Heute hat mich eine Yoga-Lehrerin, die wie eine Kreuzung aus Telefonsexdame und Poetry-Slam-Teilnehmerin redete, ganz aus der Fassung gebracht. Am Anfang der Stunde sollten wir uns vorstellen, dass wir auf einer Wolke schweben. Originalton: »Ihr ööö-ffnet euer Herz dieser Wolke, ihr schwebt, ihr erblüht und stimmt euch ein, ihr schwindet dahin, yeah, ihr schwindet dahin.«
Ich zog kurz in Erwägung, der Lehrerin den Yoga-Finger zu zeigen und mich zu verdrücken. Ich praktiziere jetzt seit gut zehn Jahren Yoga und bin mit vierunddreißig zu alt für diesen erleuchteten Schwachsinn. Für mich klingt »auf einer Wolke schweben« nicht gerade nach einer angenehmen spirituellen Erfahrung, sondern nach dem, was du zu erleben glaubst, wenn du im LSD-Rausch aus dem Flugzeug fällst. Aber ich blendete ihre honigsüße, tiefenentspannte Stimme aus und meditierte kurz darauf tatsächlich. Natürlich darüber, wie ich dieser Yoga-Lehrerin eins über die Rübe gebe, aber immerhin.
Am Ende des Kurses sollten wir in ihren Gesang einstimmen: gate, gate, paragate, parasamgate … Das, erklärte sie uns ohne dieses Yoga-Gesäusel in der Stimme, bedeute: gegangen, gegangen, weiter gegangen, ins Verborgene gegangen. Sie war jung, eine echte kleine Zuckerschnecke in ihrem schwarzgrauen Outfit. Ungefähr fünfundzwanzig. Vielleicht auch jünger. Ihre Großmutter sei kürzlich gestorben, erzählte sie, und sie hätte gerne, dass wir für sie und all die lieben Menschen chanten, die schon von uns gegangen sind. In diesem Moment verzieh ich ihr alles, ich hätte ihr am liebsten den Pullover zugeknöpft und eine Tasse Kakao gekocht. Ich sang gegangen, gegangen, weiter gegangen für ihre Lieben und für meine und für die Fünfundzwanzigjährige, die ich einmal war.
Als ich fünfundzwanzig wurde, lag der 11. September gerade gut einen Monat zurück, und man hörte immer und überall von Menschen, die von uns gegangen waren. Ich hatte drei Jobs, weil ich für meinen Umzug von Seattle nach New York sparte, und ganz gleich, wo ich war, in der Anwaltskanzlei, im Pub oder bei meinen Großeltern, um deren Rechnungen ich mich kümmerte – immer liefen die Nachrichten und immer waren sie schlecht. So viele Leute suchten nach den Überresten der Menschen, die sie liebten. So viele Bilder von Flugzeugen, die in Türme krachen, von Rauch und Asche.
Vorher hatte ich nie wirklich Angst vor dem Tod gehabt. Ich dachte, ich hätte das alles mit siebzehn für mich geklärt. Da war ich nämlich zu dem Schluss gekommen, dass man, solange man authentisch lebt, ohne Angst und Bedauern stirbt. Als Teenager schien mir alles so einfach: Wenn ich so lebte, wie mein authentisches Selbst es verlangte, dann konnte ich auf den Tod neugierig sein – er wäre ein weiteres Abenteuer, das ich zu meinen eigenen Bedingungen erleben würde.
Religion war meiner Meinung nach hinderlich für ein authentisches Leben, besonders wenn man sich nur aus einem Grund der katholischen Kirche anschließt – damit einem die eigene Mutter nicht für den Rest des Lebens den Stinkefinger zeigt. Und so verkündete ich meiner Mutter mit siebzehn, ich würde mich nicht firmen lassen. Kierkegaard habe schließlich gesagt, jeder müsse zu seinem eigenen Glauben finden, und den hätte ich nicht gefunden – und sie könne mich nicht dazu zwingen.
Das war alles schön und gut für einen Teenie, der sich insgeheim für unsterblich hielt, wie meine zahllosen Strafzettel für zu schnelles Fahren bewiesen. Aber mit fünfundzwanzig kam mir die Idee vom Tod als Abenteuer idiotisch vor. Kaltschnäuzig, herzlos und vor allem unbedarft. Der Tod war kein Abenteuer; er war ein nahes und immer gegenwärtiges Nichts. Er war der Grund, weshalb mir die Kehle eng wurde, wenn ich sah, wie mein Großvater aus seinem Stuhl aufzustehen versuchte. Er war der Grund, weshalb wir alle bei den Nachrichten die Hände vor das Gesicht schlugen.
Ich hatte vor kurzem das College abgeschlossen, nachdem ich erst mit einundzwanzig mit dem Studium angefangen hatte, weil ich nach der Schule meinem authentischen Selbst nach Europa folgen wollte. Jetzt war für den nächsten Sommer der Umzug nach New York geplant. Schon vor den Angriffen auf Manhattan hatte mich der Gedanke an New York nervös gemacht; nach ihnen erschien mir das, was eigentlich ein schwieriger, aber notwendiger Übergangsritus sein sollte, eher wie ein Flirt mit dem Tod.
