Beschäftigt man sich mit Christoph Schlingensief, ist es wenig sinnvoll, eine Aktion isoliert zu betrachten. Denn oft entwickeln sich Aktionen aus vorangegangenen Projekten, bauen aufeinander auf oder zitieren einander. So entwickelte Schlingensief insbesondere die Überwindung der Kunst-Leben-Barriere immer weiter.
„Wir verlassen den Theaterraum und geben dem Theater das Leben zurück. Und das Leben fragen wir, ob es nicht schon Theater geworden ist, ob es nicht eigentlich nur eine Aufführung ist.“[44]
In dieser Äußerung Schlingensiefs wird ein entscheidender Unterschied zwischen Wagner und Beuys auf der einen Seite und Schlingensief auf der anderen Seite deutlich: Während die ersteren eine Verschmelzung von Kunst und Leben fordern, sieht Schlingensief –ganz plakativ – das Leben schon als Kunst in Form einer Theaterinszenierung an und folgt damit Goffmans Theorie. Dabei läßt er offen, wer „Regisseur“ dieser Inszenierung ist.[45]
Um verstehen zu können, auf welche Weise Schlingensief das Leben und das Theater miteinander verknüpft, müssen wir uns seine bisherige Theater-Arbeit anschauen. Denn schon in seiner ersten Theaterproduktion 100 Jahre CDU, am 23. April 1993 auf der Volksbühne Berlin uraufgeführt, fungierte die Realität als Störfaktor für das Theatererlebnis. Schlingensief selbst war dieser Störfaktor, als er während dem sechsten Spielabend, angeblich aus Frust wegen der Kritiken, die sein Werk nicht ernst nahmen, in die laufende Aufführung platzte.
„Plötzlich hatte ich die Aufführung in der Hand. ... Von diesem Abend an war klar, daß ich mit auf die Bühne gehe, daß es dadurch gelingt, dem Ganzen eine Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit zu geben. Endlich war das blöde Gekicher verstummt. Es begann die Sucht, die anderen Schauspieler in ihrem verabredetem Spiel zu stören. ... Mir war deutlich geworden, daß das Unvorhersehbare, die Lücke im Ablauf mich am Theater interessiert.“[46]
Mut zur Lücke ist also ein wichtiger Bestandteil von Schlingensiefs Theaterkonzept. Da fertig konzeptionierte und realisierte Kunstwerke, traditionelle Theaterstücke eingeschlossen, kaum Raum ließen für das Unvorhersehbare, musste die plan- und konzeptionslose Realität, das wahre Leben, auf das Werk treffen.
So wie Boal verlässt auch Schlingensief oftmals den Theaterraum, um die Realität zur Spielstätte zu erklären. Die Gleichberechtigung zwischen Schauspieler und Publikum zieht Schlingensief jedoch konsequenter durch, als dies bei Boal der Fall ist. Denn schon das Schlingensief’sche Ensemble besteht nicht nur aus gelernten Schauspielern. Setzte es sich anfangs noch überwiegend aus Schauspielern der Volksbühne und Darstellern aus Schlingensief-Filmen zusammen, hat es sich nach und nach zu einer Mixtur aus Laien und professionellen Schauspielern manifestiert. Profis wie Sophie Rois, Martin Wuttke und Bernhard Schütz agieren mit Amateuren wie dem arbeitslosen Werner Brecht, oder den Behinderten Achim von Paczensky und Mario Garzaner, sowie mit dessen Eltern Ilse und Kurt, die bei verschieden Projekten zu der Truppe stießen und zu einem untrennbaren Teil des Schlingensief-Theaters wurden.
Gerne redet Schlingensief im Zusammenhang mit seinem Ensemble von einer „Familie“- ein Begriff, den er sich in diesem Zusammenhang wohl vom Film- und Theaterregisseur Rainer-Werner Fassbinder entliehen hat.
„Die Hoffnung dieser Familie besteht darin, daß man vieles durch die einzelnen Familienmitglieder bekommt, ohne daß ein einzelner die Absicht hat, durch das, was er von außen mit hineinbringt, diese Familie zu verwirren, zu zerstören oder auf einen neuen Weg zu setzen. Es ist ein System, daß sich pumpend bewegt.“[47]
Schlingensiefs Familie ist also ein lebendiges, soziales System, das von den Erfahrungen der einzelnen Elemente, die sie außerhalb dieses Systems gesammelt haben, profitiert. Ein Mitglied der Familie hilft dem anderen
Schlingensiefs Familie kann man als funktionierendes Beispiel zu Beuys‘ sozialer Plastik verstehen. Jedes Familienmitglied setzt – wie von Beuys gefordert – seine „Wärmeplastik (Kreativität)“ ein, „die erst im weiteren der gesamten Gesellschaft zugute kommt“[48]- wobei die gesamte Gesellschaft hier zunächst der Komplex der Schlingensief-Familie ist. So gesehen bildet sie den Idealtypus einer Gesellschaft, in der die Menschen, die in der jetzigen Gesellschaft (Schlingensief: „System 1“) praktisch unsichtbar sind, also Behinderte, Obdachlose, Arbeitslose, kurz: die Verlierer der Gesellschaft, eine wichtige Funktion innehaben, akzeptiert und respektiert werden. Nicht nur Schlingensief, sondern die ganze Familie formt das Gesamtkunstwerk mit ihren eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften, so wie von Wagner gefordert.
