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E-Book

Familienkrankheit Alkoholismus

Im Sog der Abhängigkeit

AutorUrsula Lambrou
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783644424210
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Alkoholismus ist eine Familienkrankheit, die nicht nur dem eigentlichen Betroffenen zu schaffen macht, sondern nicht minder seinen Familienangehörigen. Kinder von Alkoholikern leiden noch als Erwachsene an den Verletzungen, die sie in ihrer Kindheit durch den Alkoholismus eines Elternteils erfahren haben, und quälen sich oft ein Leben lang allein mit versteckten Angst-, Schuld- und Rachegefühlen. Ein normales Familienleben ist ihnen unbekannt, sodass sie oft noch als Erwachsene große Schwierigkeiten haben, eine dauerhafte Partnerschaft zu realisieren. In diesem hochgelobten Standardwerk erfahren erwachsene Kinder von Alkoholikern, dass es Wege und Möglichkeiten gibt, dem Sog der Abhängigkeit zu entkommen und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe

Ursula Lambrou, Jahrgang 1943, arbeitet im Bereich der Suchtprophylaxe und ist von Beruf Diplom-Pädagogin. Sie hat im Rowohlt Taschenbuch Verlag außerdem veröffentlicht: Helfen oder aufgeben? Ein Ratgeber für Angehörige von Alkoholikern (rororo 19955). Kontakt: U.Lambrou@gmx.net www.familienkrankheit-alkoholismus.de

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Leseprobe

1. TEIL

Die Familienkrankheit Alkoholismus


Alkoholismus hat immer wieder den einen Tatort: die Familie. Dort laufen Tag für Tag Szenen ab, die allen Familienmitgliedern feste Rollen aufzwingen. Bisher dachte man, dieses Drama und seine Auswirkungen schon gut zu kennen und die Folgen für jede der betroffenen Personen weitgehend einschätzen zu können. Fast jeder glaubt zu wissen, was in einer Familie, in der der Vater oder die Mutter alkoholabhängig ist, vor sich geht.

Der alkoholsüchtige Mann ist häufig betrunken, missachtet oder misshandelt möglicherweise seine Frau und Kinder, verliert auf die Dauer seinen Führerschein, dann seine Arbeit. Die Ehefrau versucht zu retten, was zu retten ist, verdient den Lebensunterhalt für die Familie, kümmert sich um die Kinder, den Haushalt und den Alkoholabhängigen. Die Kinder verhalten sich extrem auffällig oder sind besonders still. Auch der Rollentausch in Alkoholikerfamilien ist bekannt: Die Frau trinkt und vernachlässigt ihre Kinder, den Haushalt und sich selbst. Wenn sie außerhalb des Hauses arbeitet, verliert sie unter Umständen den Arbeitsplatz. Sie spricht Fremde auf der Straße oder in der Kneipe an. Die Kinder bringen ungern Freunde mit nach Hause. Der Ehemann kümmert sich neben dem Beruf mehr und mehr um den Haushalt, die Kinder und um seine Frau. Es gibt dauernd Streit, und meist lässt er sich nach ein paar Jahren scheiden.

Dieses Szenario ist für alle Beteiligten ein Albtraum. Dennoch erfasst diese Beschreibung von Alkoholikerfamilien nur die Oberfläche des Alkoholismus. Die psychischen Wunden und Verletzungen reichen viel tiefer, als bisher bekannt war.

Der Alkoholismus eines Menschen war bis 1935 (dem Gründungsjahr der Anonymen Alkoholiker, auch AA genannt) etwas, das man heilen wollte, aber das man nicht einmal zum Stillstand bringen konnte. Warum das so war, wusste man nicht, wie jemand vom Alkohol loskommen könnte, wusste man auch nicht. Unser Wissen über den Alkoholismus ist parallel mit der Verbreitung der Selbsthilfegruppen gewachsen. Langsam setzte sich in den USA, dann etwa 25 Jahre später auch in der Bundesrepublik, die Erkenntnis durch, dass die alkoholkranke Person suchtkrank ist.3

Ein Alkoholiker ist eben nicht einfach eine willensschwache Person, die sich halt mehr zusammenreißen müsste, um mit dem Trinken aufhören zu können. Auch kann ein süchtiger Mensch auf Dauer nicht weniger und in Maßen trinken. Sucht heißt, keine Kontrolle mehr über das Suchtmittel zu haben. Alle Versuche des Süchtigen, kontrolliert zu trinken, misslingen. Seine Krankheit kann ein Alkoholiker nicht heilen, er kann sie aber zum Stillstand bringen, wenn er aufgibt und sich eingesteht, dass er mit dem Alkohol nicht mehr umgehen kann und dass er Hilfe braucht.

