Das Französische in Belgien ist bereits seit dem Mittelalter Thema von Veröffentlichungen. Wie Marion Spickenbom in ihrer 1996 erschienenen Dissertation zeigt, gab es bereits vor 1600 Gesprächshandbücher und flämisch-französische Wortlisten. Zu einer Zeit, da der Terminus Belgizismus noch gar nicht existierte, wiesen Sprachinteressierte aus Frankreich oder dem übrigen Ausland auf regionale Abweichungen von der Französischen Norm hin. „Bis 1940“, so Spickenbom, „sind diese [Veröffentlichungen] fast durchgehend normativ geprägt und zeichnen sich häufig durch geringe wissenschaftliche Genauigkeit aus“.[59]
Vom normativen Charakter der Publikationen zeugen Titel wie Flandricismes, wallonismes et expressions impropres dans le langage français. Ouvrage dans lequel on indique les fautes que commettent fréquemment les Belges en parlant l’idiome français ou en l’écrivant von Antoine-Fidèle Poyart. Dieses Werk, laut Piron die erste systematische Zusammenstellung von Belgizismen, steht am Anfang einer sprachpuristischen Entwicklung in Belgien.[60] Es folgen Veröffentlichungen wie Belgicismes ou les vices de langage et de prononciation les plus communs en Belgique (1857) des Abbé Joseph Benoit oder Les six cents expressions vicieuses belges (1891) von Galand. In vielen Werken finden sich Formeln wie « Ne dites pas... dites ». Es handelt sich um so genannte Antibarbari, die der regionalen Besonderheit eine standardsprachliche Formulierung gegenüberstellen.
André Goosse charakterisiert die Haltung, die aus solcherlei Werken spricht, wie folgt: « Pour les grammairiens de jadis, l’existence d’une norme impérieuse et rigide ne faisait pas de doute, et un belgicisme était tout simplement une faute de français commise en Belgique ».[61] Goosse selbst möchte daher in seinem Aufsatz Qu’est-ce qu’un belgicisme? von 1977 eine wertende Haltung vermeiden: « Le point de vue adopté est celui de l’observateur insensible, et non celui du juge ».[62] Insgesamt gewannen laut Marion Spickenbom nach 1940 die deskriptiven Arbeiten, die unter Berücksichtigung strenger wissenschaftlicher Kriterien erstellt wurden, an Einfluss.[63] Jacques Pohl bezeichnet die 1971 erschienene Studie von Baetens Beardsmore als erste vollständige, ausschließlich deskriptive Untersuchung zum belgischen Französisch,[64] Maurice Piron dagegen hält seine Veröffentlichung Les belgicismes lexicaux: essai d’un inventaire von 1973 für die erste nicht-normative Zusammenstellung von Belgizismen.[65]
In der Nachkriegszeit führen große belgische Tageszeitungen nach Pariser Vorbild die so genannten chroniques de langage ein, die grammatische oder lexikalische Fragen diskutieren. Ihnen kommt nach Meinung Spickenboms besondere Bedeutung zu, weil sie sich direkt an die belgischen Leser wenden, die zum Großteil von sprachwissenschaftlichen Veröffentlichungen keine Kenntnis nehmen dürften. Dadurch, dass die Chroniken Belgier auf ihre sprachlichen Besonderheiten aufmerksam machten, könnten sie gegebenenfalls deren Sprachverhalten direkt beeinflussen. Weil oft Fragen von Lesern behandelt würden, gäben die Chroniken zudem Aufschluss darüber, wie die Belgier ihr eigenes Sprachverhalten beurteilen.[66]
Albert Doppagne, einst Chronist der Brüsseler Zeitung Le Soir, ist 1971 Mitherausgeber der Chasse aux belgicismes, eines zum zehnten Jahrestag des Office du bon langage herausgegebenen Werkes von stark normativer Absicht. Ihr Ziel beschreiben die Herausgeber wie folgt: « Nous voulons aider à nos compatriotes à mieux s’exprimer, à s’intégrer parfaitement dans le français universel ».[67] Zu diesem Zweck strebte man eine Zusammenarbeit mit Schulen und anderen Bildungseinrichtungen an und offerierte Kurse für Erwachsene. Auffällig ist die Schärfe, mit der die Besonderheiten des belgischen Französisch kritisiert werden. Neben Kriegsvokabular findet sich immer wieder eine medizinische Metaphorik, die suggeriert, dass es sich bei der Sprache der Belgier um eine Krankheit handele:
