II. Die Sinfonien
Erster Versuch als «Schularbeit»: Studiensinfonie (f-Moll), WAB 99
In der ersten Hälfte des Jahres 1863, in dessen Sommer Bruckner seinen Kompositionsunterricht bei Otto Kitzler abschloss, musste (oder durfte) sich der Schüler mit der Annäherung an die Sinfonie befassen. Das Ende des «Kitzler-Studienbuchs» enthält mehr als zwei Dutzend Motive für einen Sinfonie-Beginn, unter denen der erste (vom 7. Januar 1863) insofern interessant ist, als er als einziger eine langsame Einleitung vorsieht. Bekanntlich war dies für den späteren Bruckner, mit der Ausnahme der Fünften Sinfonie, keine Option mehr. Danach folgen unter dem Titel «Motive» weitere, mit römischen Ziffern durchnumerierte mögliche Anfänge; alle stehen sie in d-Moll. Erst nach dem 20. Versuch erweitert sich der Tonartenkreis, und der 25. Vorstoß schließlich zeigt den Beginn der späteren f-Moll-Sinfonie (KStB, 314). Offenbar haben Lehrer und Schüler ihn sogleich als für die weitere Ausarbeitung geeignet befunden; jedenfalls folgen unmittelbar darauf Skizzen für weitere Sätze. Die eigentliche Ausführung erfolgte dann im Frühjahr 1863 nicht mehr im Studienbuch, sondern in einem separaten Manuskript, das den zunächst noch sehr vorsichtigen, dann aber immer sicherer werdenden Komponisten (und nur wenige Einträge Kitzlers) erkennen lässt. Am 15. Februar begonnen, war diese erste Sinfonie Anton Bruckners am 26. Mai 1863 zu Ende komponiert und wurde, wie Bruckner in seinen Studienmaterialen vermerkt, im Juli zusammen mit der anderen Abschlussarbeit, dem 112. Psalm, endgültig «beschlossen» (KStB, 325). Erst auf einer späteren Abschrift hat der anfänglich sicherlich stolze Komponist sie eigenhändig als «Schularbeit» qualifiziert.
Es fällt nicht ganz leicht, sich bei der Werkbetrachtung der Suggestion, die von Bruckners späteren Sinfonien ausgeht, als einem Vergleichsmaßstab zu entziehen. In der Tat wird man einige typische Merkmale «der» Bruckner-Sinfonie feststellen, die schon hier vollkommen ausgeprägt sind. Zu ihnen gehört weniger die Tatsache der Abfolge von vier Sätzen, an der Bruckner bis zuletzt festgehalten hat, als vielmehr der Umstand, dass die Sonatenform der Ecksätze bereits die charakteristische trithematische Struktur aufweist und dass die Form des Scherzos von Anfang an feststeht. Andererseits ist von der überwältigenden Wagner-Erfahrung, unter deren Eindruck Bruckner um diese Zeit gestanden haben muss, fast noch nichts in die eigene Musik eingegangen. Der Tonfall des Werks erinnert vielfach an die Sinfonik Mendelssohns und Schumanns – dies allerdings auf einem außerordentlich hohen Niveau: Das Urteil des Lehrers, der sich später erinnerte, die Abschlussarbeit seines Schülers «nicht besonders inspiriert» gefunden zu haben (Kitzler 1904, 30), ist nicht wirklich nachvollziehbar. Auf einige wenige Stellen mag es vielleicht zutreffen, viele andere hingegen sind von frappierender Originalität.
Zu diesen etwa zählt der hinreißende Abschluss des Kopfsatzes, der mit einer von Blechbläserfanfaren sekundierten Klangkaskade von herabstürzenden Sequenzen und Wiederholungen des eintaktigen Kopfmotivs gestaltet wird. Das ist deshalb so bemerkenswert, weil diese ultimative Reduktion des Hauptthemas auf seinen Kern, hier das Motiv des ersten Takts, einerseits später zu Bruckners dramaturgischem Standardrepertoire gehören wird, andererseits an dieser Stelle aber noch als das Resultat eines stringenten thematischen Prozessdenkens erscheint, das Bruckner schon bald hinter sich lassen sollte. Insofern wird man bei fast allen Einzelheiten auf eine eigentümliche Mischung der Parameter stoßen: solche, die Bruckner später systematisch ausbauen, und solche, die er nach anfänglich geradezu mustergültiger Absolvierung später ebenso planvoll abstoßen wird. Man kann das exemplarisch am Hauptthema und dem aus ihm abgeleiteten Prozess zeigen. Das vierzehn Takte umfassende Thema zeigt eine klare Syntax aus zwei sich ergänzenden Phrasen, die sich ihrerseits in zwei komplementäre Hälften gliedern. Es ist für seine prozessuale Verarbeitung geradezu prädestiniert (und daher wohl auch aus den Studienbuch-Motiven ausgewählt worden), weil es in fast didaktischer Klarheit mehrere Motivbestandteile vereint, in die es später zerlegt werden kann: in der ersten (leisen) Hälfte der Anfangsphrase einen rhythmisch mit höchster Charakteristik gespannten ersten Takt (diesem Motiv wird am Schluss die Hauptrolle zukommen) und eine daraus hervortretende Folge von Staccato-Vierteln, dann in der zweiten (lauten) Phrasenhälfte, in scharfem Kontrast dazu, eine ins Fortissimo ausbrechende akkordische Kadenzformel des vollen Orchesters. Nach dieser ersten Phrase folgt eine rhythmisch und klanglich genau gleich gebaute zweite Phrase, die das Ganze zu dem symmetrischen Gebilde einer fast klassischen Periode zusammenzwingt. Doch eben nur fast: Die beiden Hälften des Themas umfassen erstaunlicherweise je sieben (und nicht acht) Takte, die allerdings in einer symmetrischen Gestalt von gerader (wenn auch unorthodoxer) Taktanzahl aufgehoben werden, und das Ende dieser vierzehntaktigen Periode kadenziert nicht in der Tonika, sondern mündet in eine für das Folgende geöffnete Dissonanz.