Wohin ich auch blickte, überall war Tod. Mein Umzug nach New York war der Tod meines Lebens in Seattle im Kreis meiner Familie und meiner Freunde. In Anbetracht der prekären Sicherheitslage in unserem Land bedeutete ein Umzug womöglich, dass man sich nie wiedersah. Ich weiß noch, dass ich überlegte, wie lange ich wohl zu Fuß von New York nach Hause unterwegs wäre, wenn der Weltuntergang kam. Ganz schön lange. Das machte mir Kummer.
Doch selbst wenn ich mir den Kopf nicht mit paranoiden postapokalyptischen Phantasien zumüllte, war der Tod mir auf den Fersen. In New York wollten mein Freund Jonah und ich zusammenziehen, und ich wusste, was das bedeutete: Heirat, und nach der Heirat Babys. Und nach Babys kommt nur noch eins. Der Tod.
Andauernd kriegte ich Krebs. Gehirntumore, Magenkrebs, Knochenkrebs. Selbst das Nägelschneiden erinnerte mich an das Vergehen der Zeit und das Heranrücken des Todes. Jede Woche lagen diese kleinen Bumerangs aus verbrauchtem Leben im Waschbecken.
Ich maß meine Lebenszeit an meinen abgeschnittenen Fußnägeln.
»Hör auf, so zu denken«, sagte meine Schwester.
»Kann ich nicht.«
»Versuch’s. Du hast es nicht mal versucht.«
Meine Schwester Jill war schon immer die Klügste und Vernünftigste von uns vier Geschwistern gewesen. Aber sie konnte mir damals nicht beibringen, wie man im Angesicht des Todes weiterlebt. Indra konnte es.
Indra war eine Frau, eine Yoga-Lehrerin, eine Göttin. Indra brachte mir bei, auf dem Kopf zu stehen und mit dem Rauchen aufzuhören, und hob mich dann aus meinem jüdisch-christlichen Kontinent heraus, schickte mich per Flugzeug viele Kilometer weit über den gleichgültigen Ozean und setzte mich zeitgleich mit dem Beginn des Kriegs gegen den Terrorismus auf einer von Hindus bewohnten Insel mitten in einem muslimischen Archipel ab. Indra war meine erste Yoga-Lehrerin, und ich liebte sie. Ich liebte sie mit der Ambivalenz, die ich sonst nur bei Gott – und sämtlichen von mir abservierten Exfreunden – erlebte.
Indra führte mich an das Konzept der Einheit heran. Darum geht es im Hatha-Yoga: Man vereint Körper und Geist, Männliches und Weibliches, und vor allem das individuelle Selbst mit dem unteilbaren Selbst, das manche Gott nennen.
Mit siebzehn war ich stolz darauf, dass ich mich von der katholischen Kirche nicht hatte firmen lassen. Ich ging davon aus, dass alle, denen ich davon erzählte – alle vernunftbegabten Menschen dieser Welt, die nicht meine Freak-DNA hatten –, mir zustimmen würden. Ich hatte recht. Die meisten von ihnen, vor allem meine Künstlerfreunde, waren meiner Meinung. Aber meine Schauspiellehrerin sagte etwas, das ich nie vergessen habe. Sie hörte sich nach der Probe geduldig und leise lächelnd an, wie ich mit meinem fehlenden Glauben protzte. Dann sagte sie: »Es ist okay, dich von der Kirche loszusagen, wenn du jung bist. Du wirst zurückkommen, sobald jemand stirbt.«
Und es starben Menschen. Als hätte meine Schauspiellehrerin in der Kristallkugel aus der Requisite in die Zukunft geblickt, stapelten sich kurz darauf spirituelle Erfahrungsberichte auf dem Fußboden neben meinem Bett. Ich verriet niemandem, was ich las. Und auf keinen Fall hätte ich zugegeben, dass ich diese Bücher las, weil ich Gott zu finden hoffte. Ich hätte erklärt, es handele sich im Grunde um fiktionale Werke, Erlösungsgeschichten im Stil unterschiedlicher Epochen und Länder. Ich hätte nie zugegeben, dass ich sie las, weil ich das befreite Aufatmen brauchte, wenn ein Erzähler nach dem anderen aus seinem Jammertal errettet wurde.
Vielleicht hat mich das zu Indra geführt. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich im Herbst 2001 eines Abends in meinen ersten richtigen Yoga-Kurs spazierte. Ich hatte im Schauspielunterricht und in dem Fitnesscenter, in dem meine Schwester arbeitete, ab und zu Yoga gemacht und kannte die Körperhaltungen schon. Yoga-Übungen hatten mich nie besonders interessiert, aber jetzt pilgerte ich in dieses Studio, als hätte ich wie der heilige Augustinus den ganzen Tag weinend im Garten verbracht und nur darauf gewartet, dass eine körperlose Stimme mir vorsang: Schwing endlich deinen Hintern vom Liegestuhl und schwitz um des lieben Herrgotts willen endlich deine Scheiße aus.
An jenem Abend trat ich aus dem Dunst der Seattler Abenddämmerung in ein warmes, schummriges Studio. Kerzenschein spiegelte sich im Parkettfußboden. Leise, rhythmische Mönchsgesänge tönten aus einem unsichtbaren Lautsprecher, und eine unfassbar schöne Frau mit glatten, honigblonden Haaren saß absolut reglos vor einem niedrigen Altar im vorderen Teil des Raums. Sie trug flachsfarbene Baumwollhosen und ein passendes Tanktop. Sonnengebräunt, blond, groß – für solche Äußerlichkeiten hatte ich bis dahin nie geschwärmt. Es war mehr ihre Haltung, die mich anzog, still und doch...