Die Wiesen hier in der Südheide sind vom Sommerregen feucht. Über ihnen tanzen Mücken. Zwischen Kiefern und Birken grasen schwarz-weiße Kühe auf den Weiden. Bauernhäuser mit reetgedeckten Dächern dampfen in der Sonne. Ein einsamer Radfahrer strampelt die Landesstraße entlang. Wilfried Manneke überholt ihn auf der langen Geraden und drosselt dann den Motor.
Er ist da. Auf einem sandigen Feldweg am Rande der L281 nahe Eschede stellt er seinen schwarzen Nissan ab.
Einige Hundert Meter weiter hat der Landwirt Joachim Nahtz seinen Hof. Seit 1990 veranstalten alte und neue Nazis hier in der Südheide »Sonnenwendfeiern«. Für heute Abend haben sich rechtsradikale Musiker angekündigt. Manche ihrer Namen sind Programm. Neben dem auf den ersten Blick eher unverdächtigen Barny aus Jena wird heute Abend eine Gröhl-Band mit dem bezeichnenden Namen Rommel aufspielen. Später sollen die beiden sich dann die Bühne mit einer in rechten Kreisen beliebten Unterhaltungsgruppe namens Flak und dem aus Braunschweig stammenden Neonazi-Barden Gassenraudi teilen.
Neonazis, NPD-Mitglieder, Der Dritte Weg und Die Rechte haben sich zu dieser Zusammenkunft auf dem Hof bei Eschede verabredet – auch wenn sie sonst miteinander in Konkurrenz stehen. Joachim Nahtz, Jahrgang 1935, gehört seit Jahrzehnten der NPD an. Und er weiß die extremen Rechten zu einen.
Doch es regt sich Widerstand gegen die Treffen. Denn hier, am Abzweig von der L281 zum Hof findet gleich eine Mahnwache gegen die rechtsradikale Veranstaltung statt. Und genau da will Pastor Wilfried Manneke hin.
Drei Typen fallen ihm gleich auf, als er aus seinem Wagen steigt. Sie stehen unweit seines Parkplatzes am Feldrand und beobachten ihn demonstrativ mit dem Fernglas, einer macht offensichtlich Fotos: Jedenfalls hat er den Pastor mit einem dicken Teleobjektiv ins Visier genommen. Die drei tragen so etwas wie eine Uniform: weiße Hemden, schwarze Hosen, kurz geschorene Haare. Einer ist ganz in Schwarz gekleidet und trägt eine weiße Binde am Oberarm – darauf irgendein Text, in deutscher Fraktur, den Wilfried Manneke aus der Entfernung nicht richtig erkennen kann. Soll das »Ordner« heißen? Egal. Anscheinend will man Menschen wie ihn und die anderen Demonstranten beeindrucken – und einschüchtern. Das Signal setzen: »Pass auf, wir sind gut organisiert. Wir kennen dich. Wir kriegen raus, wo du wohnst …«
Pastor Manneke kennt solche Einschüchterungsversuche. Ach ja, solche Drohungen haben sie ihm auch schon in den Postkasten geworfen. Mehr als einmal.
Doch der evangelische Seelsorger ist entschlossen, sich all dem nicht zu beugen. Er öffnet die Seitentür seines Nissans und holt ein Plakat von der Rückbank. Darauf steht: »Die Heide blüht lila und nicht braun«. Es ist sein Plakat. Er will auch heute ein Zeichen setzen. Denn eines weiß er: Man kann denen, die jetzt dort drüben auf dem Hof hetzen und Hass verbreiten, die sich in ihrem Fanatismus gegen alles, was anders ist als sie selbst, suhlen, nicht einfach das Feld überlassen. Man darf vor allem nicht länger wegschauen, die braune Brut nicht gewähren lassen. Das wäre das falsche Signal. Denn dort, wo Neonazis ungestört ihre menschenverachtende Gesinnung verbreiten; wo sie gegen alles, was ihnen nicht ins rassistische Weltbild passt, Hetzparolen verbreiten; wo sie gegen Migranten, Andersdenkende, Schwule, Lesben und Menschen mit linker politischer Überzeugung in Wort und Tat vorgehen und andere zur Gewalt anstiften – dort gewinnen sie an Boden.
Da machen sie sich breit. Ihre Szene plustert sich auf, fühlt sich stark, erzeugt einen Sog bei Schwachen und Vernachlässigten. Und gerade dort, im Kreis derer, die sich in unserer Gesellschaft als Verlierer sehen, nutzen sie – die heutigen Neonazis, für die der Führer immer noch Vorbild ist – 70 Jahre nach dem schrecklichsten Krieg der Geschichte jede Gelegenheit, junge Menschen in ihren Bann zu ziehen. Manneke weiß: Das darf er nicht zulassen.
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»Sonnenwendfeiern« gehören im Kalender der extremen Rechten zu den sogenannten völkischen Höhepunkten im Jahr. Im September finden auf dem Hof von Joachim Nahtz auch sogenannte Erntefeste statt. Diese Feiern setzen offenbar die Tradition des nationalsozialistischen »Reichserntedankfestes« fort, das während des Dritten Reiches regelmäßig auf dem Bückeberg bei Hameln veranstaltet wurde. Im Dezember feiert man bei Nahtz gerne zudem die Wintersonnenwende.
»Brauchtumspflege« nennen es die Neonazis. Dabei geht es schlicht darum, Anlässe zu schaffen, bei denen man zusammenkommen und Kontakte pflegen kann. Und vielleicht auch Termine absprechen und neue Aktionen vorbereiten kann. Diese Feiern sind deshalb alles andere als harmlos. Es sind, wie Wilfried Manneke feststellt, »alles Feste, die Hitler selbst zu Feier- und Gedenktagen erhoben hat«.
