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Lebensrückblick

Vollständige Ausgabe

AutorLou Andreas-Salomé
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl189 Seiten
ISBN9783849604240
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Dies ist die Autobiografie der russisch-deutschen Schriftstellerin, Erzählerin, Essayistin und Psychoanalytikerin.

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Leseprobe

 


Um zusammengefaßt zu halten, was Rußland mir früher und später gewesen ist, überschlug ich zunächst die Jahre dazwischen, die mich in Verkehr mit anderer Länder Menschen brachten. Teilweise hat es aber auch den Grund, daß die Vielfältigkeit persönlichen Verkehrs und individueller Eindrücke von den Einzelnen die Erzähllust behindert. Man fühlt sich jeden Augenblick vor die Wahl gestellt: so tief und weit auszugreifen, daß Wesentlicheres mitzuberühren ist, als am Platz wäre – oder aber im Flüchtigern der Gefahr zu verfallen, welche aus übereilten Betonungen, zufälligen Prägungen in jenes "Geschwätz über Menschen" geraten läßt, aus dem unsere weitaus meiste Urteilerei besteht. Sofern es sich um jemanden handelt, dem man wahrhaft näher trat, beschränkt sich Berichterstattung ohnehin von selbst. Denn was bedeutet Menschennähe überhaupt? Eine Zusammenkunft, die anderswohin reicht, als wir gewußt haben: eines der kostbaren Stelldicheine, die nicht mehr ganz innerhalb des exakt Feststellbaren gelegen sind. Was wirklich davon berichtbar bleibt, wird dies schon teilweise nur mittels jener indirekten Äußerungsweise, in der poetische Elemente mittätig werden: es wäre im Grunde des Wesens bereits, weil erlebt, auch schon gedichtet.

 

Darum bleibt hier das etwa erste Dutzend Jahre nach meinen Mädchentagen ohne viel Redseligkeit, obschon es mich besonders lebhaft an Menschen vorüberführte. Viele waren es, die an mir vorüberkamen, weil die damalige Zeit es so wollte; so eröffnete sich mir der Blick für manche ihrer Geschehnisse und Gestalten, während meine Vorliebe für Zurückgezogenheit sich sonst nur vom Einzelnen zum Einzelnen, wie von Zwiegespräch zu Zwiegespräch, bewegte. Nachdem wir zunächst die Junggesellenwohnung meines Mannes in Tempelhof-Berlin beibehalten, bezogen wir später dann dort ein mitten im Garten unter Ulmen gelegenes Haus, das, im Innenbau wunderschön intendiert, in Krach geraten und mit sich nicht zu Strich gekommen war, weshalb es mietweise ganz billig abgegeben wurde. Wir bewohnten fast nur das Hochparterre, so große Räume, daß sie mich an Zuhause und meine, Tanzschule erinnerten; riesige Bibliothek; zwei Zimmer wandgetäfelt nach einer breiten Terrasse hinaus, überdies mit tief eingebauten Wandschränken, so daß wir unser geringes Mobiliar nur um ganz wenige Stücke vervollständigen mußten. So hausten wir am Rande der Südstadt, mit der nur ein Kremser – winters Kremser-Schlitten – die Tempelhofer für einen Groschen mit Berlin verband; aber an solchen "Rändern" hausten in jenen Jahren auch die meisten von denen, die wir zunächst kennenlernten: unter den ersten Gerhart Hauptmann in Erkner, mit seiner Frau Marie und drei Söhnlein, Ivo, Ecke und Klaus; ebenda Arne Garborg und die reizende weizenblonde Hulda Garborg. In Friedrichshagen saßen Bruno Wille, Wilhelm Bölsche und die beiden Brüder Hart, bald einen ganzen Menschenschweif hinter sich dorthin nachziehend – die Ola Hansson-Marholm, August Strindberg und andere, mit denen man sich dann auch gelegentlich im Berliner "Schwarzen Ferkel" traf. Ich besinne mich noch auf das erste Zusammensein bei uns, auf der umblühten Terrasse und im Eßzimmer dahinter, sehe Max Halbe, noch sehr jugendlich schlank neben seiner kleinen Braut, die wie eine Psyche ausschaute, Arno Holz, Walter Leistikow, John Henry Mackay, Richard Dehmel, der sich am eigenen Namen noch ärgerte, und sonstige. "Vor Sonnenaufgang" hatte alle gesinnungsmäßig zusammengetan; im unaufhaltsam durchbrechenden Naturalismus hatte Gerhart Hauptmanns Erstling, mitten in der entfesselten Empörung, auch schon etwas von dem gebracht, womit die neue Richtung siegen sollte: den sparsamen lyrischen Einschlag, trotz des noch lehrhaften Charakters des Dramas und der den braven Bürger provozierenden Kraßheiten.

