Die Entwicklungsgeschichte des Menschen
»Die Menschheit ist die Unsterblichkeit der sterblichen Menschen.«
Ludwig Börne
Die Wiege der Menschheit, mit den ältesten Knochenfunden, wird in Afrika vermutet. Man fand das Skelett eines etwa dreieinhalb Millionen Jahre alten Hominiden, eines Australopithecus, im ostafrikanischen Graben. Was erzählen uns diese Fossilien über unsere Vorfahren? Sie lebten in Gruppen, waren ungefähr einen Meter groß, gingen schon aufrecht und durchzogen als Nomaden die Steppen auf der Suche nach Nahrung. Mit zirka 500 Kubikzentimeter Schädelvolumen entsprachen die Gehirne denen von heutigen Schimpansen.
Man weiß, dass das damalige Klima in einem Zeitraum von etwa einer Million Jahren gleichmäßig warm bis tropisch war und sich kaum veränderte. So konnten sich die Hominiden über einen sehr langen Zeitraum an die Verhältnisse anpassen. Sie ernährten sich auch von harten Pflanzen und entwickelten über die Jahrtausende große Zähne und massive Unterkiefer mit ausgeprägter Kaumuskulatur. Dies führte zu einem sehr starken Zug und Druck auf die Schädelplatten, wodurch sich die knorpeligen Schädelfugen früh schlossen. Die Kindheit dauerte ungefähr drei Jahre, die Gehirne waren früh ausgereift und blieben klein.
Knochenfunde vom Homo habilis, der vor etwa zwei Millionen Jahren lebte, zeigten erstaunliche Veränderungen. Diese Spezies war um die 1,20 Meter groß und hatte mit ungefähr 700 Kubikzentimetern ein um 30 Prozent größeres Gehirnvolumen. In der Nähe der Ausgrabungsstätten fand man auch Steinwerkzeuge. Was könnte passiert sein?
In dieser Zeit kam es im ostafrikanischen Graben zu enormen Klimaveränderungen. In zeitlichen Abständen von zirka 1000 Jahren änderte sich das Klima von kalt auf warm, von feucht auf trocken, was natürlich auch gravierende Auswirkungen auf die gesamte Vegetation und die Ernährung der damaligen Urmenschen hatte.
Durch die Klimaschwankungen waren die Hominiden gezwungen, neue Nahrungsquellen zu erschließen und auszuprobieren. Der Genuss von Fleisch und Fisch und deren Zubereitung führten wahrscheinlich zu weiteren Entwicklungsschritten. Warum?
- Während einer langen entwicklungsgeschichtlichen Periode waren die Hominiden als Hetzjäger unterwegs. In diesem Zeitraum verloren sie ihr Haarkleid und bildeten aufgrund der veränderten Lebensbedingungen Schweißdrüsen aus. Während sie gemeinsam den Tieren nachjagten, konnten sie durch den Schweiß ihre Körpertemperatur regeln. Darüber hinaus mussten sie soziale Fähigkeiten lernen und einüben: Verständigung, Verteilung, Ausdauer, Strategien, Kreativität, Sprache usw.
- Die Überwindung der Angst vor dem Feuer und die Macht über das Feuer leiteten weitere große Veränderungen ein. Durch Garen wurde die Nahrung weicher, und die Nährstoffe wurden besser aufgeschlossen und leichter verdaubar für den Organismus. Dies veränderte natürlich auch den gesamten Kauapparat. Zähne, Muskeln, Kiefer bildeten sich zurück. Der starke Druck/Zug auf die Schädelplatten ließ nach. Die Schädelfugen blieben länger knorpelig verbunden, und das Gehirn konnte sich endlich vergrößern und ausdehnen.
- In einer Höhle in Australien fand man eine große Ader aus Feuerstein. Aus ihm fertigten unsere Vorfahren Speerspitzen für die Jagd. Über gemeinsames Jagen, Teilen, Garen usw. entwickelte sich gleichzeitig ein besserer Zusammenhalt unter den Gruppenmitgliedern. Dies erforderte neue soziale Fähigkeiten, was sich wiederum vorteilhaft auf die Plastizität der Gehirnstrukturen und das Schädelwachstum auswirkte.
- Ein größerer Schädel stellte jedoch in anderer Hinsicht ein Problem dar. Denn ein Kind muss damit ja auch geboren werden können. Der Trick der Evolution besteht bis heute darin, die Kinder in einer so frühen Entwicklungsphase zu gebären, dass sie noch durch das weibliche Becken gelangen. Genau dies hat aber zur Folge, dass das Kind intensive Fürsorge über einen langen Zeitraum hinweg benötigt – ein wichtiger Meilenstein bei der weiteren Entwicklung des Menschen.
- Eine längere Kindheit wiederum bedeutet, dass mehr Bindungshormone benötigt werden, um den Schutz und die Fürsorge des Nachwuchses zu garantieren. Da diese Hormone gleichzeitig für mehr Empathie, Mitgefühl und Einfühlungsvermögen sorgen, könnten sich diese Gefühle von den Müttern auf die ganze Sippe übertragen haben.
Und genau diese beschützende Fürsorge und Mutterliebe wird immer wieder an die nächste Generation mit einem sich ständig verstärkenden Impuls weitergegeben. Unsere heutigen Gehirne benötigen 20 Jahre, bis sie voll ausgereift sind, und haben ein Volumen von 1400 Kubikzentimetern. Unser stärkster Muskel im ganzen Körper ist jedoch noch immer der Kaumuskel.
Schwangerschaft und Bindung
Die Schwangerschaft stellt eine ganz besondere Zeit für die werdende Mutter dar. Die ersten Monate sind häufig begleitet von Übelkeit und meist leichten körperlichen Umstellungssymptomen. Zur gesunden Entwicklung des Kindes ist kalziumreiche Ernährung wichtig. Die Magensäure sorgt für die Aufnahme des basischen Minerals. Nach etwa drei Monaten haben sich die Magensäureverhältnisse in der Regel stabilisiert, und die Übelkeit nimmt ab. Der Embryo hat sich zum Fötus entwickelt, und die Mutter spürt die ersten zarten Bewegungen. Sie sind von unendlich großen Glücksgefühlen begleitet. Ab da beginnt die gefühlsgesteuerte Kooperation zwischen Mutter und Kind.
Nach neun Monaten leiten die oxytocinsensiblen Zellen in der Uterusmuskulatur Wehen und damit die Geburt ein. Oxytocin sorgt somit für die Vertreibung aus dem Paradies. Mit Geburt und Durchtrennung der Nabelschnur, der Ent-Bindung, endet die körperlich-symbiotische Verbundenheit zwischen Mutter und Kind. Ohne einen evolutionär gesteuerten Deal stünde das Leben deshalb schon ganz am Anfang auf dem Spiel, denn gerade das neugeborene Menschenkind benötigt noch für lange Zeit Schutz, Pflege, Liebe und Fürsorge. Wie wird nun sichergestellt, dass dies gelingt?
Evo-Trick 1 – durch Saugen zum Oxytocin
Alles könnte so schön sein, der beschützende Raum, die Wärme, die Rundumernährung, die Ruhe. Doch kaum geboren, gibt es richtig Arbeit für den Säugling. Durch das Geruchspheromon Vasopressin findet er zielsicher die süßlich duftenden Brustwarzen der Mutter, an denen er sogleich mit unendlicher Ausdauer zu saugen beginnt. Die innige Verbundenheit während des Stillens sichert erneut den Nachschub von Oxytocin, dem Fürsorgehormon – für beide.
Genau das Hormon, das zur Vertreibung aus dem Paradies geführt hat, sorgt nun wieder für Nahrung und noch weit mehr.
Evo-Trick 2 – durch Oxytocin zur Bindung
Der Saugreflex des Kindes weckt bei der Mutter innige Verbundenheitsgefühle. Dadurch wird erneut Oxytocin freigesetzt. Die Milch schießt ein und nährt das Kind, und der warme Hautkontakt, das erfolgreiche Saugen, Stimme und Blickkontakt mit der Mutter führen beim Säugling zu tiefem Vertrauen und seelischer Geborgenheit. Auch in seinem kleinen Gehirn werden nun die Bindungshormone aktiviert und die wohlige Erfahrung wird im Gedächtnis abgespeichert. Da hier der Ursprung der Bindungshormone liegt, gehe ich im nächsten Kapitel in den Abschnitten Schwangerschaft, Geburt und Stillen nochmals näher darauf ein.
Aber wo und wie genau entstehen und wirken die Bindungshormone, die zu den innigen, wohligen Verbundenheits- und Liebesgefühlen führen? Dazu ein kurzer Abstecher in die Gehirnforschung (siehe hierzu auch im Anhang: »Anatomie des Gehirns«).
Das Angstzentrum im Gehirn
Im Altsäugergehirn befindet sich eine Region, die unter dem Namen Amygdala (Mandelkern) bekannt ist. Neuesten Forschungsergebnissen zufolge handelt es sich hierbei um die Zone, in der die Emotionen Angst, Furcht, Ekel und die Analyse von Gefahren verarbeitet werden. Angst ist das älteste Gefühl von Lebewesen. Der Mandelkern kontrolliert die Emotionen und beeinflusst auch das emotionale Gedächtnis. Mittels somatischer Marker werden die Angstfrequenzen gespeichert, was einen enormen Überlebensvorteil darstellt. Über die Verarbeitung der Emotionen regt der Mandelkern die weitere Ausschüttung von Stresshormonen an. Damit werden Reserven zur schnellen Flucht bereitgestellt. Die Amygdala war und ist extrem wichtig für alle Warn- und Abwehrreaktionen. Die Ängste unserer Vorfahren waren so vielfältig, dass sich diese Gehirnstrukturen bilden mussten und sogar über die Gene bis heute an die nächste Generation weitergegeben werden. Man nimmt an, dass bereits bei der Geburt bestimmte somatische Marker der Angst unserer Ahnen als Strukturen im Mandelkern vererbt werden.
Emotionale Erregungen können den Mandelkern so stark aktivieren, dass sich Angst und Furcht im ganzen Körper ausbreiten. Menschen mit Panikattacken können ein Lied davon singen.
Angst kann sich so sehr verstärken, dass unsere gesamten bewussten Denkprozesse beeinflusst, dominiert und kontrolliert werden. Deshalb lassen sich Ängste nicht einfach nur durch positives Denken willentlich ausschalten. Wir Menschen leben heutzutage in komplexen Systemen mit nicht immer bis ins Letzte vorhersehbaren und berechenbaren Risiken. Die Nutzung der Atomkraft beispielsweise liefert uns zwar Energie, doch wir haben keine Sinnesorgane für Strahlung ausgebildet. Wir können sie nicht sehen, spüren, riechen, schmecken – und doch kann sie unsere Zellen vernichten. Die nur schwer abzusehenden Folgen mit für lange Zeit bleibender Verseuchung unserer Böden...