Auf geht’s!
Irgendwie hatte ich immer damit gerechnet, dass ich einmal über mich hinauswachsen würde. Konkret hieß das, dass ich eines Tages damit aufhören würde, mir die Haare aufzudrehen, die ganze Zeit in Turnschuhen herumzulaufen und jeden Tag das Gleiche zu essen. Ich würde nie mehr den Geburtstag meiner Freunde vergessen, würde lernen, mit Photoshop umzugehen, und meiner Tochter verbieten, während des Frühstücks fernzusehen. Ich würde Shakespeare lesen, mehr lachen und Spaß haben, höflicher sein, häufiger ins Museum gehen und keine Angst mehr vor dem Autofahren haben.
Alles begann an einem ganz gewöhnlichen Aprilmorgen, an dem mir plötzlich die erschreckende Erkenntnis kam: Ich war drauf und dran, mein Leben zu vergeuden. Als ich durch die regennasse Scheibe des Stadtbusses blickte, in dem ich saß, sah ich, wie die Jahre dahinschwanden. Was erwarte ich denn vom Leben?, fragte ich mich. Nun … ich will einfach glücklich sein. Aber ich hatte bis zu diesem Tag noch nie darüber nachgedacht, was mich glücklich machte oder wie ich noch glücklicher werden könnte.
Dabei gab es bereits vieles, das mich hätte glücklich machen sollen. Ich war mit Jamie verheiratet, einem hochgewachsenen, attraktiven, dunkelhaarigen Mann, der Liebe meines Lebens; wir hatten zwei entzückende Töchter – die siebenjährige Eliza und die einjährige Eleanor. Nachdem ich meinen Anwaltsberuf an den Nagel gehängt hatte, arbeitete ich als Schriftstellerin und lebte in New York, meiner Lieblingsstadt. Ich hatte eine enge Beziehung zu meinen Eltern, meiner Schwester und meinen Schwiegereltern. Ich hatte Freunde, war gesund und brauchte bei meiner Haarfarbe auch noch nicht nachzuhelfen. Doch leider ließ ich trotzdem nur allzu oft meine schlechte Laune an meinem Mann oder dem Müllmann aus. Schon der geringste berufliche Rückschlag entmutigte mich. Ich verlor schließlich alte Freunde aus den Augen, fuhr zu schnell aus der Haut, litt unter Melancholie, Unsicherheit, Rastlosigkeit und unerklärlichen Schuldgefühlen.
Während mir das alles bewusst wurde, sah ich durch die verschmierte Busscheibe zwei Gestalten die Straße überqueren: eine Frau in etwa meinem Alter, die versuchte, gleichzeitig ihren Schirm hoch zu halten, einen Blick auf ihr Handy zu werfen und einen Kinderwagen zu schieben, in dem ein Kind mit einer kanariengelben Regenjacke saß. Bei diesem Anblick wurde mir schockartig klar: Das bin ja ich. Das dort drüben bin ich. Ich habe auch einen Kinderwagen, ein Handy. Einen Wecker, eine Wohnung und Nachbarn. Im Augenblick sitze ich im Stadtbus, mit dem ich immer durch den Park fahre, hin und zurück. Das ist mein Leben – aber darüber denke ich nie nach.
Ich war weder deprimiert, noch hatte ich eine Midlife-Crisis, aber ich litt am »Midlife-Unbehagen« – einem wiederkehrenden Gefühl der Unzufriedenheit, ja beinahe der Fassungslosigkeit. »Bin das wirklich ich?«, fragte ich mich, wenn ich nach der Morgenzeitung griff oder meine Mails las. »Soll das wirklich alles gewesen sein?«, fragte ich mich immer wieder und antwortete: »Ja, das ist alles.«
Aber auch wenn ich von Zeit zu Zeit unzufrieden darüber war, dass mir etwas fehlte, vergaß ich nie, wie gut das Schicksal es mit mir gemeint hatte. Wenn ich früher mitten in der Nacht aufwachte, was häufig der Fall war, wanderte ich von Raum zu Raum und betrachtete meinen schlafenden Mann, der sich in den Laken verheddert hatte, und meine Töchter, die von ihren Stofftieren umringt waren – alle waren gesund und munter. Ich hatte alles, was ich mir nur wünschen konnte, war jedoch unfähig, es wertzuschätzen. Mein ständiges Herumjammern, die häufigen Krisen und meine Unlust, mich mit meinem Wesen auseinanderzusetzen, machten es mir immer schwerer, zu begreifen, wie sehr ich vom Glück begünstigt war. Ich wollte nicht länger alles als selbstverständlich hinnehmen. Jahrelang hatten mich die Worte der Schriftstellerin Colette verfolgt: »Was für ein wunderbares Leben ich doch hatte, ich wünschte nur, ich hätte es früher erkannt.« Ich wollte nicht am Ende meines Lebens oder nach einer großen Katastrophe zurückblicken und mir sagen müssen: »Wie glücklich ich damals war! Wenn ich es doch nur erkannt hätte.«
Ich musste also darüber nachdenken. Wie konnte ich es schaffen, dankbar für jeden Tag meines Lebens zu sein? Wie konnte ich mir höhere Maßstäbe als Ehefrau, Mutter, Schriftstellerin und Freundin setzen? Wie konnte ich mich von den banalen Widrigkeiten des Alltags lösen und eine großzügigere, transzendentere Perspektive einnehmen? Ich schaffte es ja nicht mal, daran zu denken, beim Drogeriemarkt vorbeizugehen und Zahnpasta zu kaufen – die Überlegung, diese hohen Ziele in meine Alltagsroutine einbinden zu können, schien also unrealistisch zu sein.
