Ein schwarzer Samstag im August
Der 31. August 2013 begann völlig normal. Nichts wies am Morgen darauf hin, dass dieser Tag die bisher herausforderndste Phase meines Unternehmerdaseins einläuten würde.
Um 13 Uhr klingelte mein Handy. Trotz der unterdrückten Rufnummer nahm ich das Gespräch an. »Chef, ich wollte Ihnen nur schnell vor dem Wochenende persönlich sagen, dass ich kündige. Sie haben meine schriftliche Kündigung per heute am Montag in der Post«, ertönte die nervöse, aber entschlossene Stimme von Paula. Ich schaltete auf Autopilot und sagte: »Ja, ist okay. Danke für die Vorab-Info.« Ich beendete das Gespräch. Blicklos starrte ich auf mein Handy und rang um Fassung. Dieses Ringen fand jedoch auf von vornherein verlorenem Boden statt. Denn ich hatte eben einen K.-o.-Schlag in die Magengrube erhalten, unter dessen Wucht ich zu Boden ging. Meine Beine trugen mich nicht mehr. Ich sank in meinem Büro langsam die Wand hinab und blieb wie erstarrt sitzen.
Paula war in meiner Apotheke als PKA, als pharmazeutisch-kaufmännische Assistentin, angestellt. Eine ausgezeichnete Mitarbeiterin, deren Kündigung unter normalen Umständen aber nicht den Weltuntergang darstellen würde. Meine Umstände waren jedoch schon lange nicht mehr normal. Sie waren prekär. Ich schwebte mit einem Bein bereits gefährlich über dem Abgrund. Durch Paulas Ankündigung baumelten nun beide Beine über bodenloser Tiefe. Paula war nämlich die neunte Mitarbeiterin, die innerhalb kürzester Zeit beschlossen hatte, dass meine Apotheke nicht mehr der Ort war, an dem sie ihre Arbeitstage verbringen wollte. Nun hatte ich nur noch eine Fachkraft an meiner Seite. Eine! Eine, um eine Apotheke mit über 300 Kunden pro Tag im Hintergrund zu managen. Eine, um im Verkauf unsere Stammkunden mit allen ihren Sonderwünschen nicht zu enttäuschen. Eine, um alle Nacht-, Sonn- und Feiertagsdienste, Bestellungen, Rezepturen und Lieferungen professionell zu stemmen. Es war schlicht und ergreifend nicht möglich.
Können Sie sich erinnern, wie unendlich einsam Sie waren, als Sie sich einmal so richtig im Stich gelassen fühlten mit Ihren Sorgen und Ängsten? Können Sie den Schmerz, die Enttäuschung, die Wut und die Verzweiflung nachfühlen, in der ich mich an diesem Samstag befand?
Wie sollte es jetzt weitergehen? Wer hatte denn jetzt noch die nötige Erfahrung, wie man unsere Haus-Tees abfüllt? Wie man die Bestellungen ausverhandelt? Wer wusste noch in der Kosmetik Bescheid? Wer in der Rezeptur? Wer sollte sich um die verbliebenen Lehrlinge kümmern, wer sollte die Rechnungen eingeben? Und ja, verdammt nochmal, wer würde mir morgens einen Kaffee ins Büro bringen?
Im Schock saß ich in meinem Büro auf dem Boden. Zu Beginn des Jahres hatte ich noch zehn pharmazeutisch-kaufmännische Angestellte auf meiner Gehaltsliste gehabt. Und nun – wie im Roman von Agatha Christie – war es nur noch eine Person. Ich hatte meine neun Mitarbeiter zwar nicht ermordet, zumindest nicht im körperlichen Sinn. Aber ich hatte ihnen wohl anderweitig den Lebens- und Arbeitsatem genommen. Irgendetwas war eindeutig mit meinem Führungsstil und der Kommunikation mit meinem Team voll und ganz schiefgegangen. Anders war es nicht zu erklären, dass alle meine Angestellten so rasch aufeinanderfolgend regelrecht aus meiner Apotheke »flüchteten«.
Es war ein furchtbares Gefühl, niemals zuvor oder danach habe ich mich so gedemütigt und verlassen gefühlt. Bis der Abend hereinbrach, saß ich an diesem Nachmittag an die Wand gelehnt auf dem Fußboden meines Büros. Ich bewegte mich nicht. Ein wirres Gedankenkarussell schoss durch meinen Kopf. Was tun? Annoncen aufgeben wie wild, um die Entfleuchten rasch zu ersetzen? Die Apotheke ganz schließen? Einfach aufgeben? Mir und anderen eingestehen, dass ich gescheitert war?
Aber, das ging ja gar nicht. Die Bank hatte mein Versprechen, meine Apotheke gesund aufzustellen, um meine Schulden durch deren Kauf zurückzuzahlen. Ich war es auch meinen verbliebenen sechs Mitarbeitern – Pharmazeuten, Reinigungspersonal und Lehrlinge in der Ausbildung – schuldig, nicht einfach aufzugeben. Und zu guter Letzt war ich doch Unternehmer geworden, um irgendjemandem irgendetwas zu beweisen, nicht zuletzt mir selber!!
Langsam wurde ich ruhiger. Meine Gedanken verließen den Panikmodus und fingen an, nach Lösungen zu suchen. Es galt jetzt, als Erstes einmal den nächsten Arbeitstag irgendwie zu überleben. Anzufangen, nach neuen Mitarbeitern zu suchen, und vor allem eine schonungslose Analyse zu machen, was nun dringend anders werden musste. Vor allem auch bei mir selber!
