Leseprobe Stendaler Patrizier Lang ist die Ahnenreihe der Bismarcks, bis sie sich im Schatten der Vergangenheit verliert. Der Erstgenannte in diesem bislang weit über siebenhundert Namen umfassenden Stammbaum ist Herbordus de Bismarck.1 Einen Lichtstrahl ins Dunkel bringt eine Urkunde aus dem Jahr 1270, die ihn als einen der zwei Magister der Gewandschneidergilde zu Stendal ausweist. Über sein Geburtsdatum herrscht Unklarheit, als sein Todestag ist der 9. Juni 1280 angegeben. Ob die Bismarcks bereits bei der Gründung Stendals um 1160 als Ministeriale, also als dienende Adelsleute des brandenburgischen Markgrafen, in diese Stadt kamen, bleibt ungewiss; ausgeschlossen ist es nicht, dass sie zu den Burgmannen der vormaligen Burg Stendal gehörten. Diese Geschlechter der städtischen Ministerialen verloren erst allmählich die Merkmale ihrer sozialen und persönlichen Unfreiheit. Wie viele andere wuchsen die Bismarcks werkend und schachernd in die Gruppe der Händler und Patrizier hinein. Immer häufiger erscheinen sie als führende Mitglieder der Gewandschneidergilde und des Stadtrats, 1309 und 1312, erst recht in den folgenden dreißig Jahren bis 1345, ihrem merkwürdigen Schicksalsjahr, in dem sie vom brandenburgischen Markgrafen mit dem Schloss Burgstall im Süden der Altmark belehnt werden. Bald danach verjagten sie rebellierende Handwerker aus Stendal. Was bedeutete es, Mitglied der Gewandschneidergilde zu sein? In einer landesherrlichen Verfügung für Frankfurt an der Oder, die um 1287 erlassen wurde, hieß es ebenso anschaulich wie präzise: »Wer Tuch macht, soll es nie ausschneiden; wer es ausschneidet, soll nie Tuch machen.«2 Damit wurde für den östlichen Teil der Mark Brandenburg nur das übernommen, was man Jahrzehnte vorher bereits für den wesentlichen Teil des Landes, die Altmark, festgelegt hatte. Schon 1231 war den Gewandschneidern in Stendal das Alleinrecht auf Tuchschnitt und Verkauf gewährt worden. Dieses Recht beförderte ein feudales Ausbeutungsverhältnis zwischen Schneidern und Tuchmachern. Die Gewandschneider verhielten sich gegenüber den Produzenten der Ware, den Tuchmachern, fortan nämlich äußerst schroff und zwangen die Weber, ihnen einen Teil des produzierten Warenwerts zu überlassen, und sicherten sich so mit Hilfe des Verkaufsmonopols einen Gewinn, der ihnen ökonomisch gar nicht zustand. Indem sie das alleinige Recht zum Warenverkauf erhielten, wurden sie im 13. Jahrhundert endgültig zu Tuchhändlern. Die Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Tuchhändlern und Tuchmachern waren so ausgeprägt, dass sie sich ständisch-rechtlich verfestigten. Als der Stendaler Tuchmacher Arnold Portitz und sein Sohn im Jahr 1325 in die Gewandschneidergilde eintraten, mussten sie vorher ihrem Handwerk abschwören. Arnold von Portitz, der sich oft mit Rule (Rudolph) von Bismarck zusammen zeigte, wurde schon ein Jahrzehnt später Ratsherr und 1344 Aldermann der Gewandschneidergilde.3 Der robuste Kampf um Gebote und Verbote lohnte sich für die Tuchhändler, da infolge technischer Neuerungen in der Textilher- stellung (Trittwebstuhl, Walkmühle und Handspinnrad) und des steigenden Bedarfs große Gewinnchancen im Textilhandel lockten. Der außerökonomische Zwang, den die Stendaler Gewandschneider mit juristischen Mitteln ausübten, schuf ein Monopol von feudalem Zuschnitt. Es war ein vom übergeordneten Feudalherrn abgesegnetes Privileg, das die Gewinnspanne der Gewandschneider zu Lasten der Weber von vornherein garantierte und - im Großen und Ganzen - gleichsam fixierte; die Größe des Gewinns war nicht dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem Markt überlassen. In Ansätzen mochte ein solches allenfalls im Fernhandel wirksam gewesen sein. Als Groß- und Fernhändler legten die Stendaler Bismarcks - wie ihresgleichen - einen Großteil ihrer beträchtlichen