Doch die Feiertagslaune der Neonazis wird empfindlich gestört. Die Südheide beginnt, aufzuwachen. Das Löns-Idyll mit Heidschnucken und lila Heidekraut beherbergt mehr aufrechte Demokraten, als es die braunen Agitatoren wohl erwartet haben. Schon seit dem Jahr 2007 finden Demonstrationen gegen diese Treffen auf dem Hof Nahtz in Eschede statt.
Nicht nur mit Mahnwachen, sondern auch mit Open-Air-Gottesdiensten setzen Wilfried Manneke, umliegende Kirchengemeinden, wackere Bürger, besorgte Künstler und andere Priester und Prominente ein Zeichen. Jedes Mal, wenn sie Wind davon bekommen, dass es wieder eine Zusammenkunft der Neonazis geben soll, organisieren sie via E-Mail, durch Aufrufe in sozialen Netzwerken, Ankündigungen in der Presse und mit Telefonketten eine Gegendemonstration. Sie stellen sich hier in Eschede mit Schildern und Transparenten seitlich des Sandweges auf, und jeder, der zum Hof Nahtz will, muss an ihnen vorbei. Näher lässt die Polizei die Demonstranten aus Sicherheitsgründen nicht an den Ort des Geschehens heran. Aber es ist ein Zeichen, dass die Menschen dort stehen. Ein wichtiges Zeichen. Denn überall in Deutschland regt sich wieder braunes Gedankengut.
»Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch …«: Bert Brechts Mahnung aus den 40er-Jahren gewinnt 70 Jahre nach ihrer Entstehung mehr Berechtigung als je zuvor. In Mecklenburg-Vorpommern versammeln sich die neuen Rechten in Jameln, dem Wohnort des mehrfach vorbestraften Ex-NPD-Kommunalpolitikers Sven Krüger. Im schwäbischen Günzburg und im nahen Allgäu trifft sich ein fester Kreis um den einschlägig bekannten Benjamin Einsiedler, Inhaber des rechten Plattenlabels Oldschool Records. Und das sind nur wenige Beispiele aus einer Reihe von vielen.
Hier in Eschede befindet sich eines der Zentren. Hier kommen wieder und wieder braune Wölfe zusammen. Der Hof des NPD-Aktivisten Joachim Nahtz ist seit Jahrzehnten ein Treffpunkt für Neonazis. Vor einigen Jahren haben hier schon einmal braune Barden aufgespielt, insgesamt sieben Gruppen, zu einem Konzert nach Rechtsaußen-Geschmack – vor 600 Besuchern. Rechtsradikale aus ganz Deutschland und der Schweiz sind damals extra fürs Konzert angereist.
Einer der Strippenzieher der Szene ist Manfred B.. Seit den 70er-Jahren ist er in der Szene aktiv, beteiligte sich damals angeblich auch an Aktionen der »Wehrsportgruppe Werwolf«. Als »Gauleiter« führte er die Wiking-Jugend in Niedersachsen bis zu deren Verbot. 1979 wurde er in einem der ersten deutschen Rechtsterrorismusverfahren in Bückeburg wegen eines gemeinschaftlichen Raubüberfalls auf ein NATO-Waffenlager in Munster verurteilt. Er erhielt eine mehrjährige Haftstrafe – unter anderem wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
Auch Wehrsportlager fanden hier statt, zum Beispiel Pfingstlager der inzwischen verbotenen »Heimattreuen Deutschen Jugend« (HDJ) mit ungefähr 150 Kindern und Jugendlichen.
Die braune Szene ist in der dünn besiedelten Gegend präsent. Alleine im Umkreis von nur 50 Kilometern um Unterlüß herum gibt es vier Neonazi-Kameradschaften. Von der Kreisstadt aus agieren die Freien Kräfte Celle – vormals Kameradschaft 73 –, in Schneverdingen machen die Snevern Jungs von sich reden. Düütsche Deerns nennt sich der weibliche Ableger, eine Jung-Frauenvereinigung im militärblauen Maxi-Rock-Look, geschmückt durch geflochtene Zöpfe. Auf ihrer Facebook-Seite stellen sich die jungen Mädchen und Frauen mit Fotos von Flak- und Panzerkanonen zur Schau. Und bei den Treffen auf Hof Nahtz kümmern sich – stilgerecht – gerade diese jungen Frauen ums Essen.
Eine weitere Gruppe, die Division 88, hat in der Südheide früher auch mitgemischt. Allerdings ist sie inzwischen weg von der Bildfläche, denn die Gruppe wurde von der Polizei ausgehoben. Dabei haben die Beamten unter anderem einen Haufen Waffen gefunden. Das steht ganz in der Tradition früherer rechter Organisationen: Schon vor 25 Jahren hat die mittlerweile verbotene »Nationale Liste« in der Südheide Wehrsportübungen abgehalten.
Deshalb stehen heute wieder Demonstranten hier. Wie immer, wenn es gilt, gegen Neonazis Flagge zu zeigen.
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Gastgeber Joachim Nahtz wirkt angestrengt. Er macht angesichts der Mahnwache aus seiner Gesinnung keinen Hehl. Wilfried Manneke und den anderen Demonstranten ruft er genervt zu: »Wir sind für unser Volk und Vaterland, und Sie sorgen dafür, dass wir rassisch gemischt werden! Hier kommen Leute ins Land, die nicht zu uns passen! Die wollen wir hier nicht!«
Ja, das merkt man. Die Schwelle zur Gewalt ist...