3. Julikrise und Kriegsausbruch 1914
3.1. Das Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914
Allen vorausgehenden Krisen zum Trotz, erwartete keine Großmacht Europas bis Juli 1914 ernsthaft einen großen Krieg[137]. Dass sich dies ändern sollte, lag vor allem an dem Attentat serbischer Nationalisten auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914. Zwar waren Attentate auf dem Balkan zu diesem Zeitpunkt nichts Neues, doch sollten vor allem dessen fatale Folgen zeigen, welch verhängnisvoller Vorfall sich am 28. Juni in Sarajevo ereignet hatte.
An jenem Tag wollte Franz Ferdinand der bosnischen Hauptstadt Sarajevo einen Besuch abstatten. Um der ansässigen Bevölkerung seine Verbundenheit und Vertrauen zu zeigen hatte er zuvor angeordnet, dass auf die sonst üblichen Truppen entlang der Wegstrecke verzichtet werden sollte[138]. Nachdem er eine Ehrengarde abgeschritten hatte, bewegte sich der sieben Autos umfassende Konvoi Richtung Rathaus. Doch entlang der Route hatten sich bereits mehrere Attentäter positioniert, die - ausgestattet mit Bomben, Faustfeuerwaffen und Giftpäckchen zur anschließenden Selbsttötung - den Thronfolger ermorden wollten. Bereits kurz nachdem der Konvoi sich in Bewegung gesetzt hatte, verfehlte die Bombe des zuerst positionierten Attentäters - Cabrinovic - den Wagen des Erzherzogs nur knapp und explodierte stattdessen vor dem nachkommenden Fahrzeug. Zwei in diesem Wagen sitzende Offiziere wurden dabei verletzt. Außer sich, aber relativ unbeeindruckt erkundigte sich Franz Ferdinand über den Zustand der beiden Verletzten und ließ die Route gemäß Planung bis zum Rathaus fortsetzen. Eine Änderung des Programms jedoch, so die Meinung des Thronfolgers, kam nicht in Frage. Auch im Rathaus wurde das Programm wie geplant fortgesetzt, indem man sich die Rede des Bürgermeisters anhörte[139]. Zwar weigerte sich Ferdinand auch auf zusätzliche Truppen zur Verstärkung zu warten, doch stimmte er wenigstens einer Änderung der Rückfahrroute zu, doch das Schicksal schien es mit dem Thronfolger an diesem Tag allerdings nicht gut gemeint zu haben.
Nachdem der vorderste Fahrer die Planänderung nicht mitbekommen hatte und falsch abgebogen war, musste man den Konvoi, um wieder zusammen zu finden, kurz stoppen. Dabei kam der Wagen des Erzherzogs zufällig weniger als zwei Meter vor dem Attentäter Gavrilo Princip zum stehen, der sich diesen Wink des Schicksals nicht entgehen ließ. Mit zwei Schüssen traf er sowohl Franz Ferdinand, als auch dessen Frau, die beide an den tödlichen Folgen kurz darauf verstarben[140].
Das Attentat an sich muss man dem großserbischen Nationalismus zuordnen. Franz Ferdinand hegte Reformpläne, den Südslawen eine autonomere Rolle innerhalb des Reichs zu zuerkennen, womit er wohl dem Plan eines alle Südslawen umfassenden, eigenständigen Nationalstaat entgegen stand[141]. Auch der Attentäter Gavrilo Princip gehörte einer kleinen bosnischen Gruppe an, welche die südslawischen Provinzen aus dem Reich abtrennen und in einem großserbischen Reich vereinigen wollte. Unterstützt wurde diese Truppe durch den serbischen Geheimdienst und eine Organisation, die sich selbst die „Schwarze Hand“ nannte[142]. Auch die Waffen, das wissen wir heute, stammten aus dem serbischen Staatsarsenal. Man kann also davon ausgehen, dass zumindest einige Fäden des Attentats in Belgrad gezogen wurden[143].
3.2. Die Konflikte auf dem Balkan als Gefahr für Österreich-Ungarn
Trotz des Attentats in Sarajevo sah keine Großmacht zum damaligen Zeitpunkt einen großen Krieg heraufziehen. Die internationalen Reaktionen waren fast ausnahmslos auf Seiten der Donaumonarchie. Man war sich sogar darin einig, dass Wien berechtigt sei harte Vergeltung für das Attentat zu üben[144]. So schrieb der englische Außenminister Grey rückblickend:
"No crime […] has ever aroused deeper or more general horror throughout Europe; none has ever been less justified. Sympathy for Austria was universal. Both the governments and the public opinion of Europe were ready to support her in any measures, however severe, which she might think it necessary to take for the punishment of the murderer and his accomplices."[145]
Für die Führung der Donaumonarchie stellte das Attentat kein einzelnes Fragment ohne größeren Zusammenhang dar. Schon seit Jahren kam es auf dem Balkan immer wieder zu nationalistischen Vorfällen und Grenzkonflikten, weshalb das Attentat von Sarajevo nur als Höhepunkt jahrelanger Konflikte betrachtet wurde. Der am 5. Juli 1914 von Graf Szögyény überbrachte Brief von Kaiser Franz Joseph I. an Wilhelm II. offenbart, welche Sorgen der anhaltende antiösterreichische Nationalismus auf dem Balkan der Führung in Wien bereitete. Darin hieß es wörtlich:
„Das gegen meinen armen Neffen verübte Attentat ist die direkte Folge der von den russischen und serbischen Panslawisten betriebenen Agitation, deren einziges Ziel die Schwächung des Dreibundes und die Zertrümmerung meines Reiches ist. Nach allen bisherigen Erhebungen hat es sich in Sarajewo nicht um die Bluttat eines einzelnen, sondern um ein wohlorganisiertes Komplott gehandelt, dessen Fäden nach Belgrad reichen, und wenn es auch vermutlich unmöglich sein wird, die Komplizität der serbischen Regierung nachzuweisen, so kann man wohl nicht im Zweifel darüber sein, daß ihre auf die Vereinigung aller Südslawen unter serbischer Flagge gerichtete Politik solche Verbrechen fördert, und daß die Andauer dieses Zustandes eine dauernde Gefahr für mein Haus und für meine Länder bildet [...] Das Bestreben meiner Regierung muß in Hinkunft auf die Isolierung und Verkleinerung Serbiens gerichtet sein“[146]
Die Angst und die Mutmaßungen waren nicht unbegründet. Österreich-Ungarn war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Vielvölkerstaat. Weniger als die Hälfte der knapp 47 Mio. großen Bevölkerung war deutscher oder ungarischer Abstammung. So lebten 1910 nur rund 12,0 Mio. Deutsche und 10,1 Mio. Ungarn in der Doppelmonarchie, während Tschechen (6,6 Mio.), Ruthenen (4,0 Mio.), Kroaten (3,2 Mio.), Rumänen (2,9 Mio.), Slowaken (2,0 Mio.), Slowenen (1,3 Mio.) und Italiener (0,7 Mio.) den Großteil der Bevölkerung ausmachten[147]. Würden diese hauptsächlich slawischen Minderheiten neue Staaten gründen, so war klar, dass dies zu einer ernsthaften Gefahr der gesamten Habsburgermonarchie werden könnte. Die Situation wurde durch die Tatsache begünstigt, dass die slawische Minderheit am Hof kaum vertreten war. Antiösterreichische, nationalistische Umtriebe konnten daher durch das im Süden angrenzende Serbien immer wieder problemlos angefacht und unterstützt werden. In Belgrad erhoffte man sich mit Hilfe des russischen Partners einen großserbischen Nationalstaat auf Kosten der Donaumonarchie verwirklichen zu können[148].
Die stetigen nationalistischen Ausschreitungen bereiteten der österreichischen Führung daher existentielle Sorgen und es verwundert kaum, dass nach dem schockierenden Attentat des 28. Juni auch Kaiser Franz Joseph I. der Überzeugung anhing, erst nach einem militärischen Vorgehen auf dem Balkan die innenpolitisch notwendigen Reformen erfolgreich angehen zu können[149]. Auch für das Deutsche Reich war das Überleben des österreichischen Verbündeten von existentieller Bedeutung, da man sonst keinen echten Verbündeten mehr hatte[150]. Probleme der Donaumonarchie wurden daher verhängnisvollerweise automatisch auch Probleme des deutschen Kaiserreichs und so wird, wie wir sehen werden, die Frage Josephs I. an Wilhelm II., was man bereit sei zu unternehmen, um „diesen Herd von verbrecherischer Agitation in Belgrad zu bestrafen“[151], von entscheidender Bedeutung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges sein.
3.3. Die Julikrise 1914
3.3.1. Die Diplomatie zwischen Sarajevo und dem Blankoscheck am 5. Juli 1914
Während sich kurz nach den Ereignissen in Sarajevo Beileidsbekundungen der meisten europäischen Nationen in Wien eingingen, sah Generalstabschef Conrad von Hölzendorf mit dem Anschlag den Anlass für den von ihm lange ersehnten Präventivkrieg gegen Serbien gegeben. Selbst der bisher zurückhaltende Außenminister Berchtold sprach sich für ein rasches energisches Vorgehen gegen Belgrad aus. Dem stand Kaiser Franz Joseph gegenüber, dem klar war, dass ein Vorgehen gegen Serbien auch Russland elementar tangieren würde. Eine Militäraktion konnte daher nur in Absprache mit Berlin beschlossen werden[152]. Aus diesem Grund wurde der Legationsrat und Kabinettschef im Außenministerium - Graf Hoyos - nach Berlin entsandt. Dieser traf, ausgestattet mit einem persönlichen Schreiben Franz Josephs I. an Wilhelm II. und einer Denkschrift des Außenministeriums, am 5. Juli dort ein. Er traf sich umgehend mit dem Kaiser und erhielt bereits am selben Tag nach kurzem Zögern die Zusicherung, dass das Deutsche Reich auf Seiten Österreichs stehen würde. Da dies - die Ereignisse während der Balkankriege hatten es gezeigt - ohne Zustimmung des Reichskanzlers nicht viel zu bedeuten hatte, musste Hoyos noch auf dessen Antwort warten. Im Gegensatz zu 1912 ließ dieser...