Gewinne im Lehnsbesitz auf dem Lande an, was ihnen wiederum gestattete, von den Bauern Grundrenten in Form von Naturalien und Geld zu verlangen. Somit waren sie auch als Lehnbürger mit dem ökonomischen, sozialen und politischen Geflecht des Feudalismus verwoben. Um 1300 lief die etwa anderthalb Jahrhunderte währende Bewegung der Städtegründungen aus; von nun an differenzierten sich die sozialen Gruppierungen weiter und entfalteten sich oft in turbulenter Weise. Dabei entwickelte sich eine so ausgeprägte Arbeitsteilung zwischen Land und Stadt und in der Stadt selbst, dass Geld allgemeines Austauschmittel werden musste. Dennoch konnten die Ware-Geld-Beziehungen die Naturalwirtschaft noch lange nicht vollkommen zurückdrängen, geschweige denn den Feudalismus sprengen; vielmehr waren feudale Gewalten selbst Akteure in diesen Beziehungen, kämpften um Geld und manipulierten damit. Das alles schuf innerhalb des Wirrwarrs feudaler Kräftekonstellationen zusätzliche Komplikationen. Die unterprivilegierten Handwerker schufen die Werte, die privilegierten Kaufleute häuften das Geld an. Die patrizischen Kaufleute und Lehnsbesitzer personifizierten den Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft; indem sie auf der Basis der zunehmenden Arbeitsteilung die Ware-Geld-Beziehungen förderten, modifizierten sie die feudale Produktion. Das führte im 14. Jahrhundert dazu, dass der Feudalismus in ganz Europa auf diese oder jene Weise eine Krise durchmachte, keine existenzielle, aber eine der Anpassung an neue ökonomische, soziale und politische Entwicklungen. Die überfälligen Umschichtungen in und zwischen den Machtpositionen der verschiedenen Gewalten, von denen keine mehr hinreichend selbstsicher und gesichert war, vollzogen sich oft genug in turbulenten Kämpfen. Sichtbarster Ausdruck der allgemeinen, alles durchdringenden Krise war der erneut ausbrechende Kampf zwischen Papst und Kaiser, also zwischen den alten, teils realen, teils fiktiven Universalgewalten, aber auch zwischen diesen und den neu heraufkommenden Zentralgewalten in den Ländern Europas. Der Fortschritt ruhte ökonomisch auf der städtisch-gewerblichen Produktion im Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft, politisch zeigte er sich im Drang zur Beherrschung der feudalen Zersplitterung durch königliche oder fürstliche Zentralisation. Mit der Krise, die in Deutschland und ganz Europa immer größere Dimensionen annahm und bedrohliche Verwicklungen heraufbeschwor, hatten auch Patrizier wie die Stendaler Bismarcks fertig zu werden; sie konnten sich nicht darauf beschränken, die feudale Herrschaft nur in ihrer Stadt und ihren Lehnsbesitzungen auszuüben, so unumgänglich dies für die Mehrung ihres Reichtums und für die Verteidigung ihres Patriziats war. Unweigerlich wurden sie in die altmärkisch-brandenburgische, ja sogar in die Reichspolitik hineingezogen. Das begann mit dem Aussterben der askanischen Dynastie in der Mark Brandenburg. Woldemar, der letzte Markgraf des askanisch-brandenburgischen Hauses, hinterließ bei seinem Tod 1319 ein innerlich zersetztes Herrschaftssystem. Jene Vergangenheit der Askanier, die als ruhmwürdig galt, war längst dahin. Die lieben Nachbarn und feudalen Herrschaftsbrüder aus Sachsen-Wittenberg, Mecklenburg, Pommern, Schlesien und Böhmen nutzten die vorübergehende Herren- losigkeit und andauernde Schwäche in der Mark Brandenburg aus, um Herrschaftsrechte in diesen oder jenen Gebieten, etwa in der Prignitz, der Uckermark und der Neumark, an sich zu reißen; auch die Altmark mit Stendal, ihrer wichtigsten Stadt, war Objekt der Begehrlichkeit freundnachbarlicher Feudalherren. Unter diesen Umständen war es so ruchlos auch wieder nicht, dass der König und bald auch zum Kaiser gekrönte Ludwig der Bayer die Markgrafschaft Brandenburg im Jahre 1323 zum erledigten Reichslehen erklärte und seinem damals allerdings erst siebenjährigen gleichnamigen Sohn übertrug, der solchermaßen Markgraf Ludwig der Brandenburger wurde, später Ludwig der Älteste genannt. Als oberster Lehnsherr dieses Territoriums hatte er die Aufgabe, die zentrifugalen Kräfte, die dem Feudalismus eigen sind, zusammenzuhalten. Aber der junge, noch unter Vormundschaft stehende Markgraf war noch gar nicht Herr des ihm von Reichs wegen überantworteten Gebietes, und die lehnsrechtlichen Besitzverhältnisse waren derart verworren, dass bei den nach 1323 anhebenden Verhandlungen, Vertragsabschlüssen und Vertragsbrüchen die sich streitenden, versöhnenden und erneut streitenden Parteien immer wieder mit Fiktionen, ja ausgemachten Schwindeleien arbeiteten. All diese Auseinandersetzungen beschränkten sich nicht auf die Mark Brandenburg, vielmehr war sie mit der Altmark nun tief in die unmittelbare Reichspolitik verwickelt. Ludwig der Bayer, der Wittelsbacher, der seinen Gegenkönig, den Habsburger, 1322 bezwungen und gefangen genommen hatte, weigerte sich nämlich, um die päpstliche Bestätigung seiner Königswürde nachzusuchen, und er kam auch nicht der Aufforderung des Papstes nach, die Vergabe der Mark Brandenburg an seinen Sohn Ludwig den Brandenburger rückgängig zu machen. Jetzt folgten Schlag und Gegenschlag: Papst Johannes XXII. verhängte über den selbstherrlich auftretenden König Ludwig den Kirchenbann. Dieser antwortete mit der bald berühmten Sachsenhäuser Appellation von 1324, worin er den Papst der Ketzerei beschuldigte und ein allgemeines Konzil forderte. Es blieb nicht bei diplomatischen Noten und Proklamationen von allerhöchster Seite. Was an Spannung im Volk latent vorhanden war, brach allenthalben aus, manchmal mit programmatischem Bewusstsein, da und dort geradezu in mörderischen Formen. Man tötete papsttreue Kleriker in Basel und Berlin. 1324 wurde der Propst Nikolaus von Bernau gejagt, niedergeschlagen und verbrannt. Ein Jahr später brachten die der Altmark benachbarten Magdeburger ihren seit langem verhassten Erzbischof Burchard um, was König Ludwig insofern gelegen kam, als zwischen ihm und dem Erzstift die Lehnsrechte über altmärkische Städte strittig waren. Wie allen politischen und ideologischen Bewegungen großen Stils lagen der antikurialen Bewegung der zwei Jahrzehnte von 1325 bis 1345 handfeste Interessen recht unterschiedlichen moralischen Gewichts zugrunde. In dem Aufruhr, der die Reformationszeit des 16. Jahrhunderts - wie wir heute übersehen - ankündigte, vermengten sich Altruismus und Egoismus, Weitsicht und Borniertheit, Ruhe der Betrachtung und emotionale Unbeherrschtheit. Unterstützt von der ersten Welle der Opposition gegen die Kurie in und um Deutschland, zog König Ludwig nach Rom und folgte damit dem Vorbild vieler deutscher Kaiser und Könige, die dies ebenfalls getan hatten; manches machte dabei den Eindruck, als wolle man unbedingt Gespenster wecken. Im Januar 1328 ließ Ludwig sich in der heiligen Stadt im Namen des Volkes zum Kaiser krönen. Auf die Bestrebungen der Könige und Fürsten nach staatlicher Zentralisation und damit auch Unabhängigkeit reagierte der Papst mit seiner Kurie sensibel und zugleich maßlos. Das Papsttum übersteigerte seine Weltherrschaftsansprüche materiell und moralisch derart, dass die Abwehrbewegung in Frankreich, England und Deutschland die Tendenzen zu nationaler Unabhängigkeit und Zentralisation verstärkte. Sichtbarster Ausdruck für den Sieg des französischen Königs über den Papst war die Verlegung der Kurie von Rom nach Avignon, wo die Päpste, durch die französische Krone ebenso kontrolliert wie politisch benutzt, von 1309 bis 1377 residierten. Auch in England führte der antikuriale Kampf innerhalb weniger Jahre zur weitgehenden Unabhängigkeit vom Papsttum. In Deutschland hingegen tobte über drei Jahrzehnte