Schon die Zusammensetzung seines Stamm-Ensembles lässt ein im Detail einstudiertes und somit erstarrtes Theater erst gar nicht zu. Niemand kann genau sagen, wie Achim von Paczensky in der Rolle als Heiner Müller agieren wird. Somit entkommt er nicht nur räumlich, indem er vom Theatersaal auf die Straße geht, dem „Ghetto des Theaters“[49], sondern Schlingensiefs Theateraktionen sind tatsächlich mit „echtem“ Leben angefüllt, da, im Gegensatz zu Boal nicht alle Reaktionen der Teilnehmenden vorinszeniert sind.
Damit ist Schlingensiefs Stamm-Ensemble, seine „Familie“, sozusagen auch ein Mikrokosmos von Schlingensiefs Idealvorstellung gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dazu entwickelte er ursprünglich für Chance 2000 eine eigene „Systemtheorie“, auf der spätere Inszenierungen und Aktionen aufbauten.
„Das System spielt mit mir, ich erfinde ein anderes, mit dem dann ich spiele“[50], erläutert Schlingensief kurz sein Konzept. System 1 steht für „Gewerkschaften, Kirchen, Medien und Parteien, die eine Realität eigener Art, fern der wirklichen Wirklichkeit schaffen“.[51] System 2 besteht aus den einzelnen Individuen, „die Arbeitslosen oder die Behinderten oder du und ich“[52], wie sie im wirklichen Leben existieren, aber in System 1 nicht vorkommen. Schlingensief konstruiert nun, um die „wirklichen Menschen“ in System 2 sichtbar zu machen, ein drittes System. In System 3 lässt er herausgelöste Elemente aus den ersten beiden Elementen aufeinandertreffen und kreiert so einen neuen Zusammenhang, der von den Inszenierungen in System 1 nicht aufgefangen werden kann. So bestand der Bundesvorstand von Chance 2000 zum großen Teil aus Arbeitslosen und Behinderten. Dabei ist es vonnöten, dieses Zusammentreffen außerhalb des Theaterraums stattfinden zu lassen, soll die „Versuchsanordnung“[53] ihre ganze Wirkung entfalten. Denn Schlingensief schließt die Kunst ausdrücklich in das System 1 ein. Provokation kann im Theaterraum kaum stattfinden, denn dort wird sie erwartet, zumindest geduldet und damit anders bewertet.
Wichtiger Bestandteil des Schlingensief’schen Gesamtkunstwerks ist auch das Publikum. Erika Fischer-Lichtes Gleichung, mit der sie Theater auflöst[54], greift allerdings nicht mehr. Nicht nur, daß A zumeist nicht X, sondern A, also sich selber verkörpert, auch die Grenzen zwischen Darsteller A und Zuschauer S vermischen sich im Schlingensief-Theater. Der wahre Darsteller ist in den Schlingensief-Aktionen der Zuschauer, denn seine Reaktionen interessieren.
Indem Schlingensief die Grenzen zwischen Kunst und Leben zunehmend verwischt, wird es für den Zuschauer immer schwerer, sich als solcher zu identifizieren. Mehr noch: Schnell wird er zum Bestandteil der Inszenierung, so wie bei Boals Unsichtbarem Theater. Der erste Schritt dazu wurde bei dem Stück „Rocky Dutschke ’68“, am 17. Mai 1996 an der Berliner Volksbühne uraufgeführt, vollzogen. Die Zuschauersitze wurden aus dem Theater entfernt, so dass die äußeren Grenzen zwischen Publikum und Darsteller verschwanden. Die vierte Wand wurde eingerissen.
,Schlingensiefs Theater war zum ersten Mal Sit-In, die Begegnung der Spieler mit dem Publikum wurde zum ersten Mal körperlich, gegenwärtig. Das beginnt schon vor dem Theater, das Attentat auf Rudi Dutschke am Fahrrad wird nachgestellt, Jonny Pfeifer spielt den Polizist mit Megaphon ..., man wird Passant, Mitspieler.[55]
„Sinnliche Wechselbeziehungen“ zwischen Publikum und Darsteller kannte man schon nicht zuletzt von den Spektakel-Inszenierungen auf der Berliner Volksbühne.[56] Jedoch auch wenn dort Schauspieler nicht immer sofort als solche erkennbar waren, wenngleich der Zuschauer zwischen mehreren Räumen wechseln konnte und musste, um verschiedene Teile der Inszenierung für sich selbst zusammenzusetzen: Der Zuschauer blieb doch stets Zuschauer und konnte den Verlauf der Inszenierung nie wirklich...