Nous avons à nous défendre contre des contaminations, contres des intrusions de mots et de tours étrangers, contre des régionalismes dialectaux. […] partout l’ennemi intérieur est là, le germanisme en Suisse, le flandricisme en Belgique. […] Toutes les parties du discours sont soumises à la contagion de cette maladie du pays.[68]
Nachdem sich die Chasse aux belgicismes mehrere Wochen lang auf Platz eins der belgischen Bestsellerlisten gehalten hat und rund 34.000 Exemplare verkauft worden sind,[69] erscheint 1974 das Nachfolgewerk Nouvelle chasse aux belgicismes. Darin zeigen sich die Herausgeber selbst erstaunt über ihren großen Erfolg, gehen aber auch auf die vielen ihnen entgegengebrachten Vorwürfe ein:
Nous espérons avoir dissipé cette erreur grossière qui a fait dire que nous attaquions sans ménagement nos pauvres concitoyens, que nous voulions les minoriser, les paralyser … on a même été jusqu’à dire : les traumatiser! [70]
Tatsächlich hat die lange Tradition des linguistischen Purismus in Belgien eine große sprachliche Verunsicherung hervorgerufen. Bernhard Pöll bezeichnet Belgien als „ein Musterbeispiel für die sprachlichen Minderwertigkeitskomplexe von Sprechern in peripheren Gebieten der Frankophonie“.[71] Dem entspricht die von Maurice Piron beschriebene insécurité linguistique, die sich aus einer zu starken Orientierung am hexagonalen Französisch ergibt: « le locuteur belge conscient se méfie du français qui lui vient spontanément à la bouche ou sous la plume ».[72]
Inzwischen allerdings dürfte der von Pöll erkannte Trend hin zur „vorsichtigen Valorisierung“[73] der eigenen sprachlichen Besonderheiten fortgeschritten sein. In einer dritten Publikation, bezeichnenderweise Belgicismes de bon aloi betitelt, räumt Albert Doppagne, im Jahr 1979 ein: « Tout n’est pas mauvais dans le français de Belgique ».[74]
Entsprechend verteidigt er die Verwendung bestimmter Belgizismen, etwa weil sie kürzer, treffender oder logischer als ihre standardfranzösischen Entsprechungen seien oder weil sie gar keine solchen Entsprechungen hätten. Pohl bezeichnet diese Sichtweise, nach der regionale Besonderheiten eine Bereichung für das zentrale Französisch sein können, als « normatif positif ».[75] Die Tendenz, die dem « normatif negatif » entgegengesetzt ist, werde durch die Forderung Maurice Pirons, den Belgizismus aubette ins français universel aufzunehmen, deutlich.[76]
Während die regionalen Varietäten des Französischen Gegenstand von immer zahlreicheren Veröffentlichungen werden, beginnen in den siebziger Jahren auch die großen französischen Wörterbücher, Besonderheiten des belgischen Französisch systematisch zu verzeichnen.[77] Hierin sieht Christian Schmitt „eine Anerkennung des Belgischen als einer Varietät innerhalb der vielgestaltigen Frankophonie“.[78] Bernhard Pöll spricht 1998 von einer Aufwertung der Regionalität in den letzten Jahren, geprägt durch Schlagwörter wie „plurizentrische Sprachkultur“ oder „Plurizentrismus“, die „die grundsätzliche Akzeptanz und Legitimität mehrerer Standardnormen innerhalb ein und derselben Sprachgemeinschaft“ bezeichnen.[79] Entscheidend für die Legitimierung regionaler Varietäten war laut Pöll die Erkenntnis, dass regionale Besonderheiten sich oft nicht auf ein kleines Gebiet beschränken, sondern unter Umständen „typisch sind für ein größeres Territorium oder staatsähnliches Gebilde“ wie die Wallonie. Im Hinblick darauf sei es treffender, von „nationalen Varietäten“ oder einem « français de Belgique » zu sprechen.[80] Da die Terminologie, wie sich hier andeutet, nicht immer leicht festzulegen ist, soll sie im folgenden Kapitel ausführlicher diskutiert werden.
Über die Erstdatierung des Terminus Belgizismus besteht in der Fachliteratur keine Einigkeit. Die Begriffe flandricisme und wallonisme treten laut Goosse erstmals im Jahr 1806 in Antoine Fidèle Poyarts Flandricismes, wallonismes et expressions impropres dans le langage français. Ouvrage dans lequel on indique les fautes que commettent fréquemment les Belges en parlant l’idiome français ou en l’écrivant auf.[81] In der zweiten Auflage dieses Werkes im Jahre 1811 soll laut Klein und Lenoble-Pinson erstmals der Begriff belgicisme verwendet worden sein.[82] Der gleichen Auffassung sind die Autoren des Grand Robert de la langue...