die Auseinandersetzung zwischen Kaiser- und Königtum, repräsentiert durch den Wittelsbacher Ludwig den Bayern, und dem trotz oder wegen seiner »babylonischen« Gefangenschaft gefährlichen Papsttum. Bedeutendster Gegenspieler Ludwigs war Johannes XXII., einer jener avignonesischen Päpste, die sich den ökonomischen Wandlungen am besten anpassten und das kuriale Finanz-, Besteuerungs- und Verwaltungssystem vollendeten. Der Machtkampf zwischen den beiden höchsten Feudalgewalten, deren supranationale Ansprüche schon recht fragwürdig geworden waren und gerade deshalb, insbesondere von Seiten der Kurie, recht militant vorgetragen wurden, berührte in Deutschland die Interessen der Kurfürsten, der Fürsten, des Hochadels überhaupt, aber auch die der verschiedenen Schichten in den Städten. Sollten sie sich alle der Papstkirche, die sich wie keine andere Institution des Spätmittelalters zentralisierte und damit alle Bereiche von Gesellschaft und Staat mehr denn je zu klerikalisieren versuchte, unterwerfen? Sollten sie sich auch noch steuerlich von ihr ausbeuten lassen? Inwieweit galt es, Kaiser und König zu verteidigen? Müsste seine Macht, indem sich die des Papstes schwächte, gestärkt werden? Auf diese Fragen gaben die einzelnen Klassenfraktionen, deren Interessenlagen je nach Stadt und Territorium wechseln konnten, in Wort und Tat verschiedene Antworten. Vordringlich schien jedoch allen die Abwehr der päpstlich-klerikalen Machtansprüche und deren materielle Auswirkungen. Die antikuriale und antiklerikale Bewegung wühlte vor allem Süd-, Südwest- und Westdeutschland auf, doch auch die Altmark wurde in den Strudel der Ereignisse hineingerissen. Zunächst standen in der nordöstlichen Ecke des damaligen Deutschland die dynastischen Interessen der Wittelsbacher im Vordergrund des Parteienstreits - für oder wider den Kaiser, für oder wider den Kaisersohn, den Markgrafen Ludwig der Brandenburger, für oder wider den Papst. Wie der kaiserliche Vater wurde auch der markgräfliche Sohn Ludwig mit dem päpstlichen Bann belegt. Mag sein, dass die kirchliche Ächtung es dem jungen Ludwig erschwert hat, die Mark Brandenburg mit ihren unzähligen, recht unterschiedlichen, häufig auch noch umstrittenen Lehnsrechten und -verpflichtungen in Provinzen, Städten, Flecken und Dörfern in Besitz zu nehmen. Wo es gelang, geschah es in Form von allerlei Treueversprechen und Huldigungen. In der Altmark, dem ältesten Teil der Mark Brandenburg mit den Städten wie Stendal, Tangermünde und Salzwedel, stieß Markgraf Ludwig auf besondere Schwierigkeiten, denn dort machten benachbarte Feudalherren oberste Lehnsrechte für diese Provinz geltend. Es bildete sich schließlich ein um die Oberherrschaft über die Altmark konkurrierendes Trio aus dem Herzog Otto von Braunschweig, dem Erzbischof von Magdeburg und dem Markgrafen Ludwig. Das Wechselspiel aus lauernder Freundschaft und offener Feindschaft unter den drei hohen Herren zog sich bis 1343 hin, als schließlich der Kaisersohn über den Braunschweiger Herzog den Sieg davontrug. Die Patrizier Stendals mussten während dieses zwanzigjährigen Wechselspiels recht umsichtig lavieren, konnten aber auch profitieren, indem sie sich für die zumeist finanzielle Unterstützung der einen oder anderen Partei etwa Zollerhebungsrechte zu Pfandlehen übertragen ließen. Rudolph von Bismarck (um 1280 - nach 1340) war schon 1325 beim Zustandekommen eines solchen Vertrags federführend. Damals gingen Stadtbevollmächtigte im Herbst desselben Jahres zum König Ludwig nach Nürnberg, der »den weisen Männern, seinen lieben getreuen Bürgern in Stendal« die Befugnis zur Zollerhebung bestätigte.4 Die Söhne des Rudolph von Bismarck sollten dann Ende der dreißiger Jahre in dem immer noch währenden Streit um feudale Herrschaftsrechte in der Altmark ebenfalls Geschäft und Politik miteinander