er meinte: »Ich muss ehrlich sagen, dass ich durch meine Kindheit und Jugend unheimlich viele Defizite habe, die ich nie in meinem ganzen verfickten Leben wegkriege … Und dass ich immer an irgendwelche Grenzen stoße, weil ich gar nicht anders kann. Die Lebensangst, die einen ständig plagt und die man nicht abschütteln kann. Diese existenzielle Angst, weil man als Kind öfter mal ins Nichts geworfen wurde und darum jederzeit wieder ins Nichts geworfen werden kann.«
Roehler hatte berühmte Eltern: Sein Vater Klaus Roehler machte sich einen Namen als Lektor von Günter Grass, seine Mutter war die Schriftstellerin Gisela Elsner. Er war drei, als die Eltern sich trennten. Zunächst wurde er zwischen Großeltern und dem Vater hin und her geschoben, später kam er ins Internat. Seine Mutter sah er erst mit 20 wieder. Jahre danach, 1992, nahm sie sich das Leben. In seinem Spielfilm Die Unberührbare (mit Hannelore Elsner in der Hauptrolle) setzte Roehler seiner Mutter ein Denkmal.
Eine schwierige, belastete Kindheit wirft lange Schatten. Sie ist nie ganz vorbei, sie kann sich auf alles auswirken, was wir als längst erwachsener Mensch tun, fühlen und denken. Denn das Kind, das wir waren, lebt mitsamt seinen Gefühlen und Einstellungen in uns weiter. Unter Umständen kann dieses frühere Kind, so erklärt der Psychiater W. Hugh Missildine, »es Ihnen erschweren oder unmöglich machen, im Erwachsenenleben zu Erfüllung und Zufriedenheit zu gelangen, kann Ihnen Knüppel zwischen die Beine werfen, Sie den letzten Nerv kosten und ganz krank machen.«
Mussten wir als Kinder Lieblosigkeit, Vernachlässigung oder Desinteresse erleiden, blieb uns nichts anderes übrig, als Überlebensstrategien zu entwickeln. Wir lernten, wie wir Strafen vermeiden, wie wir den Schmerz der Nichtbeachtung verdrängen und mit welchen Verhaltensweisen wir der Mutter ein Lächeln und dem Vater ein Lob abtrotzen konnten. Kommen wir heute als Erwachsene in Situationen, die uns an früher erinnern (ohne dass uns das im Einzelfall bewusst wird), kann das die damaligen Überlebensstrategien reaktivieren; wir passen uns an die Wünsche und Bedürfnisse anderer an, um Anerkennung und Zuwendung zu bekommen. Oder wir verschließen uns wie eine Auster, wenn uns jemand zu nahe kommt, aus Angst vor erneuter Verletzung. Diese Überlebensstrategien sind vielfältig und variantenreich – je nachdem, welche Herausforderungen wir in der Kindheit meistern mussten. Doch so hilfreich die Strategien für uns früher waren, so destruktiv ist ihre Wirkung heute. Heute können sie zu Irritationen, seelischen Belastungen und wenig erwachsenen Reaktionen führen. Das Früher lebt dann in der Gegenwart auf ungute Weise weiter. Das ist eine bittere Wahrheit.
Aber es ist nur ein Teil der Wahrheit.
Denn wahr ist auch: Es liegt an uns, ob wir als Erwachsene immer noch von den frühen Erfahrungen gesteuert werden, und im Schatten der Kindheit stehen bleiben oder ob wir aus diesem Schatten heraustreten. Die Anfangsjahre unserer Lebensgeschichte können wir nicht mehr verändern. Der bekannte Satz »Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit« ist schön, aber leider falsch. Wenn wir von den Eltern nicht geliebt wurden, können wir keine Wiedergutmachung erhoffen. Was sich jedoch positiv beeinflussen lässt, ist unsere Haltung den Eltern gegenüber, die Art und Weise, wie wir auf die Kindheit blicken, und wie wir uns selbst sehen. Wir können uns entscheiden: Wollen wir unsere Geschichte ausschließlich als Problemgeschichte erzählen, oder wollen wir ihr einen neuen, konstruktiven »Dreh« geben? Ein Perspektivenwechsel lohnt sich. Ohne das Erlittene zu beschönigen, können wir uns fragen: Habe ich etwas übersehen? Ist meinen Erinnerungen zu trauen? Wäre es nicht möglich, dass ich aufgrund meiner negativen frühen Erfahrung vielleicht sogar Eigenschaften entwickelt habe, auf die ich heute stolz bin?
Haben Sie es schon mal so gesehen?
