Einleitung
Die normannische Eroberung Englands gilt schon seit langer Zeit als bedeutende Zäsur der englischen Geschichte. Sie «ist der große Wendepunkt in der Geschichte der englischen Nation.» So beginnt Edward Freeman den ersten Band seines monumentalen, fünfbändigen Werks zur normannischen Eroberung, der 1867 erschienen ist. Auch im 21. Jahrhundert gilt die normannische Eroberung als «eines der wichtigsten Ereignisse in der europäischen Geschichte» (Huscroft). Dass den Ereignissen von 1066 ein so hoher Stellenwert für die Geschichte Englands und darüber hinaus beigemessen wird, hat mehrere Gründe. Zunächst einmal markiert die normannische Eroberung das Ende des angelsächsischen Königtums und den Beginn der anglo-normannischen Herrschaftszeit. Herzog Wilhelm von der Normandie siegte in der Schlacht von Hastings (14.10.1066), der englische König Harold Godwinson wurde dabei getötet. In der Folge konnte Wilhelm den Königsthron für sich gewinnen. England hatte fortan nicht nur einen normannischen König, sondern auch einen fast ausnahmslos normannischen Adel, denn es gab einen nahezu vollständigen Austausch der Eliten. Das hatte Auswirkungen auf die Regierung und Verwaltung des englischen Königreichs sowie auf die wirtschaftlichen Gegebenheiten. Die neue Oberschicht brachte zudem ihre Sprache und andere Gewohnheiten mit und setzte dadurch einen kulturellen Wandel in Gang.
Die Verbindung des normannischen Herzogtums mit dem englischen Königreich, die mit der Eroberung einherging, ließ die Beziehungen der britischen Insel zum Kontinent enger werden. Der englische König wurde als normannischer Herzog zugleich Lehnsmann des französischen Königs. Diese Verschränkung führte langfristig zu Auseinandersetzungen zwischen England und Frankreich und war letztlich eine der Ursachen für den sogenannten Hundertjährigen Krieg (1337–1453). Die normannische Eroberung ist also nicht nur für die englische Geschichte, sondern auch für die europäische Geschichte des Mittelalters von epochaler Bedeutung.
Wandteppich von Bayeux, spätes 11. Jh.: Bau der normannischen Flotte
Daneben werden die Ereignisse von 1066 häufig mit dem Ende der Wikingerzeit in Verbindung gebracht, das zwar nicht in der normannischen Eroberung begründet liegt, sich aber daran ablesen lässt. Der Versuch des norwegischen Königs Harald des Harten, England zu erobern, der mit seiner Niederlage in der Schlacht von Stamford Bridge (25.9.1066) endete, gilt als das letzte größere Vorhaben der «Wikinger», das in die Tat umgesetzt wurde.
Eine Besonderheit der normannischen Eroberung ist außerdem, dass sie schon bald in unterschiedlichen Medien aufgearbeitet wurde. Das bekannteste Beispiel dafür ist sicher der Teppich von Bayeux, der in einem eigens dafür eingerichteten Museum in Bayeux ausgestellt wird und seit 2007 zum Weltdokumentenerbe gehört (siehe auch die Abb. auf S. 43, 57, 59 und 96). Es handelt sich dabei eigentlich nicht um einen geknüpften oder gewebten Teppich, sondern um eine Stickerei, die auf einem Leinenstreifen angebracht wurde. Allein die Ausmaße des Teppichs von Bayeux sind beeindruckend: In seiner heutigen Form ist er fast 70 Meter lang und zwischen 45 und 54 Zentimeter hoch. Ursprünglich war er noch länger, das Ende ist aber beschädigt und unvollständig. Weder die genauen Umstände seiner Herstellung noch die Frage, welchem Zweck der Wandteppich diente, sind eindeutig geklärt. Die gängigste Interpretation ist, dass die Darstellungen aus dem Kloster Christ Church in Canterbury stammen und dort möglicherweise auch die Stickerei hergestellt wurde. Als wahrscheinlicher Auftraggeber gilt Odo, Bischof von Bayeux und Halbbruder von Wilhelm. Odo wurde nach der Eroberung Earl von Kent und hatte deshalb Verbindungen zum Kloster in Canterbury. Falls diese Vermutung zutrifft, muss der Teppich spätestens 1082 fertiggestellt worden sein, weil es in diesem Jahr zum Bruch zwischen Wilhelm und Odo kam.
