Carin Göring
Nordisches Idol und Kultfigur
21. OKTOBER 1888 – 17. OKTOBER 1931
Am 20. Juni 1934 fand im Rahmen eines Staatsaktes die feierliche Überführung des Leichnams der bereits 1931 verstorbenen Carin Göring von Schweden nach Deutschland statt. Es war ein einzigartiges Schauspiel, dessen Inszenierung der Propagandaminister Joseph Goebbels besorgte, während die Initiative dazu vom Witwer der Verstorbenen, dem preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring, ausging.
Die Bestattung der geliebten Gattin in der eigens für sie geschaffenen Gruft auf Görings Sommersitz Carinhall in der Schorfheide war dem Reichstagspräsidenten ein großes Anliegen, das er auf raffinierte Weise mit seinen politischen Plänen zu verbinden wusste. Und so war der dafür gewählte Zeitpunkt – zehn Tage vor dem »Röhmputsch«, bei dem allerdings niemand putschte, sondern die Führer der SA ermordet wurden – durchaus kein Zufall, sondern das Ergebnis eiskalter Berechnung. Göring und Goebbels benutzten das Staatsbegräbnis als geschicktes Manöver zur Ablenkung einer bereits misstrauisch gewordenen SA-Führung. Gleichzeitig lieferte die pietätvolle Bestattung der Carin Göring, die als Heldin des frühen Nationalsozialismus in deutscher Erde ruhen sollte, den plausiblen Grund für die Zusammenkunft der Akteure des Coups. Damit diente Carin Göring, die sich zu Lebzeiten für die NSDAP aufgeopfert hatte, selbst noch drei Jahre nach ihrem Tod der Partei.49
Die Überführung ihrer in einen Zinnsarg gebetteten Leiche ging unter großem Prunk, jedoch ohne Mitwirkung von Geistlichen, vor sich und erinnerte an die bei der Bestattung eines Pharaos üblichen Zeremonien. Tatsächlich dürfte Joseph Goebbels, der alles mit gewohnter Präzision abwickelte, dafür Anleihen beim Totenkult der alten Ägypter genommen haben.
Zuerst demonstrierten eine deutsche Torpedobootsbesatzung und schwedische Nationalsozialisten ihre innige Verbundenheit am offenen Grab in Lovö bei Drottningholm. Dann stand ein speziell dekorierter Sonderzug bereit, der die sterblichen Überreste der Carin Göring in einem minutiös geplanten Trauerritual von Schweden nach Deutschland brachte. In allen Orten entlang der Strecke nach Eberswald, der Bahnstation nahe dem Zielort Carinhall, herrschte Staatstrauer, wehten die Fahnen auf halbmast und läuteten die Glocken. Hitlerjugend stand Spalier, als der Zug die einzelnen Stationen durchfuhr, und unzählige Menschen erwiesen Carin Göring die letzte Ehre. Das letzte Wegstück durch die Schorfheide wurde im offenen Wagen, auf dem schwarze, mit brennenden Opferflammen versehene Obelisken den Sarg flankierten, unter dem Ehrenschutz berittener Begleitung zurückgelegt. Das Zeremoniell in Carinhall begann Punkt zwölf Uhr mit Hitlers Erscheinen. Dann trug man den mit einer Hakenkreuzfahne bedeckten Zinnsarg unter den Klängen des Trauermarsches aus Wagners »Götterdämmerung« durch ein Spalier von Soldaten in das unterirdische Mausoleum. Carins Verwandte, ausländische Diplomaten und sämtliche hochrangige Politiker des NS-Regimes gaben das Geleit. Zum Schluss stiegen Hitler und Göring noch einmal in die Gruft hinab, um von der Toten Abschied zu nehmen.50
Die »Völkische Frauenzeitung« hat im Juni 1934 des Ereignisses gedacht: »Wo immer der Nationalsozialismus, das unter seinem Banner geeinte Deutschland, der Toten seiner Bewegung gedenkt, sei auch ein Kranz des Dankes und stillen Gelobens auf Carin Görings Grab gelegt. Ein Deutschland, für das solche Frauen leben, kämpfen und sterben, muß leben. Das Leben dieser nordischen Frau sei uns ein Vorbild! Ehrfürchtig still werden wir vor so viel selbstverständlicher Treue und innerer Größe einer wahren Frau …«
Hermann Göring und seine erste Frau Carin, geborene Freiin Fock, geschiedene von Kantzow, galten als das klassische Liebespaar der NS-Ära, in der sie quasi als Widerpart zur »idealen Familie« des Dr. Goebbels eine große propagandistische Aufgabe erfüllten. Die Romanze der nordischen Göttin mit dem germanischen Fliegerhelden aus der frühen Phase der NSDAP, der sogenannten »Kampfzeit«, wurde hochstilisiert zu dem dramatischen Epos zweier Liebender, die mit heroischem Einsatz der jungen Partei als Wegbereiter dienten. Der Leidensweg des Paares im Dienste der Bewegung umfasste Verwundung, Flucht und Emigration und endete mit dem frühen Tod Carins im Jahre 1931, gerade als es »vorwärts und aufwärts ging«51, schrieb ihre Schwester, Fanny Gräfin von Wilamowitz-Moellendorf. Sie, die sich als Deutsch-Schwedin bezeichnete, hatte bereits 1933 eine Biografie ihrer jüngeren Schwester veröffentlicht.