 

Während in meinen Mädchentagen gerade die bohèmegewohntern literarischen Zirkel von Paul Rée nicht ohne Absicht gemieden worden waren und wir nahezu völlig unter Wissenschaftlern verkehrten, wandte sich's jetzt um. Mich hatte Literatur als solche noch nicht sonderlich interessiert (– die Russen in anderm als literarischem Sinn –), ich war "ungebildet" in ihr, auch in der vorangegangenen Periode der Schönfärberei, gegen die nun dieser frische Krieg losbrach. Aber was hier am stärksten berührte, war das Menschliche: es war der frohe Auftrieb, die bewegte Jugend und Zuversicht, der es nichts verschlug, daß die trübseligsten und düstersten Themen sich herausnahmen, den neuen Geist zu predigen. Auch die Alten riß es hin, wie man es von Fontane weiß; auch Fritz Mauthner kapitulierte, mit dem ich oft sprach, seit wir von Tempelhof nach Schmargendorf gezogen waren, von wo ein nicht langer Waldweg zu seinem Grunewaldhaus lief. Henrik Ibsens Ruhm in Deutschland half nicht wenig mit; mich hatte mein Mann seine noch unübersetzten Werke schon aus dem Norwegischen – im Vorlesen verdeutschend – kennen gelehrt. Die beiden "Freien Bühnen" kamen auf, die eine setzte sich durch, Brahm setzte sich mit Ibsen und Hauptmann an die Spitze des immer erfolgreichern Kampfes. Maximilian Hardens – des Mitbegründers der "Freien Bühne" – langjährige Befreundung mit mir (sie währte bis in den Weltkrieg) stammte noch von dorther. Neben Gerhart wurde Dr. Carl Hauptmann, bis dahin philosophischer Anwärter, warm fürs Dramatisieren; Otto Hartleben mit seinem herzensguten Moppchen tat tüchtig mit; junge Kräfte wandten sich von ihren wissenschaftlichen Ehrgeizen ins Literarische, Politische; vieler Stunden gemeinsamer Übereinkünfte oder Debatten erinnere ich mich aus Abenden mit Eugen Kühnemann, der damals noch nicht willig schien, in die Hochschullaufbahn zu münden. Unter den mir Nahestehenden gewann für mich die stärkste menschliche Bedeutsamkeit Georg Ledebour: diese Zeilen grüßen ihn.

 

Zu der Zeit hatten wir in Schmargendorf, hart am Waldrand, schon die zweite Wohnung inne, dann eine so drollig kleine, daß sie sich lange ohne Aufwartung bewältigen ließ; dann ging ich – 1894 – nach Paris, wo gleichzeitig mit dem deutschen der nämliche literarische Umschwung sich vollzog. Es war um die Zeit von Carnots Ermordung, man nahm allerseits am Politischen teil, und ich durfte in der Kammer Millerand und Jaurès persönlich hören. Der "Freien Bühne" entsprechend kam Antoines "Théâtre libre" hoch und Lugné-Poes "Œuvre"; für Hauptmanns "Hannele", in Berlin durch Schlenthers spätere Gattin Paula Conrad kreiert, gewann Antoine ein armes, blasses kleines Mädchen von der Straße zu stürmischem Erfolg (dennoch störte die Sprache die Hauptmann-Poesie, wenn Hannele etwa für deutschen Fliederduft zu sagen hat: "je sens le parfum de lilas"). Die ergreifendste Hannele-Gestalt sah ich später in Rußland: ergreifend, weil gehalten durch naiv-byzantinische Stilisierung von Himmel und Heiland.