Der Schriftsteller Andreas Altmann hat wütend mit seiner schlimmen Kindheit abgerechnet. Der Titel seines Buches könnte eindeutiger nicht sein: Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend. Altmann schildert darin seine Kindheit in der Provinz, »voller Misshandlungen, Demütigungen, bigotter, tätlicher Pfarrer und verkappter Nazis«. Doch er ist nicht gefangen von diesen belastenden Erinnerungen. Er wollte sein Leben nicht als »greinende Heulsuse« verbringen, er wollte nicht »ewiglich der abwesenden Liebe von Mutter und Vater hinterherlamentieren«, wie er in seiner unnachahmlich direkten Art in seinem Buch schreibt. »Irgendwann musste Schluss sein, irgendwann muss ein Mann ein Mann werden, muss sich zwischen einem Leben als Opfer oder Täter entscheiden.«
Geholfen haben ihm bei diesem Prozess zwei Perspektivenwechsel: Zum einen versuchte er, seinem Vater mit Verständnis zu begegnen. Er sah in ihm nicht mehr nur den Mann, der Frau und Kind seelisch misshandelte, er sah auch den Mann, dessen Träume vom Krieg zerstört worden waren, der seine Intelligenz, seine Kreativität, seine Musikalität nicht ausleben konnte. Natürlich, so sagte er in einem Interview, vergibt kein Kind »einem Vater das, was er ihm angetan hat. Aber du verstehst ihn. Wenn du älter wirst und anfängst, dich für die Vergangenheit zu interessieren, verstehst du, dass er nicht Herr seiner selbst war. Sondern Spielball der Umgebung.«
Der zweite Perspektivenwechsel, den der Schriftsteller vornahm, galt seinem Selbstbild. Er konzentrierte sich nicht mehr länger auf die Schwächen und Defizite, die ihm seine Kindheit beschert hatte, sondern lenkte den Blick auf seine Stärken, die er wohl nur aufgrund seiner frühen Erfahrungen entwickeln konnte: »Das Wissen um die eigene Verwundbarkeit macht empfindsamer, durchlässiger, lotet rigoroser die Wirklichkeit aus. Meine Verletzungen sind, so vermute ich, der Eintrittspreis für mein Davonkommen. Andersherum: Hätte ich eine liebliche Kindheit verbracht, ich hätte wohl nie zu schreiben begonnen.«
Ein Zettel, der die Augen öffnete
Wie befreiend ein Perspektivenwechsel sein kann, habe auch ich erfahren. Ich war noch mitten im Psychologiestudium, als ein simpler Zettel meinen Blick auf meine Kindheit veränderte.
Ich weiß noch, es war ein trüber Samstag im November. Gerade das richtige Wetter, um endlich mein unordentliches, übervolles Bücherregal aufzuräumen und auszumisten. Wer Bücher liebt, weiß, wie schwer die Entscheidung fällt, sich von einem Werk zu trennen. So prüfte auch ich jeden Band, ehe ich ihn auf den »Kann weg«-Stapel legte. Es war eine entspannende, fast kontemplative Aufgabe – bis plötzlich aus einem Buch ein unscheinbarer Zettel herausfiel. Sofort erkannte ich die Handschrift meiner Mutter. Diese wackeligen Druckbuchstaben waren typisch für sie. Als Kind hatte sie Sütterlin gelernt, die lateinische Schrift beherrschte sie nicht.
Liebe Ursula! Danke für all Deine Liebe und Fürsorge! Ich bin so glücklich, dass ich Dich habe. Liebe Grüße Deine Mama.
Hatte ich richtig gelesen? In meinem Kopf brach ein Gedankengewitter aus: Wann hatte sie mir diesen Zettel gegeben oder geschickt? Was war der Anlass gewesen? Ich wusste es nicht. Noch schlimmer: Ich konnte mich nicht daran erinnern, diese Notiz jemals gelesen zu haben. So liebevoll und einfühlsam schrieb meine Mutter an mich? Fassungslos starrte ich auf den Zettel. Was da stand, widersprach dem Bild, das ich bislang von ihr hatte, vollkommen. War das die strenge, kühle Mutter, deren Aufmerksamkeit ich mir nicht einmal durch Wohlverhalten verdienen konnte? War das die Mutter, die mich niemals zärtlich in den Arm genommen hatte?
Quälende Fragen gingen mir durch den Kopf: »Habe ich meiner Mutter unrecht getan? Habe ich meine Kindheit zu düster gesehen?« Der zufällig gefundene Zettel hatte enorme Auswirkungen. Ich begann, meine Erinnerungen auf den Prüfstand zu stellen, fragte noch lebende Zeitzeugen nach meiner Mutter: Wie war sie früher? Welche Eigenschaften hatte sie nach Meinung...