An diesem Tag der absoluten Dunkelheit und des tiefsten Tals, in dem ich mich jemals befand, habe ich eine Entscheidung getroffen. Ich habe mir geschworen, ein Team zu bilden, auf das ich mich hundertprozentig würde verlassen können. Ein Team, das auch einen Chef haben würde, auf den es sich hundertprozentig verlassen konnte. Ein Team, das auch durch Freundschaft verbunden war. Denn Freunde lassen sich doch nicht derartig im Stich, oder?
In diesem Buch möchte ich Ihnen darlegen, welches die folgenschwersten, die hinderlichsten und vermeidbarsten Fehler waren, mit denen ich meine Firma beinahe an die Wand gefahren hätte. Und Ihnen den Weg, den ich aus dieser Krisensituation heraus gegangen bin, nahebringen. Sie, werte Leser, haben vermutlich keine Apotheke, aber alles, was ich rund um Führung erlebt, erfahren und neu aufgestellt habe, lässt sich auf so ziemlich alle Branchen und Industrien anwenden, davon bin ich überzeugt.
Die Rasanz, die Dramatik und die ungeheure Dynamik, die sich in diesem Prozess entfaltet hat, rief in mir immer wieder Bilder und Metaphern hervor: Mal war es der Kapitän, der das Schiff durch raue See steuern muss, mal war es der Dirigent, dem sein Orchester größtenteils abhanden gekommen war. Schließlich blieb ich bei meinem Lieblingsbild hängen, auf dem auch dieses Buch aufgebaut ist: ein Hundeschlitten in voller Fahrt!
Was muss da nicht alles zusammenpassen, damit so ein Gefährt tatsächlich dorthin gelangt, wo es hinsoll. Wie viele Variablen sind im Spiel, damit ein Kollektiv von leistungsstarken Einzelcharakteren zu einem erfolgreichen Team zusammenwächst? Welche Faktoren sind zu bedenken, zu planen und zu verwirklichen, damit trotz zahlreicher Unwägbarkeiten, Hürden und Pannen letztlich das Gesamtziel erreicht wird? Alle diese Überlegungen und Bilder passen perfekt zur Metapher des Hundeschlittens, weshalb ich mich intensiv mit dieser Materie auseinandergesetzt und sogar selber eine Ausbildung zum »Musher«, also zum Hundeschlittenführer, absolviert habe.
Lassen Sie sich mitnehmen in die faszinierende Welt der Hundeschlitten, der Musher und der Leithunde, der Schlittenrennen und »der kalten Pisten«, der Zug- und der langen Leinen! Spüren Sie das lebendige Zusammenspiel von Mensch und Tier, erleben Sie die Strukturen, die Kameradschaft, das Miteinander und die sozialen Faktoren, die so ein sensibles Kollektiv ausmachen. Und das alles transformiert und angepasst an das Zusammenspiel eines Teams einer Kärntner Apotheke. Und was in meinem Unternehmen funktioniert hat, das funktioniert wahrscheinlich überall, wenn Sie die Philosophie, die Weisheit und die Durchsetzungskraft eines Hundeschlittengespanns wirklich verstehen, anwenden und auch Ihre Teams entsprechend aufstellen. Dazu ist es erforderlich, die ganz spezielle und einzigartige Verbindung der Huskys zu ihrem Musher zu erkennen und dieses Verstehen auf Ihre eigenen diversen Führungssituationen anzuwenden.
Wenn Sie bedenken, dass ein moderner Hundeschlitten nicht per Peitsche, Zügel oder irgendwelcher Manipulationsmittel gelenkt wird, sondern ausschließlich akustisch über Zuruf und gegenseitiges – buchstäblich blindes – Verstehen, dann wird die Analogie zur Beziehung zwischen Führungs- und Vertrauenskräften sofort ersichtlich. Wenn der Ruf »Gee!«, was so viel wie »Rechts!« bedeutet, ertönt, werden die Hunde bei der nächsten Weggabelung korrekt rechts abbiegen, das ist einfach.
Aber was, wenn keine Weggabelung vorliegt, weil es auch keinen Weg gibt, wenn Sie über einen zugefrorenen See fahren oder durch einen dichten Wald? Dann sind Sie da hinten auf Ihrem Schlitten metaphorisch als Musher oder eben als Führungskraft in schwierigen Fahrwassern darauf angewiesen, dass Ihr Leithund den Begriff »Rechts« genau so präzise versteht, wie Sie ihn meinen. Was will der da hinten? Im rechten Winkel abbiegen? Oder doch knapp rechts am Baum vorbei? Wie knapp ist knapp? Wie schnell? Und wie geht es danach weiter?
Merken Sie, wie komplex diese scheinbar simple Aufgabe jetzt wird? Und wie wenig Sie da hinten auf dem Schlitten oder in Ausübung Ihrer Führungsaufgabe in diesem Augenblick zu sagen haben? In dem Moment liegt die gesamte Macht bei jenen, die umsetzen. Also beim Schlitten bei den Hunden. Und bezogen auf Ihr Unternehmen bei den Mitarbeitern.
Wenn Sie wirklich großartige Mitarbeiter haben, denen Sie die Möglichkeiten bieten wollen, ihr Können, ihre Kraft und ihre vollen »PS« umzusetzen, dann fährt Ihr Schlitten mit ziemlichem Tempo dahin. Und dann ist es nicht mehr nur Ihre Macht und Ihre Großartigkeit, die dieses Gefährt steuert, sondern zu...