2. Politisches Interesse Jugendlicher
2.1 Zum Begriff ‚Interesse’
Im Allgemeinen bedeutet ‚politisches Interesse’ „Neugier, Zuwendung, Aufmerksamkeit und Wachheit gegenüber politischen Angelegenheiten“[23]. Die Übersetzung von dem lateinischen Wort ‚interesse’ heißt ‚an etwas teilnehmen/Anteilnahme’ und drückt somit im Zusammenspiel mit dem Politischen das Gleiche aus. In der Bundesrepublik Deutschland ist ein pluralistisches Staatssystem grundlegend. Deshalb möchte ich an dieser Stelle die Pluralismustheorie aufgreifen. Diese sieht in dem Nachgehen subjektiver Interessen einen essentiellen Bestandteil der menschlichen Natur und erkennt die gesellschaftliche Interessenvielfalt als Basis der Herrschaftslegitimierung an. Interessen in der pluralistischen Gesellschaft spiegeln kollektive Bedürfnisse wieder.[24] Deshalb ist es wichtig, die politischen Interessen Einzelner als Teil einer pluralistischen Gesellschaft in die Praxis umzusetzen. Das können auch die politischen Interessen einzelner Jugendlicher sein. Wie stark diese ausgeprägt sind, wird im nächsten Kapitel dargestellt.
2.2 Jugend und Politik - Ergebnisse der Shell-Studie von 2002
Die Shell-Studie ist eine traditionelle Studie der neueren Jugendforschung. Sie liefert in regelmäßigen Abständen aktuelle Ergebnisse zu den gesellschaftlich-politischen Einstellungen Jugendlicher. Die jüngste Untersuchung ist die 14. Shell-Studie von 2002. Sie liefert repräsentative Aussagen über die aktuellen Auffassungen der Jugendlichen zum politischen Interesse. Dafür wurden 2500 Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren im Frühjahr 2002 befragt.[25] Die Altersspanne ist dabei umfassender, als ich sie dieser Arbeit zugrunde gelegt habe. Die Diskrepanz ist an dieser Stelle aber nicht von Bedeutung, da das politische Interesse zunächst separat betrachtet werden soll. Die 11- bis 18-Jährigen sind in der Untersuchung zumindest einbegriffen.
Das politische Interesse hat seit 1984 (10. Shell-Studie) stetig abgenommen. Von den Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren sind nach der 14. Shell-Studie 4 % stark in-teressiert, 26 % interessiert, 40 % wenig interessiert und 30 % zeigen kein Interesse.[26] Bei den 12- bis 14-Jährigen gelten 11 % der Jugendlichen als interessiert. Bei den 22- bis 25-Jährigen sind es bereits 44 %. Es ist festzustellen, dass weniger als die Hälfte der Befragten ernsthaft (also nicht ‚wenig’) an Politik interessiert sind, wobei die älteren Jugendlichen mehr Interesse zeigen als die Jüngeren.[27]
Das Vertrauen in Institutionen erhalten lediglich die Gerichte und Polizei, welche als parteipolitisch unabhängig gelten. Ähnlich hoch ist das Vertrauen in nicht staatliche Institutionen wie beispielsweise Menschenrechts- und Umweltgruppen. Parteien, Kirchen und Unternehmerverbände werden hingegen negativ eingeschätzt.[28]
Seit den 80er Jahren hat sich die Mentalität der Jugend in ihrer Gesamtheit von einer gesellschaftskritischen Gruppe zur gesellschaftlichen Mitte verschoben. Trotzdem sind die Jugendlichen gesellschaftlich aktiv.[29] Die gesellschaftliche Aktivität findet in der Freizeit statt und ist auf soziale oder politische Ziele ausgerichtet. Dominant sind hierbei jugendbezogene Angelegenheiten, wofür etwa die Hälfte der Jugendlichen zumindest gelegentlich aktiv sind. Mit dem Alter nimmt bei Jugendlichen die Tätigkeit für übergreifende gesellschaftliche Angelegenheiten deutlich zu und die spezifisch jugendbezogene Tätigkeit ab.[30] Daraus lässt sich schließen, dass sich Jugendliche (vor allem die Jüngeren) für Politik interessieren, wenn es sie persönlich betrifft. Denn der Einsatz für eine sinnvolle Freizeitgestaltung ist der Einsatz für die eigenen Interessen bzw. die Interessen der Jugend. Was in der Shell-Studie als ‚gesellschaftliche Aktivität’ bezeichnet wird, ist nach meiner Definition bereits der Beginn von Partizipation. Nach der Deutschen Shell findet „gesellschaftliche Aktivität von Jugendlichen […] in der Freizeit statt, ist auf soziale oder politische Ziele ausgerichtet bzw. kommt anderen Menschen zugute“[31]. Sie darf trotzdem nicht mit politischem Engagement verwechselt werden.[32]
Die verbreitetsten Organisationsformen gesellschaftlicher Aktivität sind Vereine, Bildungseinrichtungen, Jugendorganisationen und Kirchen. Diese binden 76 % der nur gelegentlich aktiven Jugendlichen an sich und sogar 85 % der regelmäßig Aktiven. Dabei sind die Vereine und die Bildungseinrichtungen quantitativ am bedeutsamsten. Eine individuelle Betätigung außerhalb dieser Organisationsformen stellt für die Jugendlichen eine zusätzliche Option dar. Oft gehen die individuellen Aktivitäten mit Aktivitäten in selbst organisierten Gruppen und anderen Aktionsformen einher. Für Unternehmungen im klassischen Kontext von beispielsweise Gewerkschaften und Parteien sind Jugendliche weniger zu gewinnen, was in dem fehlenden Vertrauen in diese Organisationsformen begründet ist. Die Zugehörigkeiten zu den neueren aktiven Tätigkeiten in Bürgerinitiativen, Bürgervereinen oder Hilfsorganisationen (z. B. Greenpeace oder Amnesty International) sind in der Jugend weniger verbreitet.[33] Vermutlich sind diese Organisationen den Jugendlichen zu jugendfern bzw. inhaltlich zu weit von ihrem direkten Lebensumfeld entfernt. Themenbereiche politischen Interesses sind eher im unmittelbaren Lebensumfeld der Jugendlichen, der Kommune, zu finden. Verbesserungen im örtlichen Schwimmbad, mehr Veranstaltungen für Jugendliche, Schulhofverschönerungen, bessere Busverbindungen und mehr Freizeitmöglichkeiten für Jugendliche sind Beispiele für gewünschte kommunale Veränderungen.[34]
2.3 Politikverdrossenheit - ein Problem für die politische Bildung
Das geringe politische Interesse und die gleichzeitige gesellschaftliche Aktivität sind insbesondere in einem Phänomen begründet: der ‚Politikverdrossenheit’. Die Shell-Studie 2002 bekräftigt einen Trend der so genannten ‚Politikverdrossenheit’ unter Jugendlichen, der sich fortsetzt und teils beschleunigt. Politikverdruss darf nicht mit politischem Desinteresse verwechselt werden. Gemeint ist vielmehr eine Politik(er[35])- und Parteienverdrossenheit. Diese resultiert aus dem fehlenden Vertrauen in staatliche und parteipolitische Institutionen.[36]
Seit den 60er Jahren hat ein Wandel stattgefunden. Das Vertrauen in Politiker, Parteien und Institutionen ging zurück. Seitdem leiden neben Parteien auch Gewerkschaften, Kirchen und Jugendverbände unter Nachwuchsmangel. Meinungsumfragen ergeben regelmäßig, dass sich unter Jugendlichen nur ein geringer Anteil von Personen befindet, der sich fest an Parteien binden lässt.[37]
Das Beziehungsverhältnis Jugendlicher zu den Parteien in den letzten 25 Jahren lässt sich in der Folge von den drei Schritten: Hinwendung, Abwendung und Loslösung beschreiben. Zuerst trug die politische Mobilisierung die Jugendlichen in die Parteien hi-nein und anschließend von ihnen weg in die Richtung neuer sozialer Bewegungen. Nach deren Krise und einer gezielten Abgrenzung der Politik stagnierte das noch vorhandene Beteiligungspotenzial, bis sich in den 90er Jahren Jugend und Politik wechselseitig voneinander lösten. Letztlich ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts Vertrauen und Wohlwollen für die Parteien verloren gegangen. Diese Tatsache wurde von den Parteien sozusagen selbst verschuldet.[38] Mit dem Verlust an jungen Mitgliedern, ist in ihnen die junge Bevölkerung nicht mehr repräsentiert. Folglich fühlen sich junge Menschen von ihnen nicht angesprochen und vertreten. Das forciert den vorhandenen Politikverdruss. Politikverdrossenheit unter Jugendlichen entsteht demnach aus der „Jugendverdrossenheit der Politik“[39].
Auch wenn das Phänomen der ‚Politikverdrossenheit’ weit vorangeschritten ist, kann nicht von einer allgemeinen Politikverdrossenheit der Jugendlichen, zumindest der zwischen 10 und 16 Jahren, gesprochen werden. Hinzu kommt, dass die meisten Jugendlichen der Regierungsform und der Idee der Demokratie weitgehend zustimmen. Sie kritisieren lediglich das aktuelle Erscheinungsbild und die Umsetzung der repräsentativen Demokratie.[40]
Als Folge des Vertrauensverlustes in die Politiker werden die Partizipationsmöglichkeiten in der Kommune wenig genutzt. Gleichzeitig haben Jugendliche den Wunsch, mehr Mitsprache zu erhalten. Sie haben aber das Gefühl, dass ihre Meinung nicht gefragt ist. Durch die geringe Nutzung von Beteiligungsmöglichkeiten, fehlen Jugendlichen gute Erfahrungen mit politischer Partizipation im öffentlichen Raum, die der Politikverdrossenheit und dem geringen Interesse entgegen wirken könnten.[41] Beteiligungspotenziale werden nicht ausgeschöpft, und das, obwohl die Bedeutung von Politik für das persönliche Leben, wenn man tägliche Verhaltensweisen wie Gespräche über Politik oder ‚sich über Politik informieren’ mit einbezieht, beträchtlich ist.[42] Für das Ausmaß politischen Desinteresses gibt es viele...