Der Bus bewegte sich kaum von der Stelle, und trotzdem konnte ich meinen eigenen Gedanken kaum folgen. Ich muss die Sache in Angriff nehmen, sagte ich mir. Sobald ich ein bisschen Zeit habe, sollte ich ein Happiness-Projekt planen. Doch diese freie Zeit fand ich nie. Denn wenn das Leben ganz normal verläuft, ist es schwer, sich darüber bewusst zu werden, was wirklich zählt. Wenn ich ein Happiness-Projekt auf die Beine stellen wollte, musste ich mir also die Zeit dafür nehmen. Ich stellte mir vor, wie ich einen Monat lang auf einer malerischen, windgepeitschten Insel verbrachte, wo ich jeden Tag Muscheln sammeln, Aristoteles lesen und mir Notizen in ein elegantes Pergamenttagebuch machen würde. Nein, gestand ich mir ein, so funktioniert das nicht. Ich musste einen Weg finden, dieses Projekt hier und jetzt durchzuführen. Ich musste den Blickwinkel ändern, aus dem ich mir alles Vertraute betrachtete konnte.
All diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, während ich in dem überfüllten Bus saß. Dabei wurden mir zwei Dinge klar: Ich war nicht so glücklich, wie ich sein könnte, und mein Leben würde sich nur dann ändern, wenn ich es selbst veränderte. In diesem Moment und mit dieser Erkenntnis beschloss ich, ein Jahr lang zu versuchen, glücklicher zu werden.
An einem Dienstagmorgen fasste ich meinen Entschluss, und am Mittwochnachmittag stapelten sich bereits die Bücher aus der Bibliothek auf meinem Schreibtisch. Ich hatte kaum Platz für sie. Mein winziges Arbeitszimmer unter dem Dach unseres Wohnhauses quoll bereits über von Materialien für die Kennedy-Biographie, an der ich gerade arbeitete. Dazwischen befanden sich Mitteilungen von Elizas Grundschullehrerin über Klassenfahrten, Kinderkrankheiten und Wohltätigkeitsbasare.
Ich konnte mich nicht einfach auf dieses Happiness-Projekt stürzen. Ich musste noch viel Vorarbeit leisten, bevor dieses Jahr beginnen konnte. Nachdem ich mich ein paar Wochen lang eingelesen und mit allen möglichen Ideen gespielt hatte, wie mein Experiment anzupacken war, rief ich meine jüngere Schwester Elizabeth an.
Auf meine zwanzig Minuten lange Rede über meine ursprünglichen Vorstellungen von Glück reagierte sie so: »Ich glaube, du merkst gar nicht, wie eigenartig du bist. – Aber«, fügte sie schnell hinzu, »auf eine positive Art.«
»Jeder Mensch ist eigenartig. Deshalb ist jedes einzelne Happiness-Projekt anders. Wir alle haben unsere persönlichen Eigenarten.«
»Vielleicht, aber ich glaube nicht, dass du merkst, wie komisch es ist, wenn du darüber sprichst.«
»Was ist denn daran so komisch?«
»Dass du das Thema Glück auf eine so verbissene, systematische Weise angehst.«
Ich verstand nicht, was sie meinte. »Meinst du meinen Versuch, Theorien wie ›Todesbetrachtungen‹ oder ›Gehen Sie’s jetzt an‹ in Aktionspunkte umzusetzen?«
»Genau«, erwiderte sie. »Ich weiß nicht einmal, was ein ›Aktionspunkt‹ ist.«
»Das ist ein Fachbegriff aus dem Managementbereich.«
»Okay, was auch immer. Ich will damit nur sagen, dass dein Happiness-Projekt mehr über dich verrät, als dir bewusst ist.«
Natürlich hatte sie recht. Es heißt, dass die Menschen das lehren, was sie lernen müssen. Indem ich in die Rolle des Glückslehrers schlüpfte – wenn auch nur für mich selbst –, versuchte ich, die Methode zu finden, mit der ich meine speziellen Schwächen besiegen und meine Grenzen überwinden konnte.
Es wurde Zeit, mir mehr zuzutrauen. Doch während ich über das Glück nachdachte, stieß ich immer wieder auf Paradoxe. Ich wollte mich verändern, mich gleichzeitig aber auch annehmen. Ich wollte mich weniger ernst nehmen, gleichzeitig aber auch viel ernster. Ich wollte meine Zeit sinnvoll nutzen, gleichzeitig aber auch nach Lust und Laune spazieren gehen, spielen und lesen. Ich wollte über mich nachdenken, damit ich mich vergessen könnte. Ich befand mich immer in höchster Anspannung; ich wollte Neid und Zukunftsängste überwinden, mir aber meine Energie und meinen Ehrgeiz bewahren.
Elizabeths Beobachtung brachte mich dazu, über meine Motive nachzudenken. Suchte ich nach spirituellem Wachstum und einem Leben, das sich mehr nach transzendenten Prinzipien richtete – oder war mein Happiness-Projekt lediglich der Versuch, meinen übertriebenen Perfektionismus auf alle Aspekte meines Lebens auszudehnen?
Mein Happiness-Projekt war beides. Ich wollte meinen Charakter perfektionieren, aber aufgrund meines Naturells würde dies vermutlich Tabellen, Kritikpunkte, To-do-Listen, neue Begriffe und zwanghaftes Notizenmachen mit einschließen.
Viele große Köpfe haben sich mit dem Thema Glück beschäftigt. Als ich mit meinen Recherchen begann, stieß ich auf Platon, Boethius, Montaigne, Bertrand Russell, Thoreau und Schopenhauer. Auch die großen Weltreligionen erklären das Wesen des Glücks. Ich...