Alkoholismus ist nicht nur eine körperliche Krankheit, Alkoholismus verändert den ganzen Menschen, auch seine Art zu denken und zu fühlen. Ein Alkoholiker verleugnet viele Jahre, meistens bis zu seinem Tod, vom Alkohol abhängig zu sein. Er belügt andere, redet sich selbst alle möglichen Gründe ein, warum er heute trinken muss. Er macht sich und anderen etwas vor, um sich nicht als das zu sehen, was er ist, ein alkoholabhängiger Mensch.

Seine Stimmungen sind vom Alkoholpegel im Blut abhängig. Mal ist er verträglich bis euphorisch, dann wieder gereizt und aggressiv, mal zeigt er sich übertrieben spendabel, obwohl das Geld knapp ist, dann wieder weint er vor Selbstmitleid oder fühlt sich als der Größte.

Er erlaubt keinem in der Familie, besser mit dem Leben klarzukommen als er, ‹niemand darf gesünder sein als der Alkoholiker›.

Der Alkoholismus verändert Denken, Einstellungen und Handlungsweisen selbst dann, wenn der Alkoholiker nicht betrunken ist. Diese Veränderungen verschwinden auch nicht einfach von selbst, wenn ein Alkoholiker trocken wird. Die AA sagen: «Sobald ein Alkoholiker keinen Alkohol mehr trinkt, bekommt er einen Teil seiner Krankheit in den Griff – sein Körper erhält die Möglichkeit, sich zu erholen. Wenn er nüchtern bleiben will, braucht er auch einen gesunden Verstand und ein gesundes Gefühlsleben. So beginnt der Alkoholiker, sein verworrenes Denken und seine unglücklichen Gefühle zurechtzurücken.»4

Viele Jahre haben sich Selbsthilfeorganisationen, Suchtkliniken und Gesundheitsämter um die Person gekümmert, deren Krankheit so offensichtlich ist. Mit Hilfe anderer trockener Alkoholiker konnte ein Süchtiger lernen, nicht mehr zu trinken und sich mit sich und seiner Umwelt ehrlich auseinanderzusetzen.

Lange Zeit glaubte man, das Problem des Alkoholismus in der Familie sei gelöst, wenn der Süchtige nicht mehr trinken würde. Man stellte aber immer wieder fest, dass die Partner sich in ihrem Denken und Fühlen ganz auf eine trinkende Person eingestellt haben und, so widersprüchlich das zunächst erscheint, die Veränderung zum Guten nicht mitvollziehen können. Viele Ehen scheitern erst, nachdem ein Alkoholiker seine Sucht zum Stillstand gebracht hat. Es reicht offensichtlich nicht aus, wenn sich in einer Suchtfamilie nur der Süchtige ändert. Der andere Partner entwickelt Denk- und Gefühlsstörungen im Zusammenleben mit einem Süchtigen, die denen der alkoholkranken Person ähneln.

Auffallend viele Frauen bleiben in einer Ehe, die für sie und ihre Kinder die Hölle auf Erden ist. Sie sind weit stärker als Männer dazu erzogen worden, andere in ihrem Leben zu begleiten und sich um deren Probleme zu kümmern. Die nicht trinkende Ehefrau5 glaubt viel zu lange, sie könne dem Trinkproblem ihres Mannes mit Liebe und Verständnis begegnen. Wenn das versagt, wechselt sie ihre Strategie. Sie trinkt häufig mit und versucht, ihn und sein Trinken zu kontrollieren. Sie streicht z. B. den Pegelstand in der Flasche an, um nachprüfen zu können, ob und wie viel er getrunken hat. Sie untersucht die Verstecke, in denen sie schon einmal Cognac- und Schnapsflaschen gefunden hat. Sie kauft möglicherweise Bier und Wein ein, in der irrigen Annahme, ihn auf Getränke mit geringerem Alkoholgehalt umgewöhnen zu können, oder in der falschen Hoffnung, dass Bier und Wein nicht so abhängig machen wie harte Getränke. Sie lügt beim Arbeitgeber, wenn er gefehlt hat. Sie verleugnet ihn vor Besuchern, wenn er betrunken ist. Sie wischt sein Erbrochenes auf und holt ihn nachts aus der Kneipe, damit ihm auf der Heimfahrt nichts passiert. Sie regelt den Haushalt, versorgt die Kinder, sie managt alles, denn ‹einer muss ja schließlich dafür sorgen, dass der Laden läuft›.

