KAPITEL EINS
WER IST HENRI BOULAD?
„Wenn du deinen Bogen der Wahrheit spannst, dann tauche die Pfeilspitzen in Honig.“
(arabische Weisheit)
Der ägyptische Jesuitenpater Henri Boulad, ein vom Geist entflammter Mystiker und zugleich intellektueller Denker westlicher Schulung, hält schuldhafte Vergangenheit für korrigierbar. Echte Reue und wahre Vergebungsakte sind kein psychologisches Thema, sondern geistiges Geschehen auf höherer Ebene und damit ein unerlässliches Element unserer individuellen Auferstehung. Nicht irgendwann, sondern „heute noch“ wird dem Verbrecher am Nachbarkreuz das Paradies versprochen. Dazu in der lebendigen Gemeinschaft mit Christus, „mit mir“, sagt er zu ihm. Schuldhafte Vergehen geistig ungeschehen machen? Ein Trost für jeden, der das versteht und annehmen kann. Pater Boulads Sehensweise hier und jenseits von Raum und Zeit und in gewisser Weise schon am Zielpunkt, wo der Mensch vollendet und „Gott alles in allem“ sein wird, erläutert dieses Buch in vielen Aspekten und Beispielen – getragen von einer unbesiegbaren geistlichen Freude.
Das Wesen der Vergebung betrifft ausnahmslos jeden von uns, aktiv oder passiv, aufgrund von Verletzungen und Schuldzuweisungen, von Gewissensplagen und Selbstanklagen oder gar Höllenängsten, oder in der bedingungslosen Liebe, die wir erfahren dürfen oder selber spenden. Ein Buch unter diesem Titel kann von diesem beliebten Autor, den wir bereits aus 14 Büchern kennen (sämtlich in Österreich verlegt), nur eine Werbeschrift für die Vollkommenheit der Gottesliebe sein, aus der niemand herausfallen kann. Seine Leserinnen und Leser wissen seit Jahren, dass das, was er sagt, auf persönlicher Erfahrung gründend, authentisch und leidenschaftlich dargebracht wird. Henri Boulad vermittelt Heilsgewissheit. Und was braucht unsere Christenwelt heute notwendiger als das? Die christlich orientierten Medien genieren sich nicht, ihn als einen „wahren Propheten unserer Zeit“ zu verkünden.
Henri Boulad ist arabischer Christ, 1931 in Alexandria geboren, wo er noch immer lebt, syrisch-libanesischer Abstammung. Seine Konfession ist griechisch-katholisch, also mit Rom uniert, sein Ritus byzantinisch. Er zelebriert die Heilige Messe in drei verschiedenen Riten: koptisch-katholisch, griechisch-katholisch und römisch-katholisch. Wenn er durch Europa tourt, seine begehrten Vorträge hält und Messen liest, dann singt er zuweilen unvermittelt einen arabischen Liedtext in fremdem Klang, oder er entlässt die Teilnehmer mit einem koptischen Segen.
Aus einer echten Levantinerfamilie des Orients stammend, sind seine Muttersprache und seine Kultur natürlich französisch. So erhielt er auch, ohne einen französischen Pass zu besitzen, hohe französische Verdienstorden (Ordre National du Mérite und Ordre des Palmes Académiques). Seine Bücher, die ich aus dem Vortragsmaterial bereite und ins Deutsche übersetze, enthalten bewusst einige französische Sprachspuren (mit Übersetzung), um dieses für ihn typische Flair zu erhalten.
Sechzehnjährig wurde Henri Boulad wie von einem geistigen Blitzstrahl getroffen – sein Berufungserlebnis! Das war so klar, dass er heute noch die Uhrzeit auf der alexandrinischen Terrasse des elterlichen Hauses abrufen kann, es war um drei Uhr nachmittags. Seit dieser Stunde änderte sich für ihn der Sonnenlauf. Alle Träume warf er über Bord und mit ihnen sein künstlerisches Talent. Ab sofort wollte er sein gesamtes künftiges Leben „Gott zur Freude im totalen Dienst am Menschen“ zur Verfügung stellen. Und bis heute gibt er sein Äußerstes, wobei weder die spirituelle Energie noch die Menschenliebe, die jeder in seiner Nähe spürt, nachlassen. Noch immer könnte er das Wort „Urlaub“ nicht einmal buchstabieren.
Ich verbürge mich für alles, was ich hier sage, da ich ihn seit über 30 Jahren kenne. Davon habe ich mehrere Jahre in seinem Land verbracht, wo mein Mann für die Weltgesundheitsorganisation tätig war. Jahre später schmunzelte ein Salzburger Bildungshausleiter, der ihn vor dem Vortrag einführte: „Frau Westenberger hat ihn in der ägyptischen Wüste entdeckt und ihn uns mitgebracht“. Aber schon bald zu Beginn dieser Entdeckung in Alexandria flüsterte mir meine dortige Freundin die unvergessenen Worte zu: „Wir müssen sein Terrain vergrößern, täglich sollte er im europäischen Fernsehen sprechen, dann wäre vieles gerettet“. Nun, es gibt die Bücher und die Vortragsreisen.
