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E-Book

Mein Leben

Vollständige Ausgabe

AutorPaul Deussen
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl273 Seiten
ISBN9783849609634
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Paul Deussen war ein deutscher Philosophie-Historiker und Indologe. Überdies war er Gründer der Schopenhauer-Gesellschaft und lebenslanger Freund von Friedrich Nietzsche. Deussen, der mit dem indischen Philosophen und Hindu-Heiligen Vivekananda bekannt wurde, gilt als erster westlicher Gelehrter, der das indische Denken der abendländischen Philosophie gleichwertig an die Seite stellte. Dies ist seine Autobiographie.

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Leseprobe

 


 

1864–1869.

 

Der 7. September 1864 bildet einen der größten Wendepunkte in meinem Leben. Aus den engen Klostermauern der Pforta trat ich in die weite Welt, auf die strenge Schulordnung und das auf ihr beruhende, geregelte, erfreuliche Fortschreiten folgte nun eine völlige Freiheit, in die ich mich längere Zeit nicht zu finden wußte. Meiner Mutter und ihren engen religiösen Ansichten war ich schon mehr entwachsen, als ich es ihr selbst gestehen mochte, mein Vater hat bei aller Liberalität, Jovialität und treuen Fürsorge doch niemals tiefer in unser geistiges Leben eingegriffen, und so fehlte es mir an jeder Leitung, während Nietzsche, der treue Kamerad, durch seine Gespräche und mehr noch durch sein Vorbild meine Natur nach allen Richtungen ins Unbegrenzte trieb, aber eben dadurch die Verfolgung eines festen Lebensplanes mehr verhinderte als beförderte. Nach einigen in seinem Elternhause zu Naumburg mit ihm verbrachten Wochen zogen wir beide nach dem Westen, zunächst nach Elberfeld, wo sich Ernst Schnabel als Dritter im Bunde anschloß, und dann nach einer übermütigen Reise über Königswinter und den Drachenfels gelangte das aus so verschiedenen Naturen zusammengefügte Dreigespann nach Oberdreis.

 

Am 15. Oktober feierten wir den Geburtstag meiner Mutter und zugleich den Nietzsches und stiegen dann von dem Gebirge des Westerwaldes in das Rheintal nach Neuwied hinab, von wo uns der Dampfer in wenigen Stunden nach Bonn führte.

 

Unsere erste Sorge war um eine Wohnung. Ursprünglich beabsichtigten wir, ein größeres Zimmer gemeinsam zu bewohnen, standen aber davon ab, als sich herausstellte, daß ein solcher Salon teurer als zwei einzelne Zimmer sein würde. Wir hatten aber beide Grund, unsere Mittel zu Rate zu halten. Mir konnten meine Eltern nur zwanzig Taler monatlich geben, während bei Nietzsche, der sein Erbteil von väterlicher Seite zum Studium verwendete, die Hoffnung bestand, daß er monatlich mit fünfundzwanzig Talern auskommen würde. In der Regelt war das wohl nicht möglich, und dann klagte er in Briefen an seine Mutter, daß das Geld immer so leicht weglaufe, wahrscheinlich weil es rund sei.

 