verquicken und dabei Macht und Reichtum der Familie mehren. Während dieser Rudolph von Bismarck, der alte Herr, seinen Junioren die macht- und geldträchtigen Geschäfte überließ, bestand er in seinen letzten Lebensjahren einen Kulturkampf, der einige für jene Zeit typische Züge aufwies. Die Patrizier, zwar noch im Feudalismus verhaftet, aber schon den Groß- und Fernhandel in Richtung eines noch fernen Kapitalismus entwickelnd, mussten danach trachten, sich eine höhere geistige Bildung anzueignen und die Ausbildung und Erziehung ihrer Nachkommen unter die eigene Kontrolle zu bringen, sie also den Klerikalen zu entziehen. Von solch ketzerischem Verlangen waren die Ratsfamilien in den Städten Deutschlands, ob im Norden oder Süden, schon seit längerer Zeit getrieben. Gegen das Schul- und Bildungsmonopol des Klerus, der Dom-, Kloster- und Pfarrschulen beherrschte, kämpften nachweisbar und mit Erfolg die Stadträte in Lübeck und Hamburg, in Helmstedt und Wismar, in Dortmund und Esslingen, in Ulm und Freiburg im Breisgau; dort wurden städtische Schulen, die dem Rat unterstellt waren, eingerichtet - allerdings zu Nutz und Frommen ausschließlich der Oberschicht. Auch in Stendal erwies sich die Domschule von St. Nicolai, die allein darauf ausgerichtet war, kirchliche Bildung zu vermitteln, als unfähig, das junge Patriziergeschlecht auf das kaufmännische Leben vorzubereiten - und das in einer Stadt, die sich durch blühendes Gewerbe und ausgedehnten Fernhandel auszeichnete. Im Jahre 1338, als die antikuriale Bewegung in Deutschland ihren Höhepunkt erreichte und der Widerstand sich in einer Reihe von antipäpstlichen Tagungen der Reichsstände (Kurfürsten, Städte, einige Erzbischöfe) zeigte, war die Zeit reif, eine städtische Schulanstalt ins Leben zu rufen, was der von den Patriziern beherrschte Stadtrat Stendals denn auch beschloss. Um mit dem Bau des Schulhauses sofort beginnen zu können, gewann er durch Aufträge auch einige Meister von Handwerkerinnungen für das Vorhaben, die auf diese Weise in der umstrittenen Frage Verbündete der Patrizier wurden. Die Geistlichkeit, deren Monopol auf Bildung und Schulung dermaßen entschlossen angegriffen wurde, ging zur Gegenoffensive über. Der Stendaler Dompropst von St. Nicolai bemühte den Diözesanbischof zu Halberstadt, der unter Androhung der Exkommunikation die Ratsherren und Gildemeister Stendals zum Rückzug zu zwingen suchte. Als dies nichts fruchtete, wurden die Geistlichen angewiesen, die Ungehorsamen jeden Sonntag in den Kirchen der Stadt laut und vernehmlich bei brennenden Kerzen und unter Glockengeläut als außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft stehend zu verdammen. Den Gildemeistern und der gesamten Bürgerschaft untersagte man, Kirchen und geweihte Orte zu betreten. Das war ein Interdikt, eine Untersagung, die es in sich hatte. Anders als die Exkommunikation, die sich gegen Personen richtete, war dies eine Art kirchlicher Ausnahmezustand, der in ganzen Regionen, zumindest in den Städten, das sonst so pulsierende kirchliche Leben erheblich störte. Ob das im Namen des Papstes jeweils erklärte Interdikt befolgt werden sollte oder nicht - diese Streitfrage beunruhigte das Gewissen und erhitzte die Gemüter. Der Parteienstreit zog auch Handel und Verkehr in Mitleidenschaft. Wenn das geschah, mussten sich die Patrizier gegenüber den rein weltlichpolitischen Rechtsansprüchen der päpstlichen Kurie und ihrer klerikalen Parteigänger erst recht behaupten. Wir können die Stendaler Patrizier nur nach ihren Taten, ihren Interessen und Konnexionen beurteilen; danach mussten sie eine Suprematie der Kirche über staatliche Organe ablehnen. Auch wenn es nicht ihre Sache war, ein staatspolitisches Werk wie »Defensor Pacis« (Verteidiger des Friedens) des Marsilius von Padua, der am Hofe Ludwigs von Bayern wirkte, zu studieren, so