In diese lässt er sein Leben fließen, alles ist Erfahrung. Dank auch dem legendären „Bandwurm“ einer Jesuitenausbildung – 14 Jahre, die er zwar ungeduldig, aber folgsam in Beirut, Paris und Chicago absolvierte. Seine Fächer waren Theologie, Psychologie, Philosophie, Mystik und Literatur – herrliche Fächer! Der hochmobile Orden setzte ihn dann auf sehr gegensätzlichen Feldern ein, z.B. 12 Jahre als Leiter der CARITAS-EGYPT, fünf davon als Vizepräsident der CARITAS INTERNATIONALIS. Prägende Jahre! Deshalb finden wir auch in diesem vorliegenden Buch seine wiederholte Warnung vor der „infektiösen sozialen Sünde“, weltweit immer gefährlicher werdend, die er deshalb als Erbschuld klassifiziert. Er appelliert an alle Vernünftigen, die Weichen anders zu stellen, bevor es zu spät ist. Viele Jahre war er auch Direktor von drei Kairoer Jesuitenschulen mit 1.600 Schülern, 60 Prozent davon Muslime – mit nicht unkomplizierter Elternschaft.
Sein Markenzeichen als Exerzitienmeister und Vortragender zwischen Kanada, Europa und der arabischen Welt bleibt die Reisetasche mit dem Flugticket. Er liebt, ja er verehrt die Europäer und glaubt fest an ihr großes Projekt. Er kennt den Menschen. Er kennt unsere Welt. Er kennt den Islam. Er lebt mit Gott, seinem Geliebten, in zärtlicher Vertrautheit, setzt Signale für uns und sensibilisiert uns für unseren Auftrag. Und bei allen Begegnungen spüren die Menschen das Wahre, das Ehrliche, das Radikale. Dabei spricht er, fast möchte ich sagen, in der gelassenen Heiterkeit mancher Heiliger. Mit dieser Empfindung bin ich nicht allein.
Eigentlich ist dieses Buch bebildert. Es hat eine Fülle lebendiger Szenen in Kraft und Farbe. Denn das Erzählerische hat ein Orientale im Blut. Und wie oft ist von der Liebe die Rede, der Feindin des Bösen! Die Liebe vergibt, denn sie versteht, auf der geistigen Ebene zu handeln, zu opfern, und eine vergebende Person gottähnlich zu machen. Doch eines ist dieses Buch nicht – ein Studienobjekt für Theologen. Hingegen wird es mit spürbarer Hoffnung dem spirituell Suchenden und oftmals irritierten Laienchristen in die Hände gelegt. Der Stil bleibt auch im deutschen Text leicht eingängig wie wir ihn im französischen Original in freier Rede an den Mikrofonen kennen, immer im Augenkontakt mit seinem Publikum, fassbar, existenziell, temperamentvoll.
Sein Angelpunkt, sein Herzensanliegen, ist der Mensch und dessen Reifung zur Auferstehung. Es ist die Einzelperson in Gottes Hand, die sie für die Ewigkeit schützt und bereitet. Und er braucht unser Mitwirken in den Akten zwischenmenschlicher Vergebung. Reue und Versöhnung als Reinigungsvorgang auf dem gemeinsamen Weg zur Vollendung. Henri Boulad schaut in mystischer Kraft diesen Glutkern der Auferstehung in jedem von uns.
Für dieses lebenswichtige Thema der Vergebung entfaltet er diverse Ebenen. Die geheime, intime Ebene des Schuldgefühls und der stillen Reue. Die schmerzende Ebene unserer Beziehungswelt – Liebe und Ehe, Eros und Agape, Jugendarbeit. Die heroische Ebene der Feindesliebe, welche friedensstiftend vom Privaten bis ins Politische reicht. Die schwierige Ebene der amtskirchlichen Vergebungsbitten, die Papst Johannes Paul II. in Gang brachte, oder der neue ökumenische Ansatz. Die sakramentale Ebene der klassischen Beichte, aber auch eine Beichte im Zeichen des „Allgemeinen Priestertums“ (letztes Konzil) unter den Gläubigen, nicht weniger wirksam.
Und wie soll man diesen Geistlichen einordnen? Progressiv-liberal oder konservativ? Am besten in keiner Weise, er hasst für sich wie für andere Etiketten und Schubladen. Boulad hat Demut. Revolutionär ist er nicht, Tradition und Moderne mag er nicht streiten sehen, er will die Lager lieber verbinden und stärken, weil beide ihren Anteil an der Wahrheit haben. Christus, die Wahrheit selbst sammelt ein in Weisheit. Sein derzeitiger Vorgesetzter, der Provinzial im Libanon, gab ihm deshalb den Auftrag, eine Synthese des heutigen Glaubens zu verfassen – gemäß der von Papst Johannes Paul II. geforderten „Neuevangelisierung“. Aber seit Jahrzehnten schon lanciert Henri Boulad diesen Appell, denn er weiß nur zu gut, dass andere Wege in einer neuen Sprache der Lehrverkündigung gesucht und gefunden werden müssen. Wenn nötig, sogar über die Beschlüsse des letzten Konzils noch hinaus. Hinweise für eine erweiterte Handhabung der Sakramentenspendung können in diesem Buch gefunden werden.
Er sucht und ermutigt auch uns. Wir kennen ja seinen Ausruf: „Ich möchte dem Dekalog ein 11. Gebot hinzustellen – DU SOLLST...