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Kapitel 1
Sind Gott und Glaube Feinde von Verstand und Wissenschaft?
Monotheismus hasst Intelligenz.
Denn Gott liquidiert alles, was sich ihm widersetzt. Ganz besonders die Vernunft, die Intelligenz und den kritischen Geist.
Michel Onfray
Der Glaube ist ein Übel, eben weil er keine Rechtfertigung erfordert und keine Diskussion duldet.
Richard Dawkins
Diese [Dinge] aber sind geschrieben, damit ihr glaubt.
Der Apostel Johannes
Michel Onfray ist der Ansicht, dass Gott nicht tot ist. Doch die Theisten sollten nicht in verfrühten Jubel ausbrechen, denn seine Erklärung klingt so:
»Eine Fiktion stirbt nicht, eine Illusion vergeht nie und ein Kindermärchen lässt sich auch nie widerlegen. … Einen Atem, einen Wind und einen Geruch tötet man nicht, genauso wenig wie man einen Traum oder ein Verlangen tötet. Der von den Sterblichen nach ihrem überhöhten Bild von sich selbst geschaffene Gott existiert nur, um trotz der Tatsache, dass der Weg für jeden ins Nichts führt, ein Alltagsleben zu ermöglichen. Solange die Menschen sterben müssen, werden einige von ihnen diese Vorstellung nicht ertragen können und deshalb Ausflüchte erfinden. Und eine Ausflucht tötet man nicht, man bringt sie nicht um. Eher ist es die Ausflucht, die uns tötet: Denn Gott liquidiert alles, was sich ihm widersetzt. Ganz besonders die Vernunft, die Intelligenz und den kritischen Geist. Der Rest folgt als Kettenreaktion.«59
Für Onfray ist es also dieser fiktive Gott, der ein Feind des Verstandes ist. Nun mögen fiktive Götter wohl Feinde des Verstandes sein – der Gott der Bibel ist es ganz sicher nicht. Das Jesus Christus zufolge größte biblische Gebot enthält die Anweisung: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben … mit deinem ganzen Verstand.«60 Im griechischen Urtext steht hier explizit dianoia; dieses Wort unterstreicht die kritisch unterscheidende, vernünftige Funktion des Verstandes. Das sollte für uns hinlänglich belegen, dass Gott kein Feind des Verstandes ist. Immerhin ist er als Schöpfer doch verantwortlich für die Existenz des menschlichen Verstandes; die biblische Sicht besagt, dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist. Er allein ist als rationales Wesen im Bild Gottes erschaffen und zu einer Beziehung mit Gott fähig. Er allein hat die Fähigkeit erhalten, das Universum zu verstehen, in dem er lebt. Dementsprechend ist die Bibel auch alles andere als wissenschaftsfeindlich. Im Gegenteil, sie ermuntert den Menschen zu wissenschaftlicher Arbeit. Man könnte sagen, dass sie dem Menschen sogar das ursprüngliche Mandat zur Wissenschaft gab. Eine grundlegende Aufgabe in allen Wissenschaftszweigen (und überhaupt in allen intellektuellen Disziplinen) ist die Benennung und damit Klassifizierung von Dingen und Phänomenen. Jede intellektuelle Disziplin hat ihre eigene Nomenklatur. Dem Buch Genesis zufolge war es auf dem Gebiet der Biologie Gott selbst, der diesen Prozess in Gang setzte, indem er die Menschen beauftragte, die Tiere zu benennen.61 Das war der Beginn der Taxonomie. Im Lauf der Zeit erweiterte sich dies zu einer Wahrnehmung der Natur als rationale Einheit, die dem menschlichen Verstehen (zumindest teilweise) zugänglich war, denn sie war vom Verstand Gottes gestaltet worden, nach dessen Bild der menschliche Verstand erschaffen ist.
Alfred North Whitehead und andere haben darauf hingewiesen, dass es sogar starke Belege dafür gibt, dass der rasante Aufstieg der Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert eng mit der biblischen Weltsicht verbunden war. C. S. Lewis fasst es folgendermaßen zusammen: »Die Menschen wurden zu Wissenschaftlern, weil sie erwarteten, dass es in der Natur ein Gesetz gäbe; und sie erwarteten ein Gesetz in der Natur, weil sie an einen Gesetzgeber glaubten.«62 In jüngerer Zeit hat Peter Harrison, Professor für Wissenschaft und Religion an der Universität Oxford, ein beeindruckendes Plädoyer für eine Verschärfung von Whiteheads These geliefert. Er zeigt, dass es nicht nur der Theismus allgemein, sondern auch die speziellen, von den Reformatoren eingesetzten Prinzipien der Bibelauslegung waren, die einen wesentlichen Beitrag zum Aufstieg der Naturwissenschaften leisteten.63
Die Bibel lehrt, dass die Schöpfung bedingt ist – das heißt, Gott als der Schöpfer hat die Freiheit, die Welt so zu machen, wie sie ihm gefällt. Um herauszufinden, wie das Universum ist und funktioniert, müssen wir daher Beobachtungen durchführen. Wir können nicht, wie Aristoteles meinte, die Natur des Universums von abstrakten philosophischen Prinzipien ableiten. Aristoteles war der Überzeugung, dass es gewisse apriorische Prinzipien64 gibt, denen sich das Universum unterwerfen muss – eine Ansicht, die das Denken der Menschheit jahrhundertelang beherrschte. Eines dieser Prinzipien war, dass eine perfekte Bewegung kreisrund sein muss. Da Aristoteles meinte, alles jenseits des Mondes sei perfekt, folgte daraus, dass sich auch die Planeten auf Kreisbahnen bewegen. Erst als der Christ Johannes Kepler sich von dieser aristotelischen metaphysischen Einschränkung löste und die (bereits von Tycho Brahe gesammelten) astronomischen Daten über die Bewegung des Planeten Mars für sich sprechen ließ, entdeckte er, dass sich die Planeten in Wirklichkeit auf ähnlich »perfekten« Ellipsen bewegen.