war ihnen dessen Kampf gegen kuriale und klerikale Machtansprüche wohl in groben Umrissen bekannt und durchaus genehm. Gegen diese Machtansprüche begehrten sie auf, diese wünschten sie zu beseitigen, mehr allerdings wollten die großen Ratsherren der hierarchisch strukturierten Kirche nicht antun; ihre Mittlerrolle zwischen dem lieben Gott und den von allerlei Mühsal beladenen Menschen leugneten sie nicht, wie das die Mystiker von der Statur eines Meister Eckhart in jenen Jahrzehnten taten. Sie wollten die Kirche durchaus im Dorfe - und in der Stadt - lassen, der Kirche geben, was der Kirche ist. Schon 1288, genau ein halbes Jahrhundert vor dem Schulstreit, hatte die Gilde der Gewandschneider der Marienkirche zu Stendal einen Altar gestiftet, dessen Priester, der kein Nebenamt übernehmen durfte und deshalb Altarist hieß, verpflichtet war, jeden Sonntag und außerdem zweimal in der Woche Seelenmesse zu halten. Da es aber nicht allein um das Seelenheil der Verstorbenen, sondern auch um die Huldigung für die Lebenden ging, musste der Altarist des Sonntags auch der Wohltäter der Altarstiftung gedenken. Einmal im Jahr sollte das alles in besonders feierlicher Form vonstatten- gehen - unter Assistenz eines zweiten Geistlichen und mit vier Chorschülern, bei glänzender Erleuchtung, mit Vesper, Vigilien und Frühmessen. An der genossenschaftlichen Altarstiftung mit all dem seelen- tröstenden und -erhebenden Drum und Dran dachten die Gewandschneider nicht im mindesten zu rütteln; sie stifteten sogar einen weiteren Altar, als 1341 die städtische Schule von der Kirche schließlich doch abgesegnet wurde. Die patrizischen Kaufleute wollten mit ihrer Schulgründung nur einen pädagogischen Freiraum schaffen, sonst blieben sie mit der allein selig machenden Kirche durchaus verbunden. Der Stendaler Schulstreit zog sich drei Jahre hin, weil jede der beiden Seiten, Domstift und Stadtrat, sich innerhalb der gegebenen Machtkonstellation einige Siegeschancen ausrechnen konnte. In der Stadt selbst schürte ein Heer von etwa hundert Geistlichen mit klerikalem Eifer die Missstimmung und Gewissensunruhe der niederen Bürgerschaft. Unschuldig waren sie nicht, diese Herren Patrizier, wenn es den klerikalen Dunkelmännern gelang, beträchtliche Teile des Stendaler Stadtvolks auf ihre Seite zu ziehen. Jahrzehntelang schon rumorte da Unmut über das angemaßte Recht des ausschließlich aus reichen Familien kommenden Rats, sich nach Gutdünken aus den eigenen Reihen zu ergänzen, auch über das offensichtliche Unrecht, dass die Patrizier, die außerhalb der Stadt Lehnsgüter besaßen, bei städtischen Vermögenssteuern nur noch die Hälfte bezahlen mussten. Aus Anlass des Schulstreits brach sich die angestaute Unzufriedenheit der Bürger gegen die selbstherrlichen Geld- und Machtprofiteure im Stadtrat Bahn, die sich zudem der Fehden rittermäßiger Adliger vom flachen Lande zu erwehren hatten. Trotz aller Wirren innerhalb und außerhalb der Mauern Stendals blieb der patrizische Stadtrat in der Schulfrage unbeugsam, weil er wohl auf den Sieg der antikurialen Bewegung setzte, der sich im Sommer 1338 beim Kurverein zu Rhens manifestierte. Dort beschlossen die versammelten Kurfürsten, dass ein von ihnen oder der Mehrheit von ihnen gewählter König keiner Bestätigung durch den päpstlichen Stuhl bedürfe. Damit war - ein für allemal - der Anspruch des Papstes auf die weltliche Oberherrschaft und das Mitspracherecht bei der Königswahl zurückgewiesen. Das bekräftigte aber auch das Recht der Kurfürsten, den König zu wählen - ein für die weitere deutsche Geschichte folgenschwerer Beschluss. Rudolph von Bismarck, der in den Streit mit dem Domstift als einer der führenden Köpfe verwickelt war, fiel unter den Kirchenbann und starb um 1340 als Exkommunizierter. Dennoch entschied sich der Stadtrat, der sich aus eigener Machtvollkommenheit ergänzen konnte, für seinen ältesten Sohn Nikolaus oder Klaus von Bismarck (1307 - 1377). Die Wahl traf auf den Spross einer Familie, die sich durch Reichtum, Macht und Können auszeichnete. In der Tat sollte sich Klaus von Bismarck als ein für seine Zeit überaus wendiger Geldmann und Diplomat erweisen; durch wohldosierte Opfer und Zugeständnisse mehrte er seinen Wohlstand und Einfluss. Er verstand es mehr als jeder andere im Stadtrat Stendals, im Streit um feudale Herrschaftsrechte Geschäft und Politik miteinander zu verquicken. Klaus von Bismarck war beteiligt, als der Stadtrat 1340 versuchte, mit jenen widerborstigen Landadligen ein Übereinkommen zu finden, das die Patriziergeschlechter mit Fehden überzog. Desgleichen konnte der Stadtrat den Schulstreit auf typisch feudale Weise zu Ende bringen: Durch Überlassen von nicht allzu umfangreichem Dorfland zu Lehen und formalen Zugeständnissen sicherte man die Existenz der Stadtschule, die als Ursprung des Stendaler Gymnasiums gilt. Klaus von Bismarck weitete seinen politischen Aktionsradius bald über die Grenzen der Stadt aus. Bei allem subjektiven Drang lag darin ein objektiver Zwang. So sehr nämlich die einzelne, auch noch so kleine Feudalgewalt einerseits auf ihre Selbstständigkeit pochte, war sie andererseits an einer zentralisierenden, zumindest fürstlichen, nicht unbedingt königlichen Macht interessiert. Ein oberster Lehnsherr hielt die zentrifugalen Kräfte zusammen, wo er fehlte, herrschte oft das Faustrecht, hörte das Klagen über Fehden und Brandschatzungen nicht auf. Grund zu solchen Klagen gab es in der Altmark genug, da seit dem Aussterben der askanischen Dynastie 1319 Ungewissheit herrschte, wer denn dort, im ältesten Teil der Mark Brandenburg, der Herr sei. Die Bismarcks mochten in dem Dreierkampf um die Herrschaft in der Altmark zwischen Herzog Otto von Braunschweig, dem Erzbischof von Magdeburg und Markgraf Ludwig, die alle irgendwelche Rechtstitel und verwandtschaftliche Konnexionen ins Feld führen konnten, lange Zeit eine abwartende Haltung eingenommen haben; als jedoch der allgemeine Gang der Politik in Deutschland es offensichtlich machte, dass sich als Grundsatz die Unteilbarkeit der Kurfürstentümer, zu denen die Mark Brandenburg nun einmal gehörte, durchsetzte, entschieden sie sich für deren Einheit und damit für den Markgrafen Ludwig. Nachdem der Erzbischof von Magdeburg 1336 gegen sechstausend Mark Silber auf seine Ansprüche verzichtet hatte, ließen sich die Brüder Klaus und Rule von Bismarck noch vor dem Tod ihres Vaters Rudolph zu Anhängern des Markgrafen Ludwig machen. Dieser honorierte ihre Parteinahme, indem er ihnen landesherrliche Erhebungen für den Fall zubilligte, dass ihm die Altmark zufiel.5 Der in feudalen Vorstellungen verhaftete Wechsel auf die Zukunft drängte die jungen Bismarcks zu einer aktiven Unterstützung des Markgrafen. Dem Brandenburger wurden nicht nach altväterlicher Weise der Ritterheere Ross und Reiter, sondern Geld für die modernen Söldnerheere zur Verfügung gestellt. Vor dem entscheidenden Feldzug von 1343 gegen Herzog Otto von Braunschweig streckte Klaus von Bismarck dem Markgrafen verschiedene Geldsummen vor, wofür man ihm die landesherrlichen Zolleinkünfte aus Havelberg verpfändete - mit sofortiger Wirkung und nicht als Zukunftsaussicht. Immer waghalsiger und verwickelter gestalteten sich die Geschäfte der Stendaler Patrizier: Im Verein mit sieben anderen reichen Bürgern streckte Klaus von Bismarck im Entscheidungsjahr 1343 weitere Darlehen vor, wofür man die Stendaler und Kyritzer Münze auf zwölf Jahre verschrieb, allerdings mit der etwas unsicheren Maßgabe, dass diese Münzeinnahmen wegen anderweitiger Verschreibung erst nach vierzehn Jahren fließen sollten. Also auch hier wieder ein Wechsel auf die Zukunft, bei dem sich finanzwirtschaftlicher