Wir mieteten also zwei einzelne »Buden«, wie der Studentenausdruck ist. Die meine lag in der Hospitalgasse, während die Nietzsches an ihrer Einmündung in die Bonngasse lag. Gegenüber ragte der Turm einer Kirche hervor, und Nietzsche besprach öfter mit mir den Plan, sich oben hoch bei dem Türmer einzumieten, um dem Lärm des Straßenlebens ferner zu sein. In Nietzsches Haus, beim Drechsler Oldag, hatten wir auch unsern Mittagstisch. Eine anmutige Verwandte des Hauses, Fräulein Mariechen, bediente uns und setzte sich öfter zu uns. Sie hatte ein rheinländisch freies, aber darum nicht ungesittetes Wesen, und es ist zu keiner nähern Beziehung zu ihr gekommen. In den nächsten Tagen ließen wir uns immatrikulieren, beide zunächst in der theologischen Fakultät. Aus ihr ging Nietzsche schon nach einem Semester, ich erst nach vier Semestern, zum Verdruß meiner Eltern, in die philosophische Fakultät über. Doch dies hing mit äußeren Verhältnissen zusammen. Unser eigentliches Studium war von vornherein klassische Philologie; Ritschl und Jahn waren die Koryphäen, die uns nach Bonn gezogen hatten. An beide, wie auch an Schaarschmidt, hatten wir von Pforta gemeinsame Empfehlungen. Wir erschienen bei Jahn. Er las den Brief und sagte treuherzig aber kurz: »Wenn ich Ihnen irgend nützlich sein kann, so wenden Sie sich nur an mich.« Wir kamen zu Ritschl, in dessen Haus ein fortwährendes Kommen und Gehen und kurzes Abfertigen der Studenten stattfand. Er riß den Brief eilfertig auf: »Ach, mein alter Freund Niese! Was macht der denn? Geht es ihm gut? Also Deussen ist Ihr Name. Nun, besuchen Sie mich recht bald wieder.« Nietzsche stand betroffen und konnte sich nicht enthalten zu bemerken, daß auch von ihm in dem Briefe die Rede sei. »Ach jawohl,« rief Ritschl, »es sind ja zwei Namen, Deussen und Nietzsche. Freut mich, freut mich. Nun, meine Herren, besuchen Sie mich recht bald wieder.« Diese Aufnahme unserer Empfehlungsbriefe war nicht sehr ermutigend, und da Schaarschmidt nicht zu Hause war, so ließen wir unsern Empfehlungsbrief bei ihm und dachten nicht weiter an die Sache. Aber Schaarschmidt ließ uns besonders zu sich entbieten. Wir fanden in ihm einen bis zur Unruhe lebhaften, beweglichen Mann und sahen uns, als wir von ihm kamen, erstaunt an. Das also ist ein Philosoph? Einen solchen hatten wir uns allerdings ganz anders gedacht. Übrigens war Schaarschmidt der einzige, der sich unser wirklich annahm. Er zog uns in seine Familie, richtete für uns ein Plato-Kränzchen ein und hatte für alle Anliegen stets ein williges Ohr. Wir hörten bei ihm Geschichte der Philosophie und über die platonische Frage, dazu bei Ritschl Miles gloriosus und bei Jahn Symposion, daneben einige Theologika, die wir jedoch als allzu langweilig bald vernachlässigten. Um diese Zeit war das neue Leben Jesu von Strauß erschienen. Nietzsche schaffte es sich an, und ich folgte seinem Beispiele. In unsern Gesprächen konnte ich nicht umhin, meine Zustimmung auszudrücken. Nietzsche erwiderte: »Die Sache hat eine ernste Konsequenz; wenn du Christus aufgibst, wirst du auch Gott aufgeben müssen.«

 