Ungeklärt ist auch, für welches Publikum der Wandteppich gedacht war und wo er aufgehängt wurde. Zunächst dachte man an eine Fertigstellung für die Weihe der Bischofskirche in Bayeux, die 1077 stattfand. Dort befand sich der Teppich definitiv im Spätmittelalter und wurde auch jedes Jahr für eine Woche im Kirchenschiff aufgehängt. Das ist aber erst für 1476 bezeugt. Wo der Teppich in der Zwischenzeit war, ist nicht bekannt. Aufgrund der vielen Schlachtenszenen ging man später davon aus, dass normannische Adlige und Ritter das Zielpublikum waren und Odo den Wandteppich in seinen weltlichen Residenzen gezeigt haben könnte.
Was aber zeigt der Teppich von Bayeux? Er berichtet über die Geschichte der normannischen Eroberung, beginnt mit Ereignissen im unmittelbaren Vorfeld, bildet die Vorbereitungen und die Überfahrt ab und stellt in einer Reihe von Szenen die Schlacht von Hastings dar. Einige Personen und Ereignisse werden durch Beischriften erläutert, aber es gibt auch gänzlich unverständliche Szenen. Durch Parallelen zu schriftlichen Quellen lassen sich viele Szenen auf dem Teppich von Bayeux bestimmten Ereignissen zuordnen. Allerdings ist der Interpretationsspielraum groß, und es ist nicht einmal klar, ob der Teppich die normannische Sichtweise wiedergibt, um die Eroberung zu legitimieren, oder ob auch proenglische Elemente in die Darstellung aufgenommen wurden.
Der Teppich von Bayeux prägt aufgrund seiner plastischen Darstellungsweise die Vorstellungen von den Ereignissen der normannischen Eroberung. Auch wenn über die Bekanntheit und Wirkung im Mittelalter keine Aussagen getroffen werden können, so ist doch klar, dass er spätestens im 20. Jahrhundert eine weite Verbreitung gefunden hat. Seine Darstellungen sind immer wieder aufgegriffen worden, sei es in Dokumentationen zur englischen Geschichte oder in Spielfilmen, und zwar sowohl als Abbild des Originals als auch in angepasster Form. Ein aktuelles Beispiel ist die erfolgreiche Fernsehserie «Game of Thrones». In der Folge «Der Geist von Harrenhal» (2012) spielen sich im Vorfeld einer Schlacht einige Szenen in Zelten ab. Im Hintergrund sind Wandteppiche zu sehen, die nach dem Muster des Teppichs von Bayeux gestaltet wurden. So wird dieses monumentale Bildzeugnis in ganz andere Zusammenhänge gebracht und transportiert dabei Vorstellungswelten aus dem Mittelalter.
Das Spiel mit unterschiedlichen Medien gab es bereits im Mittelalter selbst. So besingt Balderich von Bourgueil in einem Gedicht, das er um 1100 verfasst und Adela, der Tochter Wilhelms des Eroberers, gewidmet hat, einen (fiktiven) Wandbehang, der die Ereignisse der Eroberung darstellt. Ob Balderich den Teppich von Bayeux kannte oder selbst gesehen hat, ist umstritten. Balderichs Gedicht ist nicht die einzige Schilderung der normannischen Eroberung in Versform. Schon wenige Jahre nach der Eroberung, vermutlich zwischen 1067 und 1070, entstand das «Lied von der Schlacht von Hastings» (Carmen de Hastingae Proelio). Der Autor ist vermutlich Guido, Bischof von Amiens. Sein Lied ist eine der ersten schriftlichen Quellen zur Schlacht von Hastings. Durch seinen literarischen Charakter und seine heldenepischen Züge ist es aber nicht immer glaubwürdig, beispielsweise bei der Darstellung von Harolds Tod (siehe S. 60). Ebenfalls in Versen verfasst ist die «Geschichte der Engländer» (Estoire des Engleis) von Geffrei Gaimar, einem Geistlichen, der dieses Werk zwischen März 1136 und April 1137 für eine Frau aus dem mittleren Adel in Lincolnshire schrieb. Diese Chronik ist die älteste überlieferte Geschichtsschreibung in französischer Sprache – entstanden im anglo-normannischen England und geschrieben möglicherweise von einem Engländer, auch wenn Gaimars Herkunft nicht sicher ist.
Generell lässt sich feststellen, dass es zur normannischen Eroberung viele schriftliche Quellen gibt, besonders im Vergleich zur angelsächsischen Zeit davor. Viele der Werke sind dabei aus einem spezifischen Blickwinkel geschrieben. Eine explizit normannische Sichtweise nehmen Wilhelm von Jumièges und Wilhelm von Poitiers ein. In beiden Fällen stehen die Legitimierung von Wilhelms Herrschaft und die Rechtfertigung der Eroberung im Mittelpunkt. Wilhelm von Jumièges war Mönch in der normannischen Abtei Jumièges, die rund 25 Kilometer westlich des Hauptortes Rouen liegt. Er schrieb seine «Taten der Herzöge der Normannen» (Gesta Normannorum ducum) bereits...