Einfallsreichtum und feudales Rechtsgebaren sonderbar mischten. Das Geschäft der Stendaler Patrizier mit dem Markgrafen Ludwig ging vom Finanziellen ins rein Politische über. Jedoch lauerten auf dem Weg zur Unterstützung des Markgrafen juristische Fallen. Stendal hatte nämlich zwei Fürsten den Untertaneneid geleistet, dem Markgrafen Ludwig die Erbhuldigung und dem Herzog von Braunschweig die Huldigung auf Lebenszeit. Solange diese lebten, waren die Stendaler Patrizier davon nicht entbunden. Deswegen hielten sie es für geraten, die Vermittlung anzurufen in der Absicht, den Braunschweiger ins vermeintliche oder wirkliche Unrecht zu setzen. Zweifellos war Klaus von Bismarck ein Hauptvertreter der für den Markgrafen wirkenden Partei und an mehreren Verhandlungen beteiligt. Die hohen Herren vom Stendaler Stadtrat kamen schließlich auf die dummdreiste Idee, als Schiedsrichter ausgerechnet Kaiser Ludwig, den Vater des Markgrafen Ludwig, anzurufen. Von vornherein war klar, dass dieser sich aus politischen und verwandtschaftlichen Gründen - vor allem um der Unversehrtheit des Kurfürstentums Brandenburg willen - für seinen Sohn entscheiden würde. In der Tat bramarbasierte der Römische Kaiser im Juli 1343, dass er »nach Anhörung von Grafen, Freien, Rittern und Knechten seines Rates« das im Grunde erwartete Urteil fällen müsse, »weil man alle Zeit dem Rechte helfen und Beistand leisten solle und dem Unrecht nicht, so sollen die Rathmannen zu Stendal fortan unserem Sohne dem Markgrafen behülflich sein gegen den Herzog von Braunschweig und nicht dem Herzoge«.6 Die Mühe, juristisch spitzfindig zu argumentieren, machte sich der Kaiser gar nicht; seine Berufung auf Recht und Unrecht war rein rhetorisch und schon für die damalige Zeit kaum geeignet, das egoistische Interesse ideologisch zu verhüllen. Doch das kaiserliche Placet, wie dürftig auch begründet, genügte den Stendaler Patriziern, um sich frei zu fühlen, den städtischen Heerbann ins Lager des Markgrafen Ludwig gegen den Herzog Otto von Braunschweig zu führen und den Feldzug nicht allein mit privaten Finanzmanipulationen, sondern auch mit Zuschüssen aus der Stadtkasse zu unterstützen. Herzog Otto verlor im Feldzug von 1343 aber nur eine Schlacht, nicht den Krieg. Um ihn zu bewegen, auf die Altmark endgültig zu verzichten und damit die Einheit der Mark Brandenburg wieder möglich zu machen, musste Markgraf Ludwig in einem Vergleich eine hohe Abstandssumme, zu der die Stendaler Patrizier städtische und private Geldanleihen beigesteuert hatten, zahlen. Kurz vor Weihnachten 1343 wurde in Stendal dann die Erbhuldigung für den Markgrafen Ludwig inszeniert. Sie war mit einem recht handfesten Vertrag verbunden, wonach alle seit Markgraf Woldemars Tod 1319 in der Altmark gebauten Burgen abgebrochen und neue nicht gebaut werden sollten. Die Städte konnten jedoch ihre Festungswerke verstärken. Diese Bestimmungen richteten sich ausschließlich gegen jene Landadligen, die während der vergangenen zwanzig Jahre das Land unsicher gemacht und den Städten wie dem Markgrafen zugesetzt hatten. Schon 1340 war Klaus von Bismarck dabei gewesen, als der Stendaler Stadtrat erfolglos versucht hatte, mit den widerborstigen Landadligen ein Übereinkommen zu finden.7 Nach all den Erfahrungen mit dem landadligen Raubgesindel war die Übereinkunft von 1343 zwischen Stadt und Markgrafen durchaus fortschrittlich: Ihre Ziele waren, die Sicherheit der Stadt zu gewährleisten und die nächsthöhere Feudalgewalt, eben die fürstliche Landesherrschaft in den Territorien, zu stärken; unter den damaligen klassen- und territorialstaatlichen Beziehungen konnte diese ohnehin eher den Landfrieden garantieren als die ferne königlich-kaiserliche Gewalt. Aber da die Landesfürsten immer geldbedürftig waren, gerieten sie bald wieder in eine schwache Position.