Wo ging er hin?
Tiedge sollte in den knapp zwei Jahrzehnten, die er beim BfV arbeitete, fünf Präsidenten er- und überleben. Er arbeitete in zehn verschiedenen Funktionen. In jener Zeit wechselte auch dreimal die Regierung in Bonn – 1966, 1969 und 1982. Als er in den Dienst eintrat, zählte das Bundesamt etwa 800 Mitarbeiter, als er ihn 1985 verließ waren es rund 2.500. Das Personal hatte sich also mehr als verdreifacht. Hinzu kamen zehn Landesämter für Verfassungsschutz, wo es eine vergleichbar expansive Entwicklung gab. Und nebenher existierten noch der Bundesnachrichtendienst, der Militärische Abschirmdienst (MAD), das Bundeskriminalamt, diverse private Sicherungs- und Wachdienste von Großunternehmen … »Die Bundesrepublik (ist) der einzige Staat der Welt, der über siebzehn zivile Sicherheitsdienste verfügt«, schrieb Tiedge in seinen Memoiren. »Dieses Sicherheitssystem in seiner verfassungsrechtlichen Gegebenheit darzulegen, fällt dem Juristen ebenso schwer wie dem Theologen die Erklärung der göttlichen Dreifaltigkeit. Beide wissen oder glauben zumindest zu wissen, dass und warum es so ist, sind sich aber zugleich bewusst, hiermit in der Praxis der Berufsausübung wenig anfangen zu können.«
Daran sollte man sich gelegentlich erinnern, wenn etwa auf die personelle Ausstattung des MfS verwiesen wird, welches – obgleich diese Institution doch all diese Dienste unter ihrem Dach vereinte – angeblich überbesetzt gewesen sein soll.
Auch auf dem Feld, welches Tiedge bestellte – die Spionageabwehr –, klafften wie meist Anspruch und Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland weit auseinander. Erst am 7. August 1972 beschloss der Bundestag ein Gesetz, das die Abwehr von Spionageangriffen als Aufgabe des Verfassungsschutzes benannte – obgleich der BfV dies bereits seit über zwei Jahrzehnten besorgte. Ähnlich verhielt es sich mit dem Bundesnachrichtendienst. Seit Beginn seiner Existenz (und der seines Vorgängers, der Oranisation Gehlen) spionierte er im Ausland, doch dafür gab es erst mit dem am 20. Dezember 1990 verabschiedeten »Gesetz über den Bundesnachrichtendienst« auch die politisch-gesetzliche Grundlage. Interessanterweise erst nach dem Ende der DDR, die – im Unterschied zur BRD – ihren Nachrichtendienst keineswegs im rechtsfreien Raum hatte agieren lassen. Das hätte sich für einen sozialistischen Rechtsstaat nicht gehört.
Und auch die These von der vermeintlich verdeckten Arbeitslosigkeit in der DDR – angeblich galten viele Menschen nur aus propagandistischen Gründen als berufstätig, obgleich sie nichts zu tun hatten – widerlegte der einstige Bundesbeamte Tiedge auf sehr überzeugende Weise, indem er über diesen Vorgang in der Bundesrepublik berichtete:
»Der Arbeitstag begann mit dem Öffnen des Panzerschrankes, dessen Zahlenschloss halbjährlich neu eingestellt werden musste. Ihm entnahm ich die unterschiedlichen Aktenstapel, die ich am Vorabend hineingelegt hatte, die nach Dienstschluss erledigte Post vom Vortag, getrennt nach Ein- und Ausgängen, die mit Rücksprachen, die ich beim Abteilungsleiter oder bei der Amtsleitung, also beim Präsidenten oder beim Vizepräsienten, wahrzunehmen hatte, und die Akten, die am Vortag nicht erledigt werden konnten. Ein Stapel blieb im Schrank, wie ihn wohl jeder Büromensch vor sich herschiebt, der Stapel mit den Akten, die zu bearbeiten kein Vergnügen bereitete, sei es, weil sie so kompliziert waren, sei es, weil sich irgend etwas in mir gegen die Bearbeitung sträubte. Aber oft genug habe ich erlebt, dass sich Vorgänge auf diese Weise erledigten.
Ich verteilte die Akten auf dem Aktenbock, richtete meinen Schreibtisch ein und begann, mich zunächst in die mitgebrachte Zeitung zu vertiefen. Viele Tage waren es nicht, an denen es mir gelang, ungestört den Sportteil oder den Leitartikel zu lesen. Das Telefon klingelte, man fragte mich dies, teilte mir jenes mit, Mitarbeiter kamen ins Zimmer, um Rücksprachen wahrzunehmen, mir von Befragungen zu berichten, die sie am Vortag durchgeführt hatten, oder einfach, um sich aus dem Urlaub oder nach einer Krankheit wieder zurückzumelden.«
Als Gruppenleiter hatte Tiedge vier Referate mit etwa 100 Mitarbeitern, aber kein Vorzimmer, das stand nur Abteilungsleitern zu. Das bedauerte der Verfassungsschützer sehr. »Ich hätte gern eins gehabt.«
Tiedge weiter: »Wenn sich der erste Sturm gegen zehn Uhr gelegt hatte, begann ich, mich um meine eigene Arbeit zu kümmern, in deren Mittelpunkt immer die Bewältigung der Post stand. […] Jedes Schreiben, das das BfV erreichte und auch nur entfernt mit nachrichtendienstlicher Tätigkeit für die DDR zu tun hatte, ging über meinen Schreibtisch, außerdem jeder Ausgang, außer der Alltagskorrespondenz mit den LfV. Hunderte von Seiten Papier wären da täglich zu lesen gewesen, mehr, als man auch nur entfernt zu lesen in der Lage ist.«
Gegen 12.30 Uhr begab man sich zu Tisch. Die Kantine befand sich im Erdgeschoss, die Fenster zeigten wie die in Tiedges Büro in den Hof. Das Essen wurde in verschließbaren Kübeln aus der Zentrale geliefert und kostete vier DM. Es »schmeckte nicht gut, aber eigentlich auch nicht schlecht, im Grunde genommen nach gar nichts«.
