VIII - Weltweh und Himmelssehnsucht
"Wie eine Windesharfe sei deine Seele, Dichter! Der leiseste Hauch bewege sie. Und ewig müssen die Saiten schwingen im Atem des Weltwehs; denn das Weltweh ist die Wurzel der Himmelssehnsucht. Also steht deiner Lieder Wurzel begründet im Weh der Erde; doch ihren Scheitel krönet Himmelslicht." Mit diesen schönen, sein ganzes dichterisches Wesen durchleuchtenden Worten wollte Gerhart Hauptmann 1885 "Das bunte Buch" eröffnen. Wo in diesem "Bunten Buch" die "lyrische Form" allmählich von der "epischen Form" abgelöst wird, steht ein langes Gedicht, das " Die Mondbraut" heißt und den Kontrast zwischen Weltweh und Himmelssehnsucht aus der Seele des Dichters in die Seele eines phantasiebegabten Volkskindes überträgt. Ein armes, verwaistes Bettelkind, Bergliese genannt, hat unter den Fäusten und Flüchen ihres grausamen Pflegevaters bitterlich zu leiden. Er jagt sie bei Nacht aus dem Hause hinaus in Sturm und Schnee. Sie irrt über Feld. Ermattet sinkt sie beim Reisigsammeln vor einer hohen, schlanken Fichte nieder, die im Mondschein himmelan strebt. Bergliese schläft vor Müdigkeit ein. Aber sie ist mondsüchtig und "wandelt durch die Nacht". Sie klettert dem Mond entgegen zum Fichtenwipfel empor, sie will weit ersteigen, tritt in leere Luft, und –
Was dröhnte der Grund, was scholl durch die Nacht?
Mir schien es ein klagender Ton:
Sie liegt an der Föhre, sie hat es vollbracht,
Auf ewig dem Jammer entflohn.
Soweit behandelt das Gedicht einen ganz realen Vorgang, über den alltäglich "Der Bote aus dem Riesengebirge" berichten könnte. Der Dichter aber legt dem realen Vorgang ein seelisches Motiv unter. Dieses seelische Motiv ist die Sehnsucht, die ein vom Weltweh schwer belastetes Menschenkind nach dem Himmel empfindet. Je jammervoller das Dasein, desto höher und schöner die Hoffnung aufs Jenseits. Des Kindes Phantasie hält sich zunächst an das, was aus der Himmelswelt sichtbar entgegenglänzt, an den Mond:
Du Schöner am Himmel, so matt und so bleich,
Hoch, hoch in den Wipfeln, da hast du dein Reich,
Hoch, hoch in den Wipfeln der Föhren.
Mehr und mehr aber verwandelt sich den schwärmenden Sinnen des Mädchens der Mond in den himmlischen Bräutigam, neben dem der tote Vater, der hienieden als Lump galt, die tote Mutter, die hienieden als Dirne galt, auf ihr verlassenes Kind warten. Das lockt und zieht himmelwärts. Darum klettert das Kind die Fichte entlang:
"Ich grüß dich, du Schöner," so lispelt sie hold,
"Wie bist du so strahlend im Gürtel von Gold,
Ich folge dir gerne, so gerne!"
Der Mond hebt sie liebend in seinen Sichelkahn; ihrem verzückten Auge tut sich alle Herrlichkeit des Himmels auf:
Und Mütterlein steht auf der Schwelle und winkt,
Und Väterlein auch, und der Nachen – er sinkt.
Er sinkt in die duftenden Gärten.
Für Bergliese war die Erfüllung ihrer Himmelssehnsucht nur ein Traumglück. Aber nun liegt sie am Fuße der Fichte, befreit von allem Weltweh.
Mehrere Jahre später ist der Dichter auf dasselbe Motiv noch einmal zurückgekommen. Mit seiner gereiftem Bühnenkenntnis wagt er, den Vorgang auf das Theater zu bringen. Sein "Hannele" ist eine Schicksalsgefährtin der Bergliese. Vom bösen Stiefvater geplagt und geprügelt, vernimmt auch sie den Lockruf der toten Mutter, den Weckruf des himmlischen Bräutigams. Aber jener Ruf erschallt ihr nicht aus den Wipfeln des Waldes; er kommt aus den Tiefen des Wassers, in das die Mutter ihr vorangegangen ist. Und der himmlische Bräutigam erscheint ihr nicht mehr, wie der Bergliese, als unpersönliches ungreifbares Himmelslicht, sondern wie den ersten Christen in menschlich vertrauter Gestalt.