 

In Paris: dieselbe lebhafte Gemeinschaftlichkeit des literarischen Verkehrs, der Interessen, denen nur die ältere Generation noch abwartend entgegenstand. In der neuen Verlagsgründung, die Albert Langen mit dem Dänen Willy Grétor unternahm, lernte ich Knut Hamsun kennen, der damals aussah wie ein griechischer Gott; die skandinavische Kolonie war stark vertreten, noch ehe Albert Langen durch Einheiratung in die Björnsonfamilie selbst dazu gehörte. Anfangs wohnte ich mit einer mir befreundeten Dänin, Therese Krüger, zusammen. Mit besonders lebhafter Erinnerung gedenke ich Herman Bangs, der in Saint-Germain wohnte und, obwohl dauernd kränklich, von innen sprühen konnte; noch lebt mir fast im Wortlaut ein Gespräch mit ihm, bei dem er erschauernd schilderte, wie beängstigend ihm dichterischer Arbeitsanfang zusetze: wie er noch zwischendurch ans Fenster stürze, ob nicht draußen, hilfreich, irgendeine Abhaltung zu finden sei. Förmlich in die Augen sprang dabei die Unabweislichkeit, mit der am künstlerischen Prozeß sich Tiefstgelegenes, schon in Unbewußtheit Gedrängtes, wieder löst zu einer Verwandlung, auf der die Angst des Übergangs lastet. Wiewohl ich von Herman Bangs chronischer Rückenerkrankung wußte, konnte ich ihn hinterher nie sehen ohne die unwillkürliche Einbildung, er sei auch physisch solche Übergangsgestalt aus Geängstetem in produktive Erlösung. Wer es spürt, wie erinnerungsnah Bücher von ihm (wie "Das weiße Haus" und "Das graue Haus") aufgebaut sind, der ahnt auch die ihre Entstehung begleitenden Schrecken. –

 

Ein ganz winziger Genosse begleitete mich überall hin: ein pechschwarzes Pudelchen – ein noch kindlicher "Toutou", mir ist entfallen, von woher es mir kam. Wenn ich in später Nacht in mein Zimmer heimkehrte, erhob es sich kerzengerade aus seinem Körbchen, drin es schlief, und schaute mich mit durchdringendem Mißtrauen daraufhin an, wo ich mich derweile ohne es umgetrieben. Tags bereitete es mir Ungelegenheiten durch seine Liebhaberei für "die Äpfel, die nicht weit vom Pferde fallen" (diese prächtige Zitat-Variante stammt von einer leider "ungedruckten" Schriftstellerin). Mein Pudelchen "Toutou" rückte dann auf die Straße aus, auf der es noch, statt endloser Autos, wahrhaft blendende Equipagen gab, und rannte mir – seinen viel zu großen Apfel im gewaltig aufgerissenen viel zu kleinen Mäulchen – wie ein schwarzer Floh über die Riesenplätze und Avenuen, um ihn, in irgendeiner Ecke geschützt, zu verzehren; ich ihm nach!, aber nicht nur ich, sondern etwelche Passanten nicht selten auch, die sich mit dem ungehemmten Ausruf: "O lalà, le joli Toutou" auf ihn und, wie er zweifellos befürchtete, auf seine Beute stürzten. –

 

Fast am meisten bin ich in Paris mit Frank Wedekind zusammen gewesen. Späterhin. Denn zunächst, nachdem wir...

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