Himmelsstürmereien
Direkt nach dem Sterben – so scheint es – kommt die Seele erst einmal in einen »Vorhof« des Jenseits. Ein Foyer. Eine Art »Transitzentrum« für die Migration in die neue Sphäre. Anders ausgedrückt: Es gibt eine markante Übergangsphase zwischen dem irdischen Dahinscheiden und der Ankunft im »Reich der Ewigkeit«.
Gerade die Erlebnisse bei der Durchquerung dieses Niemandslands zwischen den Wirklichkeiten und das Erreichen der jenseitigen Gefilde haben die Menschheit schon immer bewegt – vermutlich, weil diese Erfahrungen das Erste sind, was den Verblichenen erwartet; und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die Angehörigen noch am Sterbebett stehen, der Trauerrede lauschen oder sich beim Beerdigungskaffee heitere Anekdoten aus dem zu Ende gegangenen Leben auftischen.
Besonders brisant sind solche Zwischenstationen deshalb, weil viele Menschen behaupten, sie hätten den »Übergangsbereich« im Zuge von »Nahtoderfahrungen« schon erkundet. Ja, etwa 20 Prozent aller klinisch toten und dann reanimierten Patienten erzählen voller Überzeugung davon, dass sie eine oder mehrere der hier aufgezählten Situationen schon »erlebt« haben.
Zum Überflieger werden
Out-of-Body-Erfahrungen verändern die Perspektive
Wenn der Körper den Geist aufgibt (oder besser gesagt: wenn der Geist den Körper aufgibt), dann löst sich die Seele erst einmal ganz sanft von ihrer irdischen Hülle, steigt nach oben, schwebt schwerelos im Raum und wirft dann einen wehmütigen Abschiedsblick auf die dahinscheidende Gestalt, die all die Jahre ihr Zuhause war.
Das jedenfalls berichten erstaunlich viele Menschen, die nach einem Nahtoderlebnis befragt wurden. Sie konnten sich im Moment zwischen Leben und Tod von außen betrachten: auf dem OP-Tisch, im Sterbebett oder bei der Wiederbelebung durch Rettungssanitäter.
Wissenschaftler nennen dieses Phänomen »außerkörperliche Erfahrung« (AKE) oder »Out-of-Body-Experience« (OBE), und die zurückgekehrten Seelen beschreiben ihre »Aufstiege« eigentlich alle als ungemein friedvoll und verbunden mit einem innigen Glücksgefühl. Vor allem aber waren jegliche vorher empfundenen Schmerzen verschwunden.
Faszinierenderweise gab es während der probeweisen Trennung von Leib und Seele für das Bewusstsein weder Raum noch Zeit – und auch keine Grenzen mehr: Türen und Wände waren durchlässig und alle physikalischen Gesetze aufgehoben, sodass die Überflieger auch nicht mehr mit den Anwesenden im Raum kommunizieren konnten.
Derartige Nahtoderlebnisse werden seit den 1970er-Jahren durch die Bestseller der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross und des amerikanischen Psychologen Raymond Moody intensiv diskutiert und gelten in der Neurowissenschaft als »dissoziative Störung«.
Kritiker erwähnen natürlich gerne, dass sich OBEs künstlich erzeugen lassen – beim Stockholmer Karolinska-Institut schlicht dadurch, dass man Menschen eine Virtual-Reality-Brille aufsetzt und ihnen das Bild einer Kamera einspielt, mit der sie gefilmt werden: Schwups, schon sehen sie sich von außen. Ist das also alles nur Einbildung?
Nun, die Versuche erklären jedenfalls nicht, warum manche Personen nach ihrer Rückkehr Dinge beschreiben konnten, die sie mit ihrem liegenden Körper gar nicht hätten wahrnehmen dürfen: die Sockenfarbe des Chirurgen, die Anzeige auf dem Display hinter ihnen und den anzüglichen Spruch des Ersthelfers. Außerdem waren die meisten ohnehin im Koma oder narkotisiert.
Verstehen kann man OBEs nicht – aber sollten wir nach dem Tod tatsächlich zu Beginn erst mal lässig unter der Decke schweben, dann wäre das doch ein ziemlich stilvoller Start ins Jenseits.
Filmstar für einen Augenblick
Wenn das ganze Leben an einem vorüberzieht
»Kurz bevor sie ihre Augen für immer schloss, sah die attraktive Agentin noch einmal ihr Leben wie im Zeitraffer vor ihrem inneren Auge ablaufen.« Schriftsteller lieben solche Sätze. Und genau darum kommen sie (so oder so ähnlich) in unzähligen Romanen, Filmen und Theaterstücken vor. Klingt ja auch äußerst spannend – weil man sich sofort fragt: Was hat denn die Person da wohl gesehen?
Tatsache ist: Dieses Phänomen existiert. Beim Überschreiten der Schwelle zwischen Leben und Tod bekommt der ein oder andere Mensch noch einmal eine echte Hauptrolle, nämlich die im »Film seines Lebens« – weil dann die wichtigsten Stationen seiner Biografie wie in einem Film an ihm vorüberziehen. Eine geballte Doku aus Höhepunkten und Peinlichkeiten. Ein Daseins-Konzentrat, in dem mehr Eindrücke auftauchen, als dies in der kurzen Zeitspanne überhaupt möglich sein dürfte.