Nach der Mittagspause widmete sich Tiedge wieder der Post. »Zwischendurch führte ich Telefonate, fast ausschließlich dienstlichen Inhalts. Natürlich rief ich auch täglich zuhause an, um mich über die Ereignisse in meiner groß gewordenen Familie zu unterrichten.«
Bei den Telefonaten »ging es meist um unerledigte Korrespondenz, um fremdsprachenbedingte Missverständnisse bei Antworten oder um irgendwelche eiligen Sofortanfragen.« Wie man liest: ein wahnsinnig interessanter, aufregender Job und ganz anders als jener in einem Gericht, gegen den sich Tiedge einst so gesträubt hatte.
Anfang 1971 wies man ihm die sowjetischen Dienste zu. Und da passierte ihm 1972 eine Sache, die Abwechslung in seinen Büroalltag brachte. Ein unvergesslicher Tag. »Diesen Flug über das Siebengebirge, den Westerwald und die Ausläufer des Taunus am frühen Morgen eines klaren Sommertages, etwa zweihundert Meter ›über Grund‹, den werde ich nie vergessen. Erwachende Dörfer im ersten Sonnenlicht, in der Ferne der helle Nebel des Rheintals – vor allem aber das davonstiebende Rehwild, von den donnernden Motoren unserer ›Alouette‹ beim morgendlichen Äsen gestört, diese Bilder einer jungfräulichen, so nie wieder zu sehenden Landschaft haben sich tief in mein Gedächtnis eingegraben.«
Und was war der Anlass für diesen Hubschrauberflug, der ihn zu solch hymnischer Beschreibung trieb? Tiedge hatte »unter dem Siegel höchster Verschwiegenheit« den Auftrag erhalten, einen übergelaufenen sowjetischen Professor von Wiesbaden nach Köln zu holen. Der Historiker Michail S. Woslenski (1920–1997) hielt sich im Hause des hessischen Justizministers auf, dort nahm ihn Tiedge auch in Empfang. »Nachrichtendienstlich war er unerheblich, aber das Drumherum!«, urteilte er später.
Woslenski hatte als Dolmetscher beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und im Alliierten Kontrollrat gearbeitet, seit 1955 an der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Das Drumherum? Woslenski bekam nach seiner Flucht in der BRD das Etikett »einer der besten Kenner der inneren Verhältnisse der Sowjetunion und authentischer Kommunismus-Kritiker« aufgeklebt und wurde damit alt.
1976 kam Hansjoachim Tiedge in eine andere Abteilung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, zur Abteilung Sicherheitsüberprüfungen, im Vorjahr war er von dem scheidenden Verfassungsschutzpräsidenten Nollau zum Regierungsdirektor befördert worden, das war der Aufstieg in die Besoldungsgruppe A 15.
Die Ernennungsurkunde hatte er aus den Händen des neuen Präsidenten erhalten, das war jener vom BND zurückgekehrte Richard Meier, welchen er aus den 60er Jahren kannte. Bei der Inauguration beging er einen folgenreichen Fehler, auf den ihn ein Vorgesetzter mit einer hintersinnigen Bemerkung aufmerksam machte: »Also, Herr Tiedge, wenn Sie wider Erwarten noch einmal befördert werden sollten, ziehen Sie um Gottes willen keine Sandalen an. Der Präsident ist entsetzt.«
Tiedge entschuldigte sich in seinem Buch mit dem hochsommerlichen Wetter für seinen etwas unorthodoxen Aufzug (»hellgrauer Anzug mit weißem Hemd und hellblauer, ausgesprochen hübsch gemusterter Krawatte« und eben »Jesuslatschen, aber fast neu. Auch die Strümpfe hatten keine Löcher«). Doch damit offenbarte er nur, dass ihm der Dresscode der leitenden Beamten in der Bundesrepublik noch immer fremd war. Stattdessen beklagte er: »Mein Fauxpas hatte mich Meiers Wohlwollen gekostet.«
Nun, das schien Meier vielleicht später anders gesehen zu haben. 1979 steckte er Tiedge wieder in die Abteilung IV und setzte ihn auf die Politische Spionage der DDR an, drei Jahre später war er dort Gruppenleiter.
Die feinen Verästelungen und Windungen in den Strukturen des Bundesamtes...