Keplers Bereitschaft ist bewundernswert, den Indizien zu folgen, wohin sie auch führten, statt sich von metaphysischen Vorentscheidungen einschränken zu lassen – auch wenn diese zum gesicherten Wissen von Jahrhunderten gehörten. Doch den weltbekannten Philosophen Antony Flew traf ein regelrechter Proteststurm, als er mit der Begründung, die Komplexität des Lebens habe ihn überzeugt, seine Hinwendung zum Deismus bekannt gab. Offenbar ist das Verlassen des naturalistischen Paradigmas mit ebenso vielen Schwierigkeiten behaftet wie das Verlassen des aristotelischen Weltbildes. Der größtenteils irrationale Protest gegen Flew von Personen, deren viel gepriesener Intellekt zu einer moderateren Reaktion hätte führen sollen, belegt eindeutig, dass ein apriorischer Naturalismus intelligente Hirne wirksam daran hindern kann, den Gedanken in Betracht zu ziehen, dass einige Merkmale des Universums auf eine gestaltende Intelligenz hindeuten – auch wenn dies die logischste und naheliegendste Interpretation der vorliegenden Indizien wäre.
Wiederum war es ein Gottgläubiger, nicht ein Atheist, der die Idee hatte, die zum aktuell weitgehend anerkannten Urknall-Modell für den Ursprung des Universums führte. Georges Lemaître (1894–1966), ein belgischer Priester und Astronom, stellte die Theorie des ewigen Universums infrage, die jahrhundertelang vorgeherrscht hatte und die sogar Einstein seinerzeit vertrat (auch hier zeigte sich Aristoteles’ Einfluss). Lemaître entwarf eine geniale Anwendung von Einsteins Relativitätstheorie auf die Kosmologie, und 1927 erarbeitete er einen Vorläufer des Hubble-Gesetzes. Im Jahr 1931 legte er seine Hypothese zum »Uratom« vor, die besagte, dass das Universum an einem Tag begann, »der kein Gestern hatte«. So wie Alexander Friedman hatte auch Lemaître entdeckt, dass das Universum sich ausdehnen muss. Allerdings ging Lemaître weiter als Friedman und behauptete, dass ein schöpfungsähnliches Ereignis aufgetreten sein musste. Interessanterweise betrachtete Einstein diese Theorie mit Argwohn, da sie ihn zu sehr an die christliche Schöpfungslehre erinnerte. Diesen Argwohn teilte Sir Arthur Eddington (1882–1944), der Lemaître in Cambridge unterrichtet hatte und seine Arbeit von 1927 für eine »geniale Lösung« eines bisher ungelösten Problems der Kosmologie hielt. Der Gedanke einer Schöpfung war allerdings zu viel für Eddington: »Philosophisch betrachtet ist die Vorstellung eines Anfangs der gegenwärtigen Ordnung der Natur abstoßend … Ich würde nur zu gern ein echtes Schlupfloch daran finden.«65
Viel später – in den 1960er-Jahren – reagierte ein weiterer bekannter Naturwissenschaftler, Sir John Maddox (damaliger Herausgeber der Zeitschrift Nature), ähnlich negativ auf die Entdeckung weiterer Belege für die Urknall-Theorie. Für ihn war die Idee eines Anfangs »durch und durch inakzeptabel«, da sie indirekt einen »letztendlichen Ursprung unserer Welt« bedeutete und denjenigen, die an die biblische Schöpfungslehre glaubten, »reichlich Rechtfertigung« für ihre Überzeugungen bot.66 Es ist schon eine Ironie, dass sich im 16. Jahrhundert einige dem naturwissenschaftlichen Fortschritt widersetzten, da er den Glauben an Gott zu bedrohen schien – im 20. Jahrhundert hingegen wehrte man sich gegen naturwissenschaftliche Modelle eines Anfangs, da sie die Plausibilität eines Glaubens an Gott untermauern könnten.
Wissenschaftsfeindlichkeit steht im völligen Gegensatz zur biblischen Weltsicht, und ich lehne sie ebenso sehr ab wie die Neuen Atheisten es tun. Damit will ich nicht sagen, dass kein religiöser Mensch eine antiwissenschaftliche Einstellung hat. Leider ist das Gegenteil der Fall. Aus christlicher Sicht sind solche Ansichten unentschuldbar, und es ist beklagenswert, dass sie immer noch zu finden sind. Andererseits ist es auch bedauerlich, dass die Neuen Atheisten nicht immer so wissenschaftlich eingestellt sind, wie sie vorgeben – besonders, wenn es darum geht, den Indizien dorthin zu folgen, wohin sie führen, und ganz besonders, wenn die Befunde ihren materialistischen oder naturalistischen Vorannahmen widersprechen. Die Neuen Atheisten können ebenso wissenschaftsfeindlich...