Der sogenannte »Lebensfilm«, der gerne auch als »Panorama«, »Rückschau« oder »Bilderschau« bezeichnet wird, taucht schon in antiken Quellen auf, ist also keinesfalls eine moderne Selbstbetrachtung: Offensichtlich löst irgendetwas beim Übergang ins Jenseits in unserem Kopf einen privaten Blockbuster aus. Irre!
In der Psychologie wird eine solche Erfahrung gerne als Form der »Hypermnesie« bezeichnet, als gesteigerte Erinnerungsfähigkeit. Israelische Forscher der »Hebrew University Hadassah Medical School« in Jerusalem haben den »Lebensfilm« kürzlich genauer erforscht und kommen zu dem Schluss: Er findet wirklich statt. Allerdings nicht chronologisch sortiert (wie man lange Zeit dachte), sondern nach der Bedeutung der Ereignisse. Wir sehen also vor allem all die Momente unseres Daseins, die uns emotional tief berührt oder nachhaltig geprägt haben.
Und weil dabei auch Erlebnisse auftauchen, die wir verdrängt haben, nahm Sigmund Freud in seiner »Traumdeutung« die hypermnetischen Träume als einen Beleg für die Existenz des Unterbewussten. Passenderweise wird eine solche Lebensbilderschau in Gehirnarealen ausgelöst, die bei einer Krise sehr spät durch den Sauerstoffverlust betroffen sind – als wolle das Gehirn als visuelle »Henkersmahlzeit« noch einmal ein anschauliches Resümee des Gewesenen liefern.
Ein Zusammenschnitt der Schlüsselszenen unseres bisherigen Daseins, im »Ultimate Director’s Cut«, inklusive aller unterbewusst gekürzten Bonusaufnahmen: Das wird sicher ein cineastisches Highlight. Oder?
In die Röhre gucken
Das Licht am Ende des Tunnels überstrahlt alles
»Als ich meine Augen wieder öffnete, stand ich in einem mit Licht durchfluteten Tunnel«, schwärmt ein Remigrant (also: ein Zurück-Emigrierter) nach seinem verwegenen Kurztrip über die Daseinsgrenze.
Solche Beschreibungen sind kein Einzelfall. Knapp 70 Prozent aller Menschen mit Nahtoderlebnissen berichten, sie wären durch eine Art Röhre oder Gang geschwebt, an dessen Ende ein unfassbar helles Licht auf sie gewartet hätte – heller als die Sonne und doch nicht blendend.
Die Vorfreude auf dieses sensationelle Ereignis sollte nicht nur den Fans von dramatischen Sonnenauf- und -untergängen das Sterben versüßen. Denn die Kommentare sind sich in einem völlig einig: Der Anblick dieser strahlenden Lichtquelle ist überwältigend.
So überwältigend, dass den meisten auch sofort klar wurde: »Hier wartet der Himmel auf mich.« Mehr noch: Wer so in die Röhre guckt, der verliert direkt die Angst vor dem Tod und will um jeden Preis dieses warme, beglückende Licht erreichen … und ist dann in der Regel ziemlich enttäuscht, wenn er noch einmal umkehren muss.
Zugleich spüren die Betroffenen, dass der verlockende Lichtvorhang beziehungsweise der Ausgangspunkt dieses Leuchtens so etwas wie einen »Point of no return« darstellt: Wenn man ihn erreicht hat, dann gibt es kein Zurück mehr ins fleischliche Dasein, dann ist die Grenze endgültig überschritten.
Nüchterne Wissenschaftler (etwa die Hirnforscher der University of Michigan) weisen gerne darauf hin, dass sich beispielsweise bei Ratten dreißig Sekunden nach einem Herzstillstand eine stark gesteigerte Hirnaktivität messen lässt; offenbar ein letztes, verzweifeltes Aufbäumen des Bewusstseins. Derartige Erregungswellen, vermuten die Experten, könnten auch bei uns Menschen für die beschriebene Lichtwahrnehmung verantwortlich sein.
Etwas poetischere Gemüter sind dagegen überzeugt, dass wir nicht »wie die Ratten« sterben, sondern beim Übergang ins Jenseits quasi einen zweiten Geburtsprozess erleben: Durch einen engen dunklen Gang streben wir erneut ins Licht. Wen wundert es da noch, dass viele kluge Philosophen überzeugt sind, der höchste Grad der »Erleuchtung« käme erst nach dem Tod.
Immerhin hat es die Formulierung »Ein Licht am Ende des Tunnels sehen« als ermutigender Hoffnungsschimmer sogar ins Diesseits geschafft. Nun, wenn’s so weitergeht: Warum nicht?
Ein rasanter Aufstieg
Klettertouren auf der Himmelsleiter
Die Mapuche (»Menschen der Erde«), ein indigener Stamm in Südamerika, feiern jedes Jahr um die Weihnachtszeit ein großes rituelles Fest für ihren Schöpfergott Gynechen. Zu diesem Fest gehört ein interessanter Brauch: Die Schamanin des Dorfs erklimmt einen hohen, treppenartig eingekerbten Holzklotz, auf dessen Spitze sie so lange tanzend auf eine Trommel schlägt, bis sie in...