Das Buch über die begeisterte Nationalsozialistin der ersten Stunde wurde – neben Hitlers »Mein Kampf« – zum Bestseller und erlebte zahlreiche Auflagen. Obwohl als Markt nur Hitler-Deutschland infrage kam, wurden bis 1943 mehr als 900000 Exemplare verkauft. Es wurde begierig gelesen, denn das Sujet erlaubte, mit Billigung der goebbelschen Zensur (Dr. Joseph Goebbels war seit dem 13. März 1933 Minister für Volksaufklärung und Propaganda), einen seltenen Blick in das Privatleben von Hermann Göring, einem der erfolgreichsten Jagdflieger des Ersten Weltkriegs, der zum Reichsmarschall des Großdeutschen Reichs und Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe aufgestiegen war. Fanny hat um das Leben ihrer Schwester nationalsozialistische Legenden gewoben. Doch was geschah wirklich?
Begonnen hat alles in Schweden. Ende Februar 1920 kehrte der schwedische Weltreisende Graf Eric von Rosen, der Schwager Carins, von seiner großen Expedition an den Gran Chaco nach Stockholm zurück. Dort musste er voll Unmut zur Kenntnis nehmen, dass extreme Wetterverhältnisse samt heulendem Schneesturm die Weiterreise nach seinem Wohnsitz Schloss Rockelstad verhinderten. Irritiert darüber, so knapp vor dem Ziel aufgehalten zu werden, wandte sich der reiche und exzentrische Graf an die private Fluglinie Svenska Lufttrafik A-B, um ein Flugtaxi zu chartern. Drei Piloten lehnten sein Ansinnen entrüstet ab – ein Flug unter den herrschenden Wetterbedingungen schien ihnen Selbstmord zu sein. Der Vierte jedoch, ein Deutscher, steckte in großen finanziellen Nöten, dachte nur kurz an seinen verpfändeten Wintermantel und sagte im Vertrauen auf seine großen Fähigkeiten zu.52
Dieser Hermann Göring hatte den höchsten Tapferkeitsorden Pour le Mérite erhalten und das legendäre Jagdgeschwader Manfred Freiherr von Richthofen kommandiert. Nach Kriegsende verlangten die Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages von Deutschland die Auflösung der Luftwaffe53, und da auch der private Flugverkehr strengen Restriktionen unterlag, herrschte kein Bedarf an Piloten. Somit wandte sich der im Rang eines Hauptmanns entlassene, arbeitslose Göring nach Skandinavien. Der gut aussehende, zeitgenössischen Berichten zufolge, von Frauen umschwärmte Flieger, litt noch unter der gescheiterten Verlobung mit der als Soubrette am Mainzer Stadttheater engagierten schönen Schauspielerin Käthe Dorsch, die ihn wegen des populären Schauspielers Harry Liedtke verlassen hatte.54 Er lebte in Kopenhagen mit einer verheirateten Frau zusammen, verdingte sich als Vertreter für Flugzubehör, bis ihn die Svenska Lufttrafik A-B, die Vorläuferin der SAS, als Chefpiloten einstellte. Außerdem betrieb er jenes Flugtaxi, mit dem er am 20. Februar 1920 Graf Rosen auf dessen etwa 100 km von Stockholm entferntes Schloss bringen sollte. Es war ein lebensgefährliches Abenteuer. Göring verlor im Unwetter die Orientierung. Später erzählte er oft, dass er den schrecklichsten Flug seines Lebens hinter sich hatte, als er die Maschine endlich auf dem Eis des Bavensee vor dem Schloss aufsetzen konnte. Mit seinen mächtigen Rundtürmen, den dicken Backsteinmauern und der ausgedehnten Parkanlage bietet Rockelstad heute einen wehrhaften mittelalterlichen Eindruck. Tatsächlich stammt das Hauptgebäude aus dem 17. Jahrhundert. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Millionär Graf Eric Rosen seine romantischen Ritterträume verwirklicht und das Landschloss in eine Burg im Stil der Wasa-Zeit verwandelt. Die Anlage begeisterte Göring und rief bei ihm Erinnerungen an seine eigene Kindheit wach, die er auf den Burgen Veldenstein in der Nähe von Nürnberg und Mauterndorf im Salzburger Land verbracht hatte. Veldenstein und Mauterndorf gehörten damals dem Arzt und Geliebten der Mutter Görings, Baron Dr. Epenstein. 1938 ging Veldenstein in den Besitz Hermann Görings über. Auch die mit Waffen und Rüstungen dekorierte Jagdhütte von Rockelstad war ganz nach Görings Geschmack. Das schlichte Waldhaus beschäftigte lange Zeit seine Fantasie. Schließlich ließ er es – als Geld für ihn keine Rolle mehr spielte – in gigantischer Vergrößerung in der Schorfheide als »Carinhall« nachbauen.
Als Göring am 20. Februar 1920 das Schloss betrat, brannte im offenen Kamin ein riesiges Feuer und der – später propagandistisch verwertete – Zufall wollte es, dass die schmiedeeisernen Stangen, auf denen man die Holzscheite stapelte, Swastika-Symbole trugen. Mary von Rosen, die Gattin des Weltreisenden, und ihre gleichnamige Tochter kamen zur Begrüßung herbei und hießen auch Göring freundlich willkommen.55 Während man plaudernd vor dem Kamin saß, erschien plötzlich eine junge Frau im Stiegenaufgang...