Als Gerhart Hauptmann im Spätsommer 1893 das Drama aus Schreiberhau fertig nach Berlin brachte und den Freunden vorlas, hieß es noch "Hannele Matterns Himmelfahrt". Später wurde der Titel in "Hannele" verkürzt, weil vorsichtige Hoftheater alles meiden mußten, was überfrommen Gemütern als Entweihung der Heilandsgestalt und der Heilandsgeschicke gelten könnte. Inzwischen ist man halbwegs zum Urtitel zurückgekehrt und gönnt dem "Hannele" wenigstens seine "Himmelfahrt". Nun drückt sich die Doppelwelt des Stücks, das Diesseits und das Jenseits, schon in der Überschrift aus. "Hannele" war nur das verlassene Bettelkind, das abgerissen und zerprügelt, hungrig und frierend sein fieberndes Elend endlich in den Dorfteich schleppt; war nur die Lumpenprinzessin, wie sie ihre Mitschüler schimpften, nur das störrische Mädel, wie sie die gedankenlose Exaktheit des Amtsvorstehers schilt, der etwas heller als Wehrhahn ist. "Hannele" war nur das hilflose Häuflein Menschenjammers und Weltwehs. Erst durch die "Himmelfahrt" befriedigt sich die Himmelssehnsucht, weitet sich der innere Gesichtskreis: "Millionen Sternchen" blinken nun am Firmament auf; die Stimme Gottes ruft aus den Tiefen des eiskalten Gewässers; freundliche Engel trösten im Traum; der liebe Herr Lehrer verwandelt sich in den lieben Herr Jesus, der die Kindlein zu sich kommen läßt und den Sünderinnen vergibt. Zugleich weckt in der unschuldigen Kindesbrust sein Name das erste Ahnen einer Leidenschaft. Sinnlichkeit und Seligkeit werden eins. Im sterbenden Kind erregt sich das werdende Weib. Die Himmelssehnsucht empfindet bräutlich.
Hannele liegt zuletzt verendet auf dem Strohsack des Armenhauses. Aber in der Todesstunde hat sie ihr Kinderglaube selig gemacht. Aus dem Religionsunterricht des Lehrers, aus den geistlichen Liedern, die sie im Kloster gesungen hatte, aus den Heiligenbildern der Dorfkirche, aus den Volksmärchen, die sie von der Mutter gehört hatte, war der Phantasie des träumerischen Kindes eine überirdische Welt aufgegangen. Sie sieht nun diesen Himmel offen. Ihr Herr und Heiland hält sie bei der Hand. Wie Gottvater einst die Menschheit nach seinem Bilde geschaffen hatte, so schuf sich Hannele ihre Gottheit und ihren Himmel nach den Bildern ihres eigenen Lebens. Alles was hienieden "ihren armen Blick" entzückt hatte, alles was sie entbehrt und erhofft hatte, hilft diese Herrlichkeit wie eine wunderschöne Stadt auferbauen. In ihrem Himmel wird nicht bloß gesungen und geliebkost und gebetet, sondern auch rechtschaffen gegessen und getrunken. Ihr Himmelstischlein deckt sich mit allen den guten, appetitlichen Sachen, die das darbende Kind auf Erden nur vom Hörensagen kannte. Nicht bloß "die Milch der weidenden Rinder", "das goldene Brot auf den Äckern" wird dargereicht, sondern auch der Pupursaft der Reben. Auch einen gewandten und galanten Dorfschneider gibt es im Himmelreich. Hannele wird nicht nur eine reine Seele sein, sondern auch eine schön geputzte kleine Himmelsbraut, in Seide glänzend. Das fromme Kind ist in seiner natürlichen Unschuld Weltkind geblieben: alle kleinen Lüsternheiten und Eitelkeiten des Weibes nahm es mit in seine heilige Hoffnung. Alles dreht sich allein um sie, niemand kümmert sich um sonstwen.
Die kleine Proletarierin im rauhen Gebirgsdorf empfindet nicht anders als so mancher selbstbewußte Würdenträger in der großen Welt. Wer auf ein "langes, segensreiches Leben" zurückblickt, läßt sich gerne feiern, aber sein höchster Ehrgeiz wird durch siebzigste Geburtstage und fünfzigjährige Jubiläen nicht befriedigt. Das Schicksal hat es in seiner Bosheit so gefügt, daß die höchste Ehre zugleich die letzte Ehre ist, denn dann folgen die Hofequipagen in Gala, und womöglich kommt der Kaiser in die Kirche. Wie mancher gab was drum, wenn er Zeuge seines eigenen Begräbnisses sein könnte. Das eigene Begräbnis – Hannele Mattern erlebt es im Traum.
Sterbend sieht sie sich tot. Sie sieht die zahlreiche Beteiligung von alt und jung. Sie hört die gute Nachrede, von der die Selbstmörderin sogar heilig gesprochen wird. Die kleinen Schulkameraden müssen ihr manches abbitten, und die Himmelskinder tragen ihren Leib dahin, "sanft, daß sein krankes Fleisch der Druck nicht schmerze". Sie lauscht besonders freudvoll auf, wenn die barmherzige Schwester Martha und der liebe Lehrer Gottwald, so herzerquicklich um sie trauernd, miteinander, als ob kein Drittes hörte, von ihr sprechen. Sie erkennt, daß es nun doch auf Erden eine Gerechtigkeit gibt; während sie selbst so hoch geehret wird, nimmt der Stiefvater, der sie mißhandelte, das schimpflichste Ende; denn der liebe Herr Lehrer hat es ihm endlich einmal tüchtig gesagt; so tüchtig daß sich der trunkene Bösewicht vor Schmach und Reue erhängt.
Auf der Bühne sehen wir das träumende, sterbende Kind in seiner ganzen kläglichen Existenz vor uns liegen. Wir hören ihr leibhaftiges Wehklagen, ihr Geplauder; wir hören, wie das Fieber aus ihr spricht; wir verfolgen, wie ihr kranker Zustand wechselt, wie Bewußtsein und Fieberwahn ineinander übergehen. Jede Schwankung im körperlichen Befinden der Sterbenden macht sich bemerkbar; wird der Zustand fiebriger, so kommen böse Träume; tritt etwas Ruhe ein, so tauchen lieblichere Bilder auf. Um sie her walten hilfreiche Hände. Sie verkehrt wachend mit...