In der Durchführung arbeitet Bruckner die motivischen Bestandteile dieses Themas mit allen klassischen Techniken der Abspaltung und Sequenzierung regelrecht ab: in der ersten Hälfte zunächst die Folge aus Staccato-Achteln, dann in einer zweiten Hälfte die akkordische Kadenzformel. All dies geschieht unter fast vollständiger und dadurch beredter Aussparung des ersten Thementakts. Dieser wird in höchst spannungsreicher Weise erst für die Herbeiführung der Reprise eingesetzt, die daher mit bezwingender Wirkung und großer Folgerichtigkeit aus ihm hervorgeht (T. 364). Der spektakuläre Schlussauftritt dieses Themenkopfs ereignet sich dann schließlich, wie erwähnt, in der Coda als letzte Station einer Kette von Steigerungsstufen: Der Satz endet in höchster Fortissimo-Klanggewalt mit demselben eintaktigen Motiv, mit dem er im Pianissimo begonnen hatte. Dieser Schluss zeigt bereits jene überaus charakteristische Gestaltung des Satzhöhepunkts, der das auf seinen motivischen Kern reduzierte, von strahlender Fanfarenbegleitung getragene Hauptthema aus einer durch Stauungen und Retardationen gespannten Steigerungswelle hervorbrechen lässt. Der entscheidende Unterschied zum späteren Konzept besteht nur darin, dass Bruckner diese Idee hier noch einer geradezu traditionellen sinfonischen Diskurs- und Prozesslogik anvertraut, von der er sich später emanzipiert.
Tribute an Konvention und Tradition verweben sich aufs Engste mit jener auf den späteren Stil vorausweisenden Experimentierlust und Originalität, die diese «Schularbeit» als Studienobjekt so außerordentlich faszinierend macht. Die Sonatenform des Kopfsatzes ist fast schon ganz Bruckners eigene: Hauptthema, Gesangsperiode (T. 85) und Schlussgruppe (T. 146) sind, auch ihrem ausgeprägten Charakter nach, als die obligaten drei Themenfelder bereits vorhanden, und wie nicht selten in Bruckners späteren Sinfonien tritt danach noch ein überzähliges, die Exposition zu einem ruhevollen Abschluss bringendes und in der Reprise nicht wiederkehrendes viertes Themenfeld auf (T. 180), das im vorliegenden Fall auf raffinierte Weise die rhythmische Kontur des abwesenden Hauptthemenkopfs in Erinnerung ruft. Zum ersten und letzten Mal in Bruckners Sinfonik wird die Wiederholung der Exposition ausdrücklich vorgeschrieben. Die Reprise, die alle drei Themen (T. 364, T. 432, T. 493) verkürzt wiederkehren lässt, überspringt das vierte Themenfeld zugunsten eines unmittelbaren Übergangs in die Coda (T. 511), die ihrerseits bereits tief in das Arsenal der später so klug eingesetzten Steigerungsmittel greift: spannungserzeugende Generalpause (T. 570) und retardierender p-Einschub zwischen zwei ff-Klangblöcken (T. 603–606).
Das Finale ist, wie immer bei Bruckner, im Prinzip ähnlich gebaut, weist aber einige Züge auf, die nicht etwa als Ungeschicklichkeiten, sondern als frühe Indizien für ein bewusstes Ansteuern einer eigenen Finale-Konzeption gedeutet werden sollten. Es beginnt sogleich mit voller Kraft und ebenfalls mit einem Thema, von dem für den späteren Satzverlauf und für die Schlussgestaltung nur der rhythmisch prägnante erste Takt, also der motivische Kopf, gebraucht wird. Ein lyrisches Seitenthema, die übliche Gesangsperiode, schließt sich an (T. 60), wie auch schon im Kopfsatz in der an dieser Stelle üblichen Dur-Parallele As-Dur, und eine mit neuer dynamischer und motivischer Energie versehene Schlussgruppe (T. 92) macht am Ende der Exposition dem überzähligen und dadurch gleichsam «exterritorialen» vierten Themenfeld Platz. Auch hier wird, zum letzten Mal, ausdrücklich die Wiederholung der Exposition verlangt. Die Durchführung stützt sich in schulbuchgerechter Erfüllung des Gebots zu motivisch-thematischer Arbeit fast ausschließlich auf den rhythmisch prägnanten Kopf des Hauptthemas; im Zentrum des Formteils probiert Bruckner sogar – noch weitaus weniger überzeugend als in seinem reifen Sinfoniestil – die aus der Kontrapunkttradition...