In der Familie und bei Bekannten, die etwas vom Alkoholproblem mitbekommen haben, wird sie bedauert, aber auch manchmal beschuldigt, der Grund für sein Trinken zu sein. Die Ehefrau eines Alkoholikers hat viele Rollen zugleich. Sie ist Märtyrerin und Opfer und gleichzeitig diejenige, die alles geregelt bekommt und versucht, die Verhältnisse, die immer unberechenbarer werden, zu beherrschen.

Solange ihr Partner trinkt, misslingen ihr alle Anstrengungen. Wenn er trocken geworden ist, sind ihre Kontrollversuche und Manipulationen, ihr Märtyrerverhalten und ihr Managertum erst recht überflüssig. Seit dem Ende der siebziger Jahre bezieht man, wann immer möglich, die Ehefrau eines Alkoholikers in die Beratungsgespräche mit ein. Selbsthilfegruppen und Suchtkliniken haben Gruppen für Ehepartner, für Freunde und Freundinnen von Suchtkranken eingerichtet. Auch die Eltern von Suchtkranken finden dort Unterstützung. Man hat die Konsequenzen aus dem Wissen gezogen, dass der Alkoholismus eben nicht nur die eine Person erfasst, die trinkt, sondern dass zum Alkoholismus ein ‹Drehbuch› gehört, das ganz selbstverständlich von den Ehepartnern akzeptiert wird. Dieser Begleiterrolle im Drehbuch einer Alkoholikerfamilie wird auch heute noch in der Öffentlichkeit weitgehend zugestimmt. Es ist kaum bekannt, dass das übliche Verhalten von Ehepartnern die Sucht der Alkoholiker eher fördert als behindert. Wenn man mit einer alkoholkranken Person zusammenlebt, ist es dann nicht ‹natürlich›, dass man sich vor anderen schämt und die Trinkfolgen nach außen hin verbirgt? Ist es nicht ‹natürlich›, dass man mehr und mehr Pflichten des Süchtigen übernimmt, man kaum noch Zeit und Energie für die Kinder aufbringen kann? Und ist es nicht ‹natürlich›, dass man nichts anderes mehr im Blickfeld hat als dieses alles beherrschende Trinken des Partners oder der Partnerin? Kann man einen abhängigen Menschen sich selbst überlassen? Landet er oder sie dann nicht in der Gosse? Darf eine Ehefrau oder ein Ehemann dann an sich selbst denken?

Die Antwort auf diese Fragen ist schwer zu akzeptieren, widerspricht sie doch allem, was man sonst über Hilfe gelernt hat: Keine der (natürlichen) Reaktionen auf das Trinken des Partners hilft dem Süchtigen, mit seiner Sucht aufzuhören. Ganz im Gegenteil! Heute weiß man, dass gerade diese Begleiterrolle dazu beiträgt, die Sucht aufrechtzuerhalten. Durch ihre Kontrolle und Fürsorge verhindern Partner und Partnerinnen, dass der Alkoholkranke die Folgen seiner Sucht in aller Schärfe sieht und spürt. Mit ‹Hilfe› des Partners oder der Partnerin kann sich ein Alkoholabhängiger viel länger etwas vormachen und braucht mehr Zeit, um zu dem Punkt zu kommen, an dem er seine Selbsttäuschung durchblickt. Ganz im Gegenteil, es ist notwendig, den Süchtigen sich selbst zu überlassen, denn er ist kein Kind, für das man sich verantwortlich fühlen darf. Er muss die Folgen seines Trinkens selbst erleben.

Ein weiterer Aspekt des suchtbegleitenden Verhaltens ist genauso wichtig: Der Partner/​die Partnerin eines Süchtigen kann sich selbst durch das kontrollierende und fürsorgliche Verhalten sehr...

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