IV. Programm
Über die griechische oder plastische Dichtkunst
§ 16
Die Griechen
Niemand klassifizieret so gern als der Mensch, besonders der deutsche. Ich werde mich im folgenden in angenommene Abteilungen fügen. Die breiteste ist die zwischen griechischer oder plastischer Poesie und zwischen neuer oder romantischer oder auch musikalischer. Drama, Epos und Lyra blühen mithin in beiden zu verschiedenen Gestalten auf. Nach der formellen Absonderung kommt die reale oder die nach dem Stoffe: entweder das Ideal herrschet im Objekte – dann ist die sogenannte ernste Poesie; – oder im Subjekt – dann wird es die komische; welche wieder in der Laune (wenigstens mir) lyrisch erscheint, in der Ironie oder Parodie episch, im Drama als beides.
Über Gegenstände, worüber unzählige Bücher geschrieben worden, darf man nicht einmal ebenso viele Zeilen sagen, sondern viel wenigere. Zehn fremde Könige erbaten und erhielten in Athen das Bürgerrecht; alle Jahrhunderte nach dessen Verfalle haben nicht zehn Dichter-Könige aufzuführen, welche darin das poetische Bürgerrecht errungen hätten. Ein solcher Unterschied setzet nicht einen Unterschied der einzelnen Menschen – denn sogar die Ausnahmen wiederholt die schaffende Natur nach Regeln –, sondern den Unterschied eines Volks voraus, das selber eine Ausnahme war, wie z.B. Otaheiti, wenn uns anders in der geringen tausendjährigen Bekanntschaft mit Völkern nicht jedes als ein Individuum erscheinen muß. Folglich schildert man mit diesem Volke zugleich dessen Poesie; und jedes nordische steht so weit hinab, daß ein Dichter daraus, der einen Griechen erreichte, ihn eben dadurch überträfe in angeborner Gabe.
Nicht bloß ewige Kinder waren die Griechen, wie sie der ägyptische Priester schalt, sondern auch ewige Jünglinge. Wenn die spätern Dichter Geschöpfe der Zeit – ja die deutschen Geschöpfe der Zeiten – sind: so sind die griechischen zugleich Geschöpfe einer Morgenzeit und eines Morgenlandes. Eine poetische Wirklichkeit warf statt der Schatten nur Licht in ihren poetischen Widerschein. Ich erwäge das begeisternde, nicht berauschende Land mit der rechten Mitte zwischen armer Steppe und erdrückender Fülle so wie zwischen Glut und Frost und zwischen ewigen Wolken und einem leeren Himmel, eine Mitte, ohne welche kein Diogenes von Sinope leben konnte; – ein Land zugleich voll Gebirge, als Scheidemauer mannigfacher Stämme und als Schutz- und Treibmauern der Freiheit und Kraft, und zugleich voll Zaubertäler als weiche Wiegen der Dichter, von welchen ein leichtes Wehen und Wogen an das süße Ionien leitet, in den schaffenden Edengarten des Dichter-Adams Homer – Ferner die klimatisch mitgegebene Mitte der Phantasie zwischen einem Normann und einem Araber, gleichsam ein stilles Sonnenfeuer zwischen Mondschein und schnellem Erdenfeuer – Die Freiheit, wo zwar der Sklave zum Arbeitfleiß und zur Handwerks-Innung und zum Brotstudium verurteilt war (indes bei uns Dichter und Weise Sklaven sind, wie bei den Römern zuerst die Sklaven jenes waren), wodurch aber eben darum der freigelassene Bürger nur für Gymnastik und Musik, d.h. für Körper- und Seelenbildung zu leben hatte – Ferner die olympischen Siege des Körpers und die des Genius waren zugleich ausgestellt und gleichzeitig und Pindar nicht berühmter als sein Gegenstand – Die Philosophie war kein Brot-, sondern ein Lebensstudium, und der Schüler alterte in den Gärten der Lehrer – Ein junger Dichtsinn, welcher, indes der spätere anderer Länder sonst von der Vorherrschaft philosophischen Scharfsinns zerfasert und entseelt wurde, bestand unverletzt und feurig vor dem alles zerschneidenden Heere von Philosophen, welche in wenigen Olympiaden die ganze transzendente Welt umsegelten34 – Das Schöne war, wie der Krieg für Vaterland, allen Ausbildungen gemein und verknüpfte alle, so wie der delphische Tempel des Musengottes alle Griechennationen – Der Mensch war inniger in den Dichter eingewebt, und dieser in jenen, und ein Äschylus gedachte auf seiner Grabschrift nur seiner kriegerischen Siege; und wiederum ein Sophokles erhielt für seine poetischen (in der Antigone) eine Feldherrnstelle35 auf Samos, und für die Feier seiner Leiche baten die Athener den belagernden Lysander um einen Waffenstillstand – Die Dichtkunst war nicht gefesselt in die Mauern einer Hauptstadt eingesargt, sondern schwebte fliegend über ganz Griechenland und verband durch das Sprechen aller griechischen Mundarten alle Ohren zu einem Herzen36 – Alle tätigen Kräfte wurden von inneren und äußeren Freiheit-Kriegen geprüft, gestärkt und von Küsten-Lagen vielfach gewandt, aber nicht, wie bei den Römern, auf Kosten der anschauenden Kräfte ausgebildet, sondern den Krieg als einen Schild, nicht wie die Römer als ein Schwert führend – Nun vollends jenen Schönheitsinn erwogen, welcher sogar die Jünglinge (nach Theophrast) in Elea in männlicher Schönheit wetteifern ließ, und der den Malern Bildsäulen, ja (in Rhodus) Tempel setzte; der Schönheitsinn ferner, welcher einen Jüngling, bloß weil er schön war, nach dem Tode in einem Tempel anbetete oder bei Lebzeiten als Priester darin aufstellte 37; und welchem das Schauspiel wichtiger als ein Feldzug, die öffentlichen Richter über ein Preisgedicht so angelegen waren als die Richter über ein Leben, und welcher den Siegeswagen eines Dichters oder Künstlers durch sein ganzes Volk rollen ließ – Ein Land, wo alles verschönert wurde, von der Kleidung bis zur Furie, so wie in heißen Ländern in Luft und Wäldern jede Gestalt, sogar das Raubtier, mit feurigen prangenden Bildungen und Farben fliegt und läuft, indes das kalte Meer unbeholfne, zahllose und doch einförmige, das Land nachäffende, graue Ungestalten trägt – Ein Land, wo in allen Gassen und Tempeln die Lyra-Saiten der Kunst wie aufgestellte Äolsharfen von selber erklangen – Nun dieses schönheittrunkne Volk noch mit einer heitern Religion in Aug' und Herz, welche Götter nicht durch Buß-, sondern durch Freudentage versöhnte und, als wäre der Tempel schon der Olymp, nur Tänze und Spiele und die Künste der Schönheit verordnete und mit ihren Festen wie mit Weinreben drei Viertel des Jahrs berauschend umschlang – Und dieses Volk, mit seinen Göttern schöner und näher befreundet als irgendeines, von seiner heroischen Vorzeit an, wo sich, wie auf einem hohen Vorgebirge stehend, seine Helden-Ahnen riesenhaft unter die Götter verloren38, bis zur Gegenwart, worin auf der von lauter Gottheiten bewohnten oder verdoppelten Natur in jedem Haine ein Gott oder sein Tempel war, und wo für alle menschliche Fragen und Wünsche, wie für jede Blume, irgendein Gott ein Mensch wurde, und wo das Irdische überall das Überirdische, aber sanft wie einen blauen Himmel über und um sich hatte – – Ist nun einmal ein Volk schon so im Leben verherrlicht und schon im Mittagschein von einem Zauberrauche umflossen, den andere Völker erst in ihrem Gedicht auftreiben: wie werden erst, müssen wir alle sagen, um solche Jünglinge, die unter Rosen und unter der Aurora wachen, die Morgenträume der Dichtkunst spielen, wenn sie darunter schlummern – wie werden die Nacht-Blumen sich in die Tag-Blumen mischen – wie werden sie das Frühlingsleben der Erde auf Dichter-Sternen wiederholen – wie werden sie sogar die Schmerzen an Freuden schlingen mit Venus-Gürteln! –
Auch die Heftigkeit, womit wir Nordleute ein solches Gemälde entwerfen und beschauen, verrät das Erstaunen der Armut. Nicht, wie die Bewohner der warmen schönen Länder, an die ewige Gleiche der Nacht und des Tages gewöhnt, d.h. des Lebens und der Poesie, ergreift uns sehr natürlich nach der längsten Nacht ein längster Tag desto stärker, und es wird uns schwer, uns für die Dürre des Lebens nicht durch die Üppigkeit des Traums zu entschädigen – sogar in Paragraphen.
§ 17
Das Plastische oder Objektive der Poesie
Vier Hauptfarben der griechischen Dichter werden von dem Rückblick auf ihr Volk gefunden und erklärt.
Die erste ist ihre Plastik oder Objektivität. Es ist bekannt, wie in den griechischen Gedichten alle Gestalten wie gehende Dädalus-Statuen voll Körper und Bewegung auf der Erde erscheinen, indes neuere Formen mehr im Himmel wie Wolken fließen, deren große, aber wogende Umrisse sich in jeder zweiten Phantasie willkürlich gestalten. Jene plastischen Formen der Dichter (vielleicht ebensooft Töchter als Mütter der wirklichen Statuen und Gemälde, denen der Dichter überall begegnete) kommen mit der Allmacht der Künstler im Nackten aus einer Quelle. Nämlich nicht die bloße Gelegenheit, das Nackte zu studieren, stellte den griechischen Künstler über den neuern – denn warum erreicht dieser jenen denn nicht in den immer nackten Gesichtern und Händen, zu welchen er, glücklicher als jener, noch dazu die idealen Formen hat, die der Grieche ihm und sich gebären mußte? –, sondern jene sinnliche Empfänglichkeit tat es, womit das Kind, der Wilde, der Landmann jeden Körper in ein viel lebendigeres Auge aufnimmt als der zerfaserte...