Überwiegend fühlte sich Nietzsche in diesem ersten Studienjahr von den griechischen Lyrikern angezogen. Während ich sehr viel Zeit mit dem Sanskrit vertat, wählte er immer kleine Gegenstände, zeigte sich aber in diesen sogleich produktiv. Ein Lieblingsthema war das Danaelied des Simonides, dessen kritische Behandlung ihn lange beschäftigte. Daneben arbeitete er seinen Theognis für eine Seminararbeit um, interessierte sich schon für Homer, Sokrates, Diogenes Laertius, und während es mein Bestreben damals war, die Dichter und Denker zu genießen und in ihrem Genusse auszuruhen, fand er keine Befriedigung, wo er nicht produktiv sein konnte. Inzwischen waren für uns beide Verhältnisse eingetreten, welche die wissenschaftliche Arbeit fürs erste sehr einschränken sollten. Wir hatten beide keine besondere Neigung gehabt, einer Verbindung beizutreten, aber ansehen wollten wir uns die Sache, und so hatten wir nichts dagegen einzuwenden, als Stöckert, ein ehemaliger Pförtner und jetziger Francone, uns einlud, ihn auf die Franconenkneipe zu begleiten. Hier hatten sich als Gäste außer uns beiden noch fünf weitere Pförtner eingefunden; die Stimmung war sehr animiert, und als einer der Pförtner, ich glaube es war der jetzt in Rudolstadt wirkende Haushalter, unter dem frenetischen Jubel der zirka dreißig Franconen seinen Eintritt erklärte, da folgten bald der zweite und dritte und zuletzt alle sieben Pförtner, mit Einschluß von Nietzsche und mir. Wir gingen nach Hause mit dem dämmernden Bewußtsein, daß wir uns gegen unsere Vorsätze hatten fortreißen lassen und einen Schritt getan hatten, dessen Folgen sich noch nicht übersehen ließen. In der Franconia, der an einem Abende so viele wertvolle Elemente zugefallen waren, herrschte damals ein reges burschikoses Leben, welches bei jeder Gelegenheit in Exzentrizitäten ausartete. Besonderes Wohlgefallen konnte weder Nietzsche noch ich daran finden. Die patriotischen Simpeleien hatten für uns als Kosmopoliten wenig Reiz, das zwangsweise betriebene wüste Trinken an den Kneipabenden widerte uns an. Der pedantische Unterricht, den uns in Kapiteln und Paragraphen der Fuchsmajor über die trivialsten Dinge erteilte, erschien uns lächerlich, und wenn wir fast alle Sonnabende die Vorlesungen, mochten sie auch noch so interessant sein, schwänzen mußten, um in einer abgelegenen Scheune außerhalb der Stadt zuzusehen, wie Franconen und Alemannen sich die Gesichter zerhackten, so konnten wir auch daran kein Wohlgefallen finden. Natürlich wurde der Paukboden eifrig besucht; auch Nietzsche übte sich so gut er konnte, und es gelang ihm denn auch, eine Forderung zum Duell zu erhalten. Die Art, wie er sich dabei benahm, war originell genug. »Ich ging gestern«, so erzählte er mir am folgenden Tage, »nach dem Kneipabend auf dem Markte spazieren. Ein Alemanne gesellte sich zu mir; wir hatten ein sehr animiertes Gespräch über allerlei Gegenstände der Kunst und Literatur, und beim Abschied bat ich ihn dann aufs höflichste, doch mit mir ›hängen‹ zu wollen. Er sagte zu, und nächstens werden wir miteinander losgehen.« Mit etwas bänglichen Gefühlen sah ich den Tag herannahen, an welchem unser Freund, der nicht nur wie Hamlet durch einen Lesefehler (fat für hot), sondern in Wirklichkeit etwas korpulent und dabei sehr kurzsichtig war, ein seinen Anlagen so wenig angemessenes Abenteuer bestehen sollte. Die Klingen wurden gebunden, und die scharfen Rapiere blitzten um die entblößten Köpfe. Es dauerte auch kaum drei Minuten, und es gelang dem Gegner, Nietzschen eine Tiefquart quer über den Nasenrücken zu applizieren, gerade an der Stelle, wo ein zu stark drückender Kneifer einen roten Eindruck zu hinterlassen pflegt. Das Blut tropfte zur Erde und wurde von den Sachverständigen für eine hinreichende Sühne alles Vergangenen befunden. Ich packte meinen wohlverbundenen Freund in einen Wagen, legte ihn zu Hause ins Bett, kühlte fleißig, verweigerte Besuche und Alkohol, und in zwei bis drei Tagen war unser Held wieder hergestellt bis auf eine kleine Narbe quer über dem Nasenrücken, die er zeitlebens behalten hat, und die ihm nicht übel stand. So ließen wir uns eine Zeitlang das mehr exzentrische als geistreiche Treiben unserer Verbindungsbrüder gefallen. Charakteristisch, mehr für das, was...

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