Betaferon
Brechen wir die Fratzertherapie ab? Diese Frage wurde zwischen Ingrid und mir lange diskutiert. Das hing zusammen mit Meldungen in großen überregionalen Zeitungen über ein völlig neues Medikament zur MS-Therapie und dessen Zulassung in Deutschland ab 1996: BETAFERON.
Für Leute, die bei diesem Namen nicht sofort den Wirkungsmechanismus abrufen können, hier das Wichtigste: MS ist der Angriff des Immunsystems auf das körpereigene Gewebe. Betaferon moduliert aber bestimmte Aktionen der fehlgeleiteten Abwehrzellen. Um das zu verstehen muss man die Interferone erklären. Interferone umfassen eine Familie von Eiweißen, die im Körper von bestimmten Abwehrzellen produziert werden, um das Immunsystem zu jedem Anlass der aktuellen Körper-Situation anzupassen. So unterscheidet man zwischen:
Alpha – Beta – und Gamma-Interferonen.
Der Typ II-Interferon Gamma wirkt entzündungssteigernd, und wird bei der MS verstärkt hervorgerufen (die Ursache ist unbekannt). Der Typ I- Interferon Beta ist der Gegenspieler, er wirkt entzündungshemmend und wird bei der MS-Therapie eingesetzt. Damit wirkt er modulierend. Nachdem Betaferon in den US-Forschungslaboren synthetisch hergestellt und dort als Medikament zugelassen wurde, bekam es in Deutschland seine Zulassung 1996. Der Berliner Pharmakonzern Schering bekam als erster die Erlaubnis im Dezember 1995 für die EU. Das war ein Riesendurchbruch für die MS-Therapie in Deutschland. Und dieser Durchbruch sorgte auch an unseren Plätzen im gläsernen Zug für heftige Diskussionen. Das Ergebnis lässt sich etwa so beschreiben: Wir warten jetzt noch etwas die Entwicklung ab. Im Frühjahr 1998 suchen wir dann den geistigen und fachlichen Erben der Fratzer-Therapie, in seiner Praxis auf. Sind seine Therapie-Empfehlungen innovativ, bleiben wir auf unserem Platz im Zug. Wenn aber nur eine Fratzertherapie mit anderem Gesicht erkennbar ist, dann wollen wir uns einen Platz im BETAFERON-Abteil des MS live Zuges suchen. So getan:
Dr. H. stellt folgenden neurologischen Status fest. (verkürzt hier wiedergegeben)
Verlaufsform: | progredient chronisch |
Schweregrad: | 4.0 EdSS nach Kurtzke (siehe Erläuterung zur sog. Kurtzke-Skala) |
Gang: | etwas verbreitert, rechts Fussheberschwäche |
Strecke: | ½ bis 2km, eingehakt lieber |
Stand Einbein: | Links unsicher |
Augenbewegung: | seitengleich |
Sehschärfe: | nicht korrigiert |
Sensibilitätsstörung: | selten, (rechte Hand: spürt nicht, dass sie etwas hält) |
Veget. Funktionen: | Blase oB., Darm obstipiert (klassisch), 2-3 tägig Kräuterlax. |
Kraft/ Beweglichkeit: | Arme: lks: 0 rechts: + |
Reflexe: | Es folgen plus/minus Ergebnisse von 8 Reflexprüfungen, die dem Laien wenig sagen |
Erläuterung zur Kurtzke-Skala:
Bei der Entwicklung seiner Skala legte der Neurologe Kurtzke die neurologische Untersuchung zu Grunde und unterschied die Funktionssysteme des Gehirns und des Rückenmarks: Pyramidenbahn/Kraft-und Mukelspannung; Kleinhirn/Koordination; Hirnstamm/Hirnnervenfunktion; Sensibilität; Blasen/Mastdarmfunktion; Sehfunktion; Zerebrale Funktion(kognitive Funktionen, Fatigue) Für die Funktionssysteme werden getrennt Werte vergeben:
1 = | abnormer Befund ohne Behinderung |
2 = | abnormer Befund mit leichter Funktionsstörung |
3 = | abnormer Befund mit deutlicher Funktionsstörung/ leichter Behinderung |
4 = | abnormer Befund mit erheblicher Funktionsstörung/ Behinderung, 500 m gehfähig |
5 = | gehfähig ohne Hilfe und Ruhepause für etwa 200 m. Tägliche Aktivitäten sind möglich |
6 = | mit einseitiger oder zeitweiliger Unterstützung (Gehhilfe) ohne Ruhepause gehfähig für etwa 100 m |
7 = | nicht fähig, selbst mit Hilfe, mehr als 5 m zu gehen; weit gehend rollstuhlbedürftig, der aber ohne Hilfe benutzt werden kann |
8 = | an Bett und Rollstuhl gebunden, Pflege z.T. möglich, FS wie bei 7 oder schlechter |
9 = | Hilflos, an Bett gebunden, Mahlzeiten und Kommunikation noch teilweise möglich |
Die Skala der DMSG arbeitet noch mit halben Werten, also 4.5 usw., um die Einschränkungen zu präzisieren, darauf wurde hier verzichtet.
Der Dosierplan von Dr. H. empfahl:
Epa meditranso, Lipo E (Vitamin E600), Sevinorm und Seapower, Muschelenergie, Coenzym Q10, immer 2-3 Kapseln über den Tag verteilt, addiert: 13 Kapseln. Außerdem Empfehlung eines Urbason-Stoßes: 5 Tage á 4 Tbl. 40 mg. morgens nach dem Frühstück.
Fazit: Diese Therapie war nicht neu, das hatten wir schon hinter uns. Wenn Ingrids MS-Symptomatik den Kurtzke-Schweregrad 4 nach Dr. H. erfüllte, also erhebliche Funktionsstörung und Behinderung aufwies, dann war für uns das Maß der Unzufriedenheit im Frühjahr 1998 erfüllt. Wir wollten endlich spürbare Ergebnisse.
Hoffnung AVONEX
Hersteller: Biogen-idec
Dieses Betaferon-Medikament war in der Schweiz zugelassen. Mit dem Stuttgarter Neurologen Dr. G. fanden wir einen überzeugten Befürworter der Immunmodulation. Er war auch bei Ingrids MS-Typ “sekundär-chronisch progredient“ klar positioniert: „..diese Injektion wird Ihnen die Hoffnung auf Krankheitsstillstand zurückgeben.“ Wir waren uns von Beginn an einig über seine hohe, fachliche Kompetenz. Ruhig hörte er sich Ingrids breite Schilderungen ihrer Leiden und Enttäuschungen der letzten Jahre an. Dann entgegnete er: „ Ja, ich habe schon einige Fratzer-Therapie Anhänger hier auf dem Stuhl vor mir gehabt.
Alle begannen mit großen, fliegenden Hoffnungen. Nur, dass diese Hoffnungen sich nicht erfüllten.
Das habe ihn als Neurologen schließlich zu der Erkenntnis gebracht, das die Fratzer-Therapie unterm Strich nichts bringe.“
Dann stellte er uns die Einzelheiten der Avonex-Injektionstherapie vor. Ganz neu und spannend war für mich die Tatsache der Selbstausführung der Injektion. Dafür war etwa 2 bis 3x eine Schulung in seiner Praxis vorgesehen. Wir sagten zu. Zweite Bedingung: Ingrids Blut- und Leberwerte mussten monatlich vom Hausarzt kontrolliert werden.
Sehr vorsichtig und fast pedantisch fand ich das zunächst. Aber das heißt natürlich auch im Umkehrschluss, ein starkes Eingreifen in körpereigene Hormon- und Stoffwechselvorgänge wird stattfinden. Das war das Entscheidende.
Auch die Tatsache, dass er Ingrid zu einer Kernspintomografie überwies, stimmte mich optimistisch. Die letzte MRT war vor 10 Jahren im Bürgerhospital gemacht worden. Die Auswertung der aktuellen sei hier wiedergegeben:
Kernspintomographie des Gehirnschädels (Dr. K.):
Multiple periventrikuläre Entmarkungsherde klein- bis großfleckig, teilweise konfluierend (zusammenfließend.
Corticale(äußere Hirnrinde) und subcorticale (unter der Hirnrinde) Atrophie(Abbau).
Als alarmierend ist es schon zu werten, wenn das Verschwinden von grauer Hirnsubstanz ganz sachlich konstatiert wird. Auch die Entmarkungsherde um die Hirnrinde hatten nach 9 Jahren zugenommen. Wie hieß das noch bei der letzten Kernspintomographie am 22.9. 89:
Darstellung multipler Entmarkungsherde subependymal....(gemeint ist beim Ependym die dünnhäutige Zellauskleidung der Ventrikel, und zwar unterhalb dieser).
Hält man die MRT-Befunde von 1989 und 1998 nebeneinander und bewertet sie...