1 Mein Leben vor dem Schlaganfall
Ich bin Neuroanatomin und Hirnforscherin. Aufgewachsen bin ich in Terre Haute, Indiana. Einer meiner Brüder, nur achtzehn Monate älter als ich, litt an Schizophrenie. Offiziell wurde die Krankheit bei ihm erst mit einunddreißig Jahren diagnostiziert, aber es machten sich schon früher deutliche Anzeichen von Psychose bei ihm bemerkbar. Als wir Kinder waren, nahm er die Realität völlig anders wahr als ich, und weil er sich auch anders benahm, faszinierte mich das menschliche Gehirn relativ früh. Ich fragte mich, wie es sein konnte, dass mein Bruder und ich die gleiche Situation so unterschiedlich auslegen konnten. Dieser Unterschied in Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Ergebnis veranlasste mich, Hirnforscherin zu werden.
Mein Studium begann ich Ende der siebziger Jahre an der Indiana University in Bloomington. Aufgrund der Erlebnisse und Erfahrungen mit meinem Bruder wollte ich unbedingt verstehen, was »normal« auf neurologischer Ebene bedeutete. Zu dieser Zeit war Hirnforschung noch ein derart neues Gebiet, dass man sich an der Universität nicht einmal darauf spezialisieren konnte. Durch mein Studium lernte ich so viel ich konnte über das menschliche Gehirn.
Mein erster richtiger Job in der Welt medizinischer Forschung erwies sich als großer Segen. Ich wurde als Laborantin im Terre Haute Center for Medical Education eingestellt, das zur Indiana University School of Medicine gehört und sich auf dem Campus der Indiana State University befindet. Ich teilte mir die Zeit gleichmäßig auf zwischen dem Labor für makroskopische Anatomie und dem Forschungslabor für Neuroanatomie. Zwei Jahre lang befasste ich mich mit medizinischen Studien und lernte, mich für das Sezieren des menschlichen Körpers zu begeistern.
In den folgenden sechs Jahren war ich im Doktorandenprogramm des Department of Life Science eingeschrieben. Ich hatte hauptsächlich medizinische Seminare belegt und forschte vor allem in der Neuroanatomie.
1988 wurde bei meinem Bruder offiziell Schizophrenie diagnostiziert. Biologisch gesehen ist er mir der Nächste im gesamten Universum. Ich wollte verstehen, warum sich meine Träume mit der Realität in Verbindung bringen ließen und warum das bei meinem Bruder nicht der Fall war. Was lief in seinem Gehirn so grundlegend anders ab? Mit Feuereifer stürzte ich mich in die Forschungen über Schizophrenie.
Nach der Promotion wurde mir an der Harvard Medical School eine neurowissenschaftliche Stelle angeboten. Zwei Jahre arbeitete ich mit einem Kollegen an der Lokalisierung des mediotemporalen Areals, das im Gehirn eine wichtige Rolle bei der Wahrnehmung von Bewegung spielt. Ich war an diesem Projekt vor allem deshalb interessiert, weil auffällig viele Menschen mit Schizophrenie abnorme Augenbewegungen haben, wenn sie bewegte Objekte beobachten.
Nach Abschluss dieser Forschung über den Sitz des mediotemporalen Areals im menschlichen Gehirn[1] erfüllte ich mir einen langgehegten Wunsch und wechselte in die Psychiatrie. Mein Ziel war es, im Labor von Dr. Francine M. Benes im McLean Hospital zu arbeiten. Francine Benes ist eine weltbekannte Kapazität in der Post-mortem-Erforschung des menschlichen Gehirns im Hinblick auf Schizophrenie. Ich stellte mir vor, auf diese Weise Menschen helfen zu können, die an der gleichen Hirnerkrankung leiden wie mein Bruder.
In der Woche bevor ich 1993 meine neue Stelle am McLean Hospital antrat, flogen mein Vater und ich nach Miami, um an der jährlichen Konferenz der National Alliance on Mental Illness (NAMI) teilzunehmen.[2] Wir wollten auf dieser Tagung mehr über NAMI erfahren und darüber, was wir selbst dazu beisteuern könnten. Das Ziel von NAMI ist es, zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Geisteskrankheiten beizutragen. Damals gehörten der Organisation etwa 40000 Familien mit einem psychisch kranken Angehörigen an. Heute sind es etwa 220000 Familien. Diese Reise nach Miami veränderte mein Leben. Wir trafen auf eine Gruppe von etwa 1500 Leuten, die sich aus Eltern, Geschwistern, Kindern und anderen Menschen zusammensetzte, bei denen Familienmitglieder an schwersten geistigen Erkrankungen litten. Erst durch den Kontakt mit anderen Menschen, deren Angehörige geistig erkrankt waren, wurde mir klar, welchen Einfluss die Erkrankung meines Bruders auf mein Leben gehabt hatte. Auf dieser Tagung lernte ich Menschen kennen, die verstanden, welche Angst die Schizophrenie meines Bruders in mir auslöste. Sie verstanden die Bemühungen meiner Familie, ihm die bestmögliche Behandlung zuteilwerden zu lassen. Sie setzten sich als Organisation gegen soziale Ungerechtigkeit und die Stigmatisierung ein, mit denen Geisteskrankheiten belegt werden. Sie hatten Informationsmaterial, das sowohl sie selbst als auch die Öffentlichkeit über die biologischen Grundlagen dieser Erkrankungen aufklärte. Und sie hatten sich mit Hirnforschern zusammengetan, damit Heilmethoden gefunden werden konnten. Mein Gefühl sagte mir, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Ich war Wissenschaftlerin und hatte als Angehörige das dringende Bedürfnis, Menschen wie meinem Bruder helfen zu wollen. In gewisser Weise hatte ich nicht nur eine Sache gefunden, der ich mich mit Leidenschaft widmen konnte, sondern auch eine erweiterte Familie.
In der Woche nach der Tagung in Miami trat ich meine neue Stelle im Labor für Strukturelle Neurowissenschaften an, dem Forschungsschwerpunkt von Dr. Francine Benes. Francine, die ich liebevoll »Königin der Schizophrenie« nenne, ist eine großartige Wissenschaftlerin. Es war allein schon eine Freude für mich, ihr beim Erforschen und Zusammensetzen der einzelnen Puzzleteile zuzusehen. Ich empfand es als Privileg, ihre Kreativität, Hartnäckigkeit, Präzision und Effizienz bei der Leitung eines Forschungslabors erleben zu dürfen. Für mich war dieser Job ein Traum, und ich hatte das Gefühl, eine wirklich sinnvolle Arbeit zu tun.
Am ersten Tag jedoch bekam meine Begeisterung gleich einen kleinen Dämpfer, als ich erfuhr, dass nicht genügend Gehirne für die Post-mortem-Forschung zur Verfügung stünden. Ich traute meinen Ohren nicht. Gerade war ich mit Hunderten von Familien von geistig erkrankten Angehörigen zusammen gewesen. Dr. Lew Judd, ein prominenter Arzt, hatte die Podiumsdiskussion moderiert, und einige führende Wissenschaftler hatten ihre Forschungsergebnisse präsentiert. Da sich NAMI-Familien untereinander über Hirnforschung austauschen, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es einen Mangel an gespendetem Gewebe geben sollte. Wenn die Familien der NAMI-Organisation erst einmal wüssten, dass das Forschungsmaterial knapp war, würden sie mit Sicherheit für Abhilfe sorgen.
1994, ein Jahr später, wurde ich in den Vorstand der nationalen NAMI-Organisation berufen, was für mich eine große Ehre war, zugleich jedoch auch viel Verantwortung bedeutete. Ich legte natürlich besonderen Wert darauf, dass der Hirnforschung immer genügend Gewebe für Untersuchungen zur Verfügung stand. Damals waren die Mitglieder in der NAMI im Durchschnitt siebenundsechzig Jahre alt. Ich war erst fünfunddreißig und stolz darauf, das jüngste Vorstandsmitglied zu sein. Voller Energie stürzte ich mich in die Arbeit.
Von nun an nahm ich an den jährlichen Konferenzen im ganzen Land teil. Bevor ich dieses Amt übernahm, erhielt das Harvard Brain Tissue Resource Center (die Brain Bank, eine Hirn-Forschungsbank), das direkt neben dem Labor von Francine Benes lag, weniger als drei Gehirne pro Jahr von psychiatrisch kranken Verstorbenen. Das war kaum genug Gewebe für Francines Labor, geschweige denn, um andere Labors mit Material zu versorgen.
Innerhalb weniger Monate nach Aufnahme meiner Reise- und Vortragstätigkeit begann die Anzahl zu steigen. Zurzeit werden 25 bis 30 Gehirne pro Jahr gespendet. Allerdings könnte die Wissenschaft gut 100 pro Jahr brauchen. Mir war klar, dass beim Thema »Hirnspenden« die meisten Zuhörer zusammenzuckten, wenn sie realisierten: »O Gott, sie will tatsächlich mein Gehirn!« Darauf erwiderte ich: »Ja, schon, aber keine Sorge, ich habe es nicht eilig!« Um dem Ganzen die Schärfe zu nehmen, schrieb ich einen Jingle für die Brain Bank und begann mit meiner Gitarre als Singin’ Scientist herumzureisen. [3] Wenn das Thema Hirnspenden näherrückte und die Spannung im Saal stieg, nahm ich einfach meine Gitarre und sang. Das entkrampfte die Stimmung, öffnete die Herzen, und ich konnte meine Botschaft an den Mann und die Frau bringen.
Meine Stellung bei der NAMI gab meinem Leben einen Sinn und wirkte sich auch positiv auf meine Arbeit im Labor aus. Im Rahmen meines ersten Forschungsprojekts arbeitete ich mit Francine Benes an der Sichtbarmachung dreier verschiedener Neurotransmittersysteme im gleichen Gewebeteil. Neurotransmitter sind Botenstoffe, über die die Hirnzellen miteinander kommunizieren. Die Arbeit war deshalb wichtig, weil mit den neueren antipsychotischen Medikamenten eher mehrere Neurotransmittersysteme beeinflusst werden und nicht nur eines isoliert. Indem wir drei unterschiedliche Systeme im gleichen Gewebestück sichtbar machten, konnten wir die empfindliche Wechselwirkung zwischen diesen Systemen viel besser verstehen. Dadurch wurde der Mikrokreislauf des Gehirns einleuchtender – welche Nervenzellen in welchen Bereichen des Gehirns mit welchen Mengen von welchen Botenstoffen...