4.1 Die Vorboten zur späteren Diktatur
Dr. Heinrich Brüning war der Fraktionsvorsitzende der Zentrumspartei im Reichstag.
Die 5-Parteien-Regierung unter dem SPD-Kanzler Hermann Müller war gescheitert[40]. Brüning sollte seine Nachfolge antreten, von der er selber nicht begeistert war. Er wollte nicht einer Regierung in den Rücken fallen, die er selbst getragen hatte. In seinen Augen war Müller „noch nicht amtsmüde[41]“. Die Große Koalition war seine Möglichkeit zu regieren. Dem Parlamentarismus wollte er nicht den Rücken kehren und stattdessen ein Präsidialkabinett errichten. Aber alle Vermittlungsversuche, das Kabinett Müllers zu retten, waren erfolglos[42]. Es zerbrach letztlich an einem halben Prozent Beitragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung[43]. Die Regierung war gescheitert und die SPD schied aus der Regierung aus. Deutschlands Katastrophe nahm am 27. März 1930 ihren Lauf[44].
Als der Reichspräsident v. Hindenburg den neuen Kanzler ernannte, war Brüning vorher das Kabinett beschrieben worden. Es sollte ein „Rechtsruck“ erfolgen und ohne eine Koalition mit den „Sozis“ regiert werden. Das neue Kabinett sollte antiparlamentarisch und antimarxistisch sein, wenn es nach dem Willen des Reichspräsidenten ging. Befürworter dieses Kabinetts waren der Ansicht, dass die Erreichung der „wirtschaftlichen und außenpolitischen Ziele“ nur „ohne die SPD“ möglich wäre[45]. Brüning tat sich schwer damit, die Sozialdemokraten aus den Entscheidungen herauszuhalten. Die SPD tolerierte den Brüningschen Kurs um zumindest eine „semiparlamentarische“ Rückbildung des Präsidialkabinetts zu erreichen[46]. Brüning hoffte immer auf die Zustimmung und Toleranz der SPD, was Hindenburg gar nicht gefiel[47]. Hindenburg und Schleicher hielten die Sozialdemokraten außerdem für „regierungsunfähig“, da sie Aufrüstung und die Reichswehr kritisierten[48]. Brüning hingegen wollte sich nur ungern auf Hindenburgs Notverordnungen stützen und stattdessen durch Mehrheitsbeschlüsse und Kompromisse regieren, was jedoch nicht hieß, dass Brüning zu einem „parlamentarisch-demokratischen Parteienstaat“ zurückkehren wollte[49]. Diese waren in seinem Kabinett aber schwer zu erringen. Es bestand aus Zentrum/DDP/BVP/DVP sowie allen Splitterparteien, um einer Regierung mit der SPD ausweichen zu können[50]. Außerdem äußerte Brüning Bedenken, dass der Zustrom von ausländischen Krediten absinken könne, falls die Nazis an der Macht beteiligt werden würden[51].
Brünings Kabinett war der letzte Versuch, mit einer parlamentarischen Mehrheit die Wirtschaftskrise, unter der Deutschland seit dem Ende des Ersten Weltkrieges litt, entgegen zu steuern. Sollte dies nicht möglich sein, werde auf Notverordnungen zurückgegriffen[52]. Die Notverordnungspolitik der weiteren Zeit könnte somit als temporäre, diktatorische Regierungsvariante ausgelegt werden. Das Legalitätsdenken und Handeln war durch die Aktion Brünings stark beschädigt worden. Diese lässt sich wie folgt schildern:
Brüning brachte am 16. Juli 1930 für den Haushalt eine Deckungsvorlage in den Reichstag ein, die vom Parlament abgelehnt wurde[53]. Auch die Große Koalition unter Müller scheiterte an den Finanzen des Staates. Brüning hoffte, dass ihm eine Abstimmungsniederlage erspart blieb, da er ja nicht mit der Zustimmung der SPD rechnen „durfte“. Dieses kleine Deckungsprogramm wurde auch genehmigt. Daraufhin wollte er ein größeres Projekt beschließen lassen. Da die DVP jedoch darin die Interessen der Unternehmer beeinträchtigt sah, und die SPD die Deckungsvorlage nur tolerieren würde, wenn die Bürgersteuer nicht mehr diskutiert werden würde, verlor er die Abstimmung[54].
Per Notverordnung setzte Brüning die abgelehnte Deckungsvorlage trotzdem um. Das Parlament hebt jedoch die Verordnung mittels eines Außerkraftsetzungsantrages gemäß Art. 48 Abs. 3 WV wieder auf[55].
Artikel 48
(1) Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten.
(2) Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.
(3) Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen[56].
Als Begründung hierfür gibt das Parlament an, dass „eine Notverordnung niemals ein bereits abgelehntes Gesetz ersetzen“ könne[57]. Da Brüning diese Reaktion schon erwartet hatte, verlas er dem entsetzten Reichstag die Auflösungsorder gemäß Art. 25 WV[58].
Artikel 25
(1) Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß[59].
Brüning hatte bereits damit gerechnet, dass das Parlament gegen sein Gesetz stimmen würde und hatte sich, in kluger Voraussicht, bereits vom Reichspräsidenten unterzeichnen lassen. Ab dem 26. Juli 1930 konnte Brüning seinen Willen und seine Gesetze bis zum Termin für Neuwahlen durchsetzen[60].
Brüning hatte sich zuvor mit einem Gutachten aus den Reichsinnen- und Reichsjustizministerium abgesichert, dass „keine rechtlichen Bedenken bestehen würden, Steuererhöhungen, ein Agrarsparprogramm und evt. auch die Osthilfe mit dem Art. 48 WV umzusetzen, um möglichen Aufständen in der Landwirtschaft zuvor zu kommen“[61].
Sogar in dieser Zeit war dies ein ungeheuerliches Verhalten. Die Juristen fragten sich, „ob sich [ein] Kanzler und [ein] Reichspräsident über [den ausdrücklichen Willen] des Parlamentes hinwegsetzen durften“[62].
Das Reichsgericht legte klar fest, dass der Reichspräsident eine Notverordnung sooft wiederholen könne, „ wie er sie für richtig halte“[63]. Auch das Parlament dürfe einer Notverordnung von Fall zu Fall zustimmen oder sie ablehnen. Bestätigt wurde auch, dass der Reichstag aufgelöst werden durfte „um den Willen des Kanzlers durchzusetzen“[64]. Sogar der Staatsgerichtshof konnte an den Vorgängen juristisch nichts Falsches finden. Nicht nur der Weg in eine Präsidialregierung war hierdurch geebnet worden, sondern der spätere Weg in die Diktatur durch die Nationalsozialisten wurde Frick und seinen Mitstreitern auf dem Präsentierteller gereicht.[65]
Diese erstmals von Brüning durchgeführte Prozedur hatte die Interpretation der Art. 48 und 25 WV geändert. Demnach wurde vorher interpretiert, dass in „einer parlamentslosen oder innenpolitischen gefährlichen Situation der Reichspräsident und der Kanzler – letzter als Gegenzeichnungsberechtigter nach Art. 50 WV – die Aufgaben des Parlamentes übernehmen würde, bis ein neuer Reichstag gewählt und seine Arbeit aufgenommen hat“[66].
Artikel 50
(1) Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten, auch solche auf dem Gebiete der Wehrmacht, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister. Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortung übernommen.[67]
Doch nun stellten der Reichspräsident und der Kanzler mit der Reichstagsauflösung absichtlich eine parlamentslose Zeit her, um sich über den Willen des Parlamentes hinweg zu setzen. Ab dem 18. Juli 1930 wurde nun, falls der Reichstag eine Notverordnung ablehnt, der Reichstag aufgelöst und diese erneut erlassen[68]. Es gab folglich sechzig Tage in der fast diktatorisch regiert werden konnte.
Diesen Umstand machten sich später auch Frick und Hitler zu nutze um später legal ihr „Verordnungspaket“, welches schließlich am 24.03.1933 im Ermächtigungsgesetz mündete, auf den Weg zu bringen. Alles, was ein Reichskanzler in dieser Zeit brauchte, war der Wille des Reichspräsidenten, die gewünschten und als notwendig erachteten Notverordnungen zu...