2. Selbstvertrauen und Selbstgefühl
Einführung
Selbstvertrauen und Selbstgefühl sind wie zwei verschiedene Stiefel, der linke Stiefel passt eben nicht an den rechten Fuß. Dabei ist es ganz einfach: Das Selbstvertrauen bezieht sich auf das, was ich kann. Ich kann zum Beispiel dreieinhalb Meter weit springen. Je besser wir eine Sache beherrschen, desto mehr vertrauen wir uns selbst. Selbstvertrauen entsteht proportional zu unseren körperlichen, geistigen, kreativen Leistungen auf den unterschiedlichsten Gebieten. Wenn wir etwas gut können, haben wir Selbstvertrauen.
Das Selbstgefühl (früher Selbstwertgefühl) bezieht sich auf das, was ich bin. Selbstgefühl ist die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen und sich dazu emotional zu verhalten. Schwierig wird es, wenn wir den Unterschied zwischen Selbstvertrauen und Selbstgefühl nicht kennen und beide Begriffe in einen Topf werfen. Dann verwechseln wir »Können« und »Sein«, versuchen durch immer mehr Leistung, Zufriedenheit zu erzeugen, und wundern uns, dass die Zufriedenheit nur kurz anhält oder gar keinen Einfluss auf unser Selbstgefühl hat.
Wie sorge ich denn dann für ein gesundes Selbstgefühl? Indem ich gut für meine eigene Integrität und die meines Kindes sorge: Wenn Eltern bewusst für die Integrität ihres Kindes sorgen, indem sie seine Versuche, sich abzugrenzen und sich zu zeigen, respektieren, schaffen sie eine optimale Grundlage zur Entwicklung seines gesunden Selbstgefühls. Mit einem gesunden Selbstgefühl entscheiden wir weitgehend intuitiv, was uns guttut und was nicht. Eine intakte Integrität, ein gut entwickeltes Selbstgefühl und eine Beziehung, in der Wachstum möglich und erwünscht ist, sind sozusagen die Grundlagen für gelingende Beziehungen zu unseren Kindern und Partnern. Wie also stärke ich mein eigenes Selbstgefühl? Indem ich im Einklang mit meinen Werten und gemäß meiner persönlichen Integrität handle.
Die Beschreibung eines geringen und eines gesunden Selbstgefühls könnte in diesem Zusammenhang für mehr Klarheit sorgen: Ein geringes Selbstgefühl und die dadurch eingeschränkten Möglichkeiten, mit seiner Integrität und inneren Verantwortlichkeit in Verbindung zu treten, erschweren es, konstruktive und persönliche Ziele zu formulieren und somit das Zusammenspiel mit anderen als wertvoll und befriedigend wahrzunehmen. Während Menschen mit einem gesünderen Selbstgefühl an ihrer natürlichen Autorität, ihrer authentischen Präsenz und ihrer nüchtern akzeptierenden Selbsteinschätzung zu erkennen sind, hat das geringere Selbstgefühl mindestens zwei verschiedene Erscheinungsformen, die man sehr vorsichtig wie folgt einteilen könnte: die eher nach innen gekehrten und die eher nach außen gekehrten Menschen. Beide beschriebenen Gruppen haben gemein, dass sie sich schwer dabei tun, ihre passende innere und äußere Größe zu finden. Ein Grund dafür könnte sein, dass sie keine oder nur ungenügende Vorbilder hatten und sich daraufhin entschlossen, zu improvisieren. Daraus können wir ableiten: Je besser es den wichtigen erwachsenen Personen im Leben eines Kindes gelingt, die eigene Integrität zu schützen und die des Kindes zu fördern, desto bessere Bedingungen hat das Kind bei der Entwicklung seines Selbstgefühls.
Ein gut entwickeltes, gesundes Selbstgefühl entsteht auch, wenn wir Wertungen durch Feststellungen ersetzen. »Ich habe Plattfüße und hasse mich dafür«, wäre zum Beispiel eine negative Wertung gegenüber dem, was ich über mich selbst weiß. Mit einem gesünderen Selbstgefühl kann ich gelassen feststellen: »Ich habe Plattfüße, so bin ich eben gebaut.«
Solch eine nüchterne und akzeptierende Selbsteinschätzung trägt wesentlich zur Verbesserung unserer persönlichen Umstände bei. Sie ermöglicht es uns, mit schwierigen Situationen leichter zurechtzukommen. Wir sollten uns stets vergegenwärtigen, dass unsere negativen Wertungen nicht unserem wahren Selbst entsprechen, sondern nur der Kritik, die wir durch andere erfahren haben. Wir haben mit diesen Menschen in der Hoffnung kooperiert, dass sie es besser wissen als wir selbst – manchmal auch aus Angst, was passieren würde, wenn wir unsere eigenen Wahrnehmungen und Gefühle zum Ausdruck bringen würden.
Selbstgefühl ist nicht gleich Selbstvertrauen
Ich selbst gehöre einer Generation an, die ohne Selbstgefühl großgeworden ist. Da ich mittlerweile jedoch etwas Selbstvertrauen aufgebaut habe, gelingt es mir inzwischen sogar, öffentliche Vorträge zu halten.
Vor circa 40 Jahren arbeitete ich als Sozialpädagoge mit schwer belasteten Kindern und Jugendlichen, und uns wurde damals ständig gesagt, dass wir vor allem das mangelnde Selbstvertrauen dieser Jugendlichen stärken müssten. Demzufolge haben wir ihnen verschiedenste Angebote gemacht – Sport, Werken, Theater, Musik etc. –, die ihnen helfen sollten, ein gesundes Selbstvertrauen zu entwickeln. Wir mussten jedoch schon bald feststellen, dass diese Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg brachten. Die Jugendlichen entwickelten zwar ein wenig Selbstvertrauen, aber das brachte sie in ihrem Leben nicht wirklich weiter. Da kamen uns die ersten Zweifel, ob unser Ansatz überhaupt der richtige sei. Wir hatten angenommen, das Selbstvertrauen der Jugendlichen stärken zu müssen, weil diese zahlreiche Verluste und Niederlagen erlitten hatten, also wollten wir ihnen gewissermaßen durch viele kleine Siege auf die Sprünge helfen. Offensichtlich waren wir dabei aber auf der falschen Spur.
In meiner Zeit als Psychotherapeut habe ich dann entdeckt, dass uns in großen Teilen Europas ein Übersetzungsfehler unterlaufen war, der dazu beigetragen haben könnte. Es gibt in der Pädagogik zwei Begriffe, die wie viele andere aus dem Amerikanischen übernommen wurden:
self-esteem = Selbstgefühl und self-confidence = Selbstvertrauen
Die Amerikaner betonten stets, dass die Kinder self-esteem aufbauen sollten. In der Praxis wird jedoch auch in den USA seit Jahrzehnten vor allem das Selbstvertrauen gestärkt, indem Leistung gefordert und Lob verteilt wird. Und jeder, der sich dafür interessiert, kann sehen, was dabei herausgekommen ist – mehrere Generationen Menschen, die ein überentwickeltes Ego, aber ein unterentwickeltes Selbstgefühl haben. Dasselbe geschieht derzeit in Europa. Denn einem verhältnismäßig neuen Trend zufolge werden Kinder für alles Mögliche gelobt, selbst für natürlichste und banalste Handlungen. Ob sie auf die Toilette gehen, ob sie essen, schlafen oder aufwachen – man lobt sie quasi rund um die Uhr nach der schlichten Devise: Ich lobe dich, also liebe ich dich. Oder: Ich liebe dich, weil ich dich lobe. Aber das ist ein gedanklicher Kurzschluss, der mehr Schaden als Nutzen bewirkt, weil er Kindern in keiner Weise hilft, ihr Selbstgefühl zu verbessern.
Auf die entscheidende Bedeutung des Selbstgefühls bin ich als Therapeut einmal von einer jungen, hübschen Klientin gestoßen worden, wofür ich ihr immer noch dankbar bin. Nachdem wir ein paar Stunden miteinander gesprochen hatten, sagte sie mir auf den Kopf zu: »Jesper, wenn du nicht begreifst, dass man gut aussehen und trotzdem kein Selbstgefühl haben kann, dann muss ich mir einen anderen Therapeuten suchen.« Rums, das hatte wirklich gesessen!
Um ein intaktes Selbstgefühl zu besitzen, sind wir darauf angewiesen, von anderen Menschen wahrgenommen, also im umfassenden Sinne »gesehen« zu werden.
Für Kinder ist es lebenswichtig, von ihren Eltern gesehen zu werden. Menschen, die eine Behinderung haben, die entweder außerordentlich oder nicht sehr attraktiv sind, fühlen sich oft nicht richtig gesehen, sondern nur beobachtet. Diese Menschen können natürlich viel Selbstvertrauen besitzen, doch meistens haben sie wenig Selbstgefühl. So wie die junge Klientin, von der ich gerade berichtet habe.
Natürlich ist es gut und wichtig, das Selbstvertrauen unserer Kinder zu stärken. Pädagogen aller Art haben sich schon immer dieses Werkzeugs bedient. Wir müssen jedoch stets im Auge behalten, dass sich das Selbstvertrauen eines Menschen proportional zur Qualität seiner Leistungen verhält. Zwei Beispiele:
- Da ich nicht viel von Mathematik verstehe, ist mein Selbstvertrauen in diesem Bereich ziemlich gering, was jedem verständlich sein dürfte.
- Wenn ich ein leidenschaftlicher Fußballer bin, aber erkennen muss, dass meine Fähigkeiten nicht ausreichen, um die Profilaufbahn einzuschlagen, leidet darunter mein Selbstvertrauen als Fußballer.
So ist es in jedem Bereich, weil Selbstvertrauen stets von dem handelt, was wir können, von unseren konkreten Fähigkeiten bzw. unserem Unvermögen, bestimmte Dinge zu leisten.
Mein Selbstvertrauen verