Der Begriff der Nation ist sehr vielfältig und eine einzige Begriffdefinition zu finden ist schwierig und auf Grund des Bedeutungsumfangs nicht zielführend. Die Worte Nation, Heimat, Volk und Staat sind eng miteinander verbunden und werden oftmals willkürlich verwendet. „Staat“ tritt an die Stelle von „Nation“, man spricht von „Nation“ wenn das „Volk“ gemeint ist und von der „Heimat“ wenn der „Staat“ bezeichnet wird. Grob gesagt ist die Heimat der Boden, auf dem eine Gruppe von Menschen lebt und dem sie sich verbunden fühlt. Das Volk wiederum ist eine Gruppe, die in einem Land lebt, die einen gemeinsamen historischen Ursprung aufweist und der gleichen politischen Ordnung unterstellt ist. Der Staat bildet die politische Organisation, auf der das Heimatland aufbaut und dessen Name immer vom jeweiligen politischen System abgeleitet wird, siehe österreichische Republik, Vereinigtes englisches Königreich oder tunesische Republik. Die Nation wiederum ist ein weitreichenderes Konzept als das des Staates, des Volkes ebenso wie das der Heimat. Auch wenn eine eindeutige Definition des Begriffs der Nation schwierig ist, gibt es Voraussetzungen, die eine Nation für gewöhnlich erfüllt. Eine Nation benötigt an sich keinen Staat und auch keine Heimat, sie muss also generell nicht territorial festgelegt sein, wobei dies nur in den seltensten Fällen nicht gegeben ist. Für gewöhnlich strebt eine nationale Gemeinschaft die Bildung eines gemeinsamen Territoriums, den Nationalstaat an, der dann als Heimat fungiert. Eine Nation definiert sich ideal-typisch durch eine eigene Sprache, eine gemeinsame Religion, eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Erinnerungen und findet ihren Zusammenhalt sowohl auf kultureller als auch auf politischer und wirtschaftlicher Ebene. Das massgebende Ereignis in Bezug auf die Bildung von Nationen bzw. der Etablierung des Nationengedankens als Kriterium der Einteilung der Völker bildet in Westeuropa die französische Revolution, die das Prinzip der Einheit und der Unteilbarkeit der Nation propagiert. Daraus resultiert die Forderung nach einem linguistischem Unitarismus, der die Einheit des Staates, der Nation und der Sprache fordert. Im kolonialen Kontext gilt das Prinzip der Assimilation, das davon ausgeht, dass die Einheimischen die französische Sprache und Kultur annehmen sollen und dadurch zivilisiert werden, vor allem für eine kleine politische Elite, die stark frankophon und franzisiert ist und die der französischen Sprache zu einem hohen Prestige verhilft. Für die Darstellung der Konzeption von Nation stützt sich diese Arbeit vor allem auf den konstruktivistischen Ansatz, wie ihn unter anderem Benedict Anderson, Ernest Gellner und Eric Hobsbawm vertreten, die, auf unterschiedlichen Wegen und sich zum Teil widersprechend, zum Schluss kommen, dass Nation ebenso wie nationale Identität keine natürlichen Größen sind, sondern vielmehr Konstrukte und Konzepte sind, sowohl im historischen als auch im geistigen Sinne. Es ist, mit einigen Ausnahmen, die geistige Elite eines Landes, die für die Entstehung der Nation eine bedeutende Rolle spielt, übernimmt sie doch die Position des Trägers und Vermittlers der nationalen Konzeption hin zur Masse der Bevölkerung.
Das Konzept der Nation, die sich auf einen starken Staatsapparat stützt, wird vom damaligen Staatspräsidenten Habib Bourguiba bei der Staatsbildung Tunesiens nach dem Erlangen der Unabhängigkeit herangezogen. Die Forschungsfrage lautet nun, auf welche Art und Weise es umgesetzt bzw. auf welchen Stützen es aufgebaut wurde. Die Nation an sich wird von etlichen Forschern als ein Phänomen betrachtet, das sich ab dem 19. Jahrhundert besonders in Europa ausgebreitet und vonm hier aus seinen Siegeszug angetreten hat. Ziel dieser Arbeit ist es, die Anfänge Tunesiens als unabhängigen Nationalstaat zu untersuchen und darzustellen auf welchen Elementen der Staat und die Nation aufgebaut werden. Der Untersuchungsgegenstand bezieht sich auf die Jahre vor und nach der Unabhängigkeit, wobei der zeitliche Rahmen bis ins Jahre 1959 eingeschränkt ist. In diesem Jahr wird die Verfassung verabschiedet, und es kann angenommen werden, dass sich die nationalen Elemente zum Großteil etabliert haben.
Die geschichtlichen Vorkommnisse im Maghreb sind von dem des übrigen arabischen Raums insofern zu unterscheiden, als dass die drei Länder, zuerst Algerien dann Tunesien und Marokko, im 19. Jahrhundert bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts, von der französischen Kolonialmacht erobert und auf diese Weise vom osmanischen Reich abgetrennt wurden. Während die Länder im Maschrek, zu dem Ägypten, Palästina, Jordanien, Syrien, der Libanon und der Irak zählen, gegen die Herrschaft des osmanischen Reichs kämpfen, richtet sich die nationale Bewegung im Maghreb gegen die französische Kolonialmacht, nicht aber gegen ein islamisch legitimiertes Reich. Auf Grund dieses historischen Unterschieds lassen sich die Differenzen der Ideologien zwischen den Ländern im Maghreb und im Maschrek erklären. Diese Thematik bedingt weiters, dass in dieser Arbeit nur im Kapitel „Nation, Nationalismus und Nationalstaat in der arabischen Welt“ ein globaler Blick auf den arabischen Raum, zu dem auch die Länder des Maghrebs zählen, geworfen wird, während sich der Rest der Arbeit allein mit Tunesien beschäftigt. Der Grund, warum gerade Tunesien ausgewählt wurde, liegt daran, dass es sich um das kleinste der drei Länder Nordafrikas handelt, dem in der wissenschaftlichen Forschung bezüglich der Unabhängigkeit und des Danachs weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird. Algerien bietet, auf Grund des jahrelangen Unabhängigkeitskriegs und auf Grund der ethnischen Zusammensetzung der Gesellschaft, ebenso wie Marokko, interessante wissenschaftliche Forschungsfelder. Die Geschichte Tunesiens weist eine gewisse Kontinuität und auf politischer Ebene eine bestimmte Stabilität auf. Gerade diese Tatsache macht das Land für das Forschungsfeld dieser Arbeit interessant, da auf diese Weise eine „natürliche“ Chronologie gegeben ist, was besonders das Finden geeigneten literarischen Materials und authentischer Quellen erleichtert. Bei der Schreibweise wurde in den meisten Fällen, je nach Kontext, auf die französische bzw. deutsche Variante der arabischen Begrifflichkeiten zurückgegriffen, was dazu führt, dass sich die Orthographie im Text und in einzelnen Zitaten unterscheidet.
Der erste Teil dieser Arbeit bildet den Versuch einer Begriffdefinition von Nation. Im Abschnitt, der sich mit den Enstehungsfaktoren und den Eigenschaften von Nation beschäftigt, sollen besonders die Literatur und Erkenntnisse von Benedict Anderson und Ernest Gellner herangezogen werden, die einen modernen, konstruktivistischen Ansatz vertreten. Die französische Revolution gilt als wichtiges Ereignis bei der Defintion eines modernen Nationenbegriffs, werden doch nun Volk und Nation ebenso wie Staat und Nation gleichgesetzt, was die Rolle der Menschen dem Staat gegenüber verändert, die von Untertanen zu freien Bürgern werden. Der unitaristische Charakter des Nationenkonzepts, der das Kennzeichen des französischen Konzepts ist, findet auch in anderen Ländern Anklang und geht davon aus, dass in einem Staat eine Nation zu Hause ist, die sich mit einer Sprache verständigt. Wichtige Kennzeichen, die eine Nation ausmachen bzw. mit sich bringen, sollen dargestellt werden, wie Nationalismus und die kollektive Identität. Es gibt nicht nur ein einziges Nationenkonzept. Vielmehr konzipieren und definieren sich Länder auf Grund unterschiedlicher Faktoren als eine Nation, was durch eine Gegenüberstellung von Frankreich und Deutschland gezeigt werden soll. Das Erste, das einen durch eine lange Geschichte verfestigten einheitlichen Staat aufweist und das Zweite, das sich heute zwar als Nationalstaat und deutsche Nation definiert, aber aus 16 teilsouveränen Gliedstaaten besteht. Diese Darstellung soll zeigen, dass die Bildung einer Nation unter verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen kann und nicht ein einheitlicher Rahmen zur Verfügung steht. Der erste Teil dieser Arbeit dient dazu, das Prinzip der Nation darzustellen und zu erklären, mit dem Zweck, einen Eindruck vom Untersuchungsgegenstand des „nationalstaatlichen Konzepts“ zu bekommen.
Der darauffolgende Teil dieser Arbeit konzentriert sich auf Tunesien, das als Protektorat ein Teil des ehemaligen französischen Kolonialreichs in Afrika war. An Hand von Aufzeichnungen, Schriften und weiterer Literatur des ehemaligen Staatspräsidenten Habib Bourguiba soll dessen Idee eines Nationenkonzepts dargestellt werden. Das Thema Nation wird wiederum aufgeriffen und in den tunesischen Kontext gesetzt, einem Kontext also, in dem dieses Konzept in der vorkolonialen Zeit völlig fremd ist. Bei Tunesien handelt es sich um ein Land, in dem es einen Staatspräsidenten gab, der einerseits eine eigene Idee des zukünftigen Staates hatte, den er regieren sollte, und der andererseits die Macht, an die er nach der Unabhängigkeit gekommen ist, lange Zeit nicht losgelassen hat.[1] Die tunesische Bevölkerung ist zahlenmäßig, auf Grund der Größe des Landes, relativ gering und weist eine weitgehende sprachliche wie auch kulturelle Homogenität auf. Das Hocharabische ist eine bereits verschriftete Sprache, die als wichtiger Teil der tunesischen Identität und als Mittel der Integration angesehen wird. Das Land bildet auch schon vor der Kolonialzeit eine mehr oder weniger etablierte politische Einheit, auf die das kollektive Bewusstsein im Kampf um die Unabhängigkeit aufbauen kann. Identitätsstiftender Faktor ist weiters, dass Tunesien bereits Teil einer Gemeinschaft ist, nämlich der islamischen, der auch...