Zweite Vorlesung Heterosexualitäten, Cis*identitäten, Bisexualiäten
Heterosexualitäten und Cis*identitäten
Es mag verwunderlich erscheinen, dass in diesem Kontext die Heterosexualitäten und die Cis*identitäten diskutiert werden. Sie werden in unserer von den Heterosexualitäten und den Cis*identitäten dominierten Gesellschaft als »selbstverständlich« betrachtet und deshalb im Allgemeinen nicht daraufhin geprüft, ob sie einen spezifischen Einfluss auf die Gestaltung des therapeutischen Prozesses ausüben.
Entsprechend dem in der letzten Vorlesung dargestellten Schema sollen im Folgenden die fünf Dimensionen für die Cis*identitäten und die sexuelle Orientierung Heterosexualität diskutiert werden.
Gesundheit/Krankheit. Entstehung und Veränderbarkeit
Die Frage, ob die Cis*identitäten und die Heterosexualitäten »gesund« oder Ausdruck einer psychischen Erkrankung sind, wird praktisch nie gestellt. Sie gelten als »normal«, weil sie die Mehrheit der Bevölkerung betreffen, und werden häufig als Norm definiert, der sich alle Menschen anzupassen haben (Hetero- und Cis*normativität). Insofern ist nicht verwunderlich, dass es auch keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage ihrer Veränderbarkeit gibt.
Im Hinblick auf die Entstehung der Cis*identitäten und der Heterosexualitäten finden wir ebenfalls keine wissenschaftliche Literatur. Es erscheint naheliegend, dass es eine hereditäre Komponente gibt, finden sich doch Familien, in denen gehäuft Menschen mit Cis*identitäten und heterosexuellen Orientierungen vertreten sind. Forschung dazu gibt es indes nicht.
Das Fazit dieses Überblicks lautet: Die Cis*identitäten und die heterosexuellen Orientierungen haben selbst nichts mit psychischer Gesundheit oder Krankheit zu tun, sondern enthalten in sich das ganze Spektrum von Gesundheit bis Krankheit.
Besonderheiten des Lebens von Menschen mit Cis*identitäten und heterosexuellen Orientierungen
Schon der Titel dieses Abschnitts mutet viele Leser*innen vermutlich merkwürdig an. Welche »Besonderheiten«, die Einfluss auf die therapeutische Beziehung hätten, könnte es denn im Leben von Cis*-Heterosexuellen geben? Diese Frage erscheint indes nur insofern absurd, weil wir bei einer Majorität davon ausgehen, alles, was sie betreffe, sei »selbstverständlich«.
Eine genauere Untersuchung der Frage, ob sich bei Cis*-Heterosexuellen nicht doch einige Aspekte finden lassen, die spezifisch für sie sind und von den anderen in dieser Vorlesung zu behandelnden Gruppen abweichen, zeigt, dass sich durchaus einige Merkmale identifizieren lassen, die Einfluss auf die Gestaltung der therapeutischen Beziehung haben.
Ein erster Aspekt ist, dass in Therapien mit cis*-heterosexuellen Menschen die Themen Geschlechtsidentität,sexuelle Orientierung und Sexualpräferenz in der Regel nicht auftauchen. Weder Therapeut*innen noch Patient*innen stellen die Cis*identitäten, die Heterosexualitäten und die Ausrichtung auf erwachsene Sexualpartner*innen in Frage, weil sie sie als »selbstverständlich« und »normal« empfinden. Dies stellt eine in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Besonderheit gegenüber den anderen später zu diskutierenden Gruppen dar.
Ein weiterer für Cis*-Heterosexuelle charakteristischer Aspekt ist der, dass sie zu einer Majorität gehören und von dort her eine wesentlich größere Selbstverständlichkeit im Hinblick auf ihre Identitäten und ihre sexuellen Orientierungen verspüren als etwa Homosexuelle, Trans*menschen oder Pädophile, die einer Minorität angehören. Cis*-Heterosexuelle sind deshalb auch keinen Stigmatisierungen in Bezug auf ihre Identitäten, Orientierungen und Präferenzen ausgesetzt und leiden folglich nicht unter Minoritäten- und Verheimlichungsstress45.
Die Tatsache, dass Cis*-Heterosexuelle Kinder zeugen und gebären können, ist eine weitere sie charakterisierende Besonderheit, die in Behandlungen oft Thema ist und einen Einfluss auf die therapeutische Beziehungsgestaltung haben kann. Ganz anders sieht es dagegen etwa in Therapien von lesbischen Frauen aus: So konnte Frossard46 in einer Interviewstudie von lesbischen Patientinnen und ihren Therapeut*innen feststellen, dass in diesen Behandlungen das Thema Kinderwunsch von Seiten der Therapeut*innen nur sehr selten angesprochen worden ist. Für die Therapeut*innen war offenbar die Tatsache, dass eine Frau lesbisch war, gleichbedeutend mit Kinderlosigkeit.
Ein Vergleich mit homosexuellen und Trans*menschen weist noch auf eine andere Besonderheit von Cis*-Heterosexuellen hin: Sie durchlaufen – im Gegensatz zu Homo- und Bisexuellen sowie zu Trans*menschen – keinen Coming Out-Prozess und müssen sich dementsprechend nicht bezüglich ihrer Identitäten und Orientierungen rechtfertigen. Ganz besonders gilt dieser Unterschied in Bezug auf Menschen mit pädophilen Sexualpräferenzen, die sich wegen der strafrechtlichen Verfolgung von pädophilen Handlungen im Allgemeinen nicht outen.
Therapieziele
Die Ziele in Behandlungen von Cis*-Heterosexuellen sind auf der einen Seite individuell verschieden. Andererseits gleichen sie sich aber insofern, als die Änderung der Identität, der sexuellen Orientierung und der Sexualpräferenz kein Thema ist.
Wie in jeder Behandlung sind die für die Therapie relevanten Themen gemeinsam zu definieren und die Zielvorstellungen miteinander zu vereinbaren, da beispielsweise die Compliance wesentlich davon bestimmt wird, dass Therapeut*innen und Patient*innen gemeinsame Ziele verfolgen47. Da die Fragen der Identitäten, der sexuellen Orientierungen und der sexuellen Präferenzen bei cis*-heterosexuellen Menschen im Allgemeinen nicht diskutiert werden, gibt es in den Behandlungen mit ihnen diesbezüglich keine voneinander abweichenden Therapieziele der Therapeut*innen und der Patient*innen.
Übertragungsdispositionen
In den Behandlungen von cis*-heterosexuellen Patient*innen durch cis*-heterosexuelle Therapeut*innen findet sich entsprechend der Biographie und der Persönlichkeitsorganisation der Patient*innen ein großes Spektrum unterschiedlicher Übertragungsformen. Diese Übertragungen betreffen im Allgemeinen aber nicht den Bereich der Identitäten, der sexuellen Orientierungen und der Sexualpräferenz.
Eine Ausnahme bildet die Konstellation, in der die Trans*identität oder die gleichgeschlechtliche Orientierung des/der Therapeut*in dem/der Patient*n bekannt ist und der/die Patient*in daraufhin eine spezifische Übertragung ausbildet.
Zwei kasuistische Vignetten mögen der Veranschaulichung dienen:
Eine Patientin hatte ihrem schwulen Therapeuten gegenüber eine ausgeprägte erotische Übertragung entwickelt. In den Sitzungen sprach sie immer wieder von den starken Liebesgefühlen, die sie ihm gegenüber empfinde. Gleichzeitig erwähnte sie aber auch, dass ihr klar sei, dass er ihre Gefühle nicht erwidern könne. Sie habe sich im Internet über ihn kundig gemacht und dort Hinweise auf seine gleichgeschlechtliche Orientierung gefunden. Deshalb sei ihr klar, dass er auf ihre Wünsche nach einer Liebesbeziehung nicht eingehen könne.
Die Bearbeitung der erotischen Übertragung zeigte auf der einen Seite, dass die Patientin aufgrund ihrer Enttäuschung am realen, psychisch kranken Vater, der ihr wegen seiner psychischen Probleme nicht die von ihr erhoffte Zuwendung zuteilwerden lassen konnte, in der therapeutischen Beziehung einen »besseren«, ihr zugeneigten »Vater« zu finden hoffte. Zugleich wiederholte sie aber auch die Situation, die sie mit dem realen Vater erlebt hatte, indem sie sich in der Beziehung zum Therapeuten in gleicher Weise zurückgewiesen fühlte. Allerdings schützte sich die Patientin vor den Gefühlen einer ihr zumindest in dieser Zeit nicht erträglichen Enttäuschung, indem sie die »Zurückweisung« des Therapeuten aus seiner homosexuellen Orientierung ableitete.
Vermutlich war dieser Patientin die Äußerung ihrer Liebeswünsche einem schwulen Therapeuten gegenüber leichter möglich, als es einem heterosexuellen Therapeuten gegenüber gewesen wäre, bei dem sie befürchtet hätte, dass er darauf eingegangen wäre. So hat sich die Patientin etliche Zeit, nachdem die erotische Übertragung bereits analysiert worden war, noch einmal ausdrücklich beim Therapeuten erkundigt, ob für ihn nach Abschluss der Behandlung eine reale Liebesbeziehung zwischen ihnen denkbar sei. Auf die klare Antwort hin, dass dies nicht in Frage komme, äußerte sie zwei widerstreitende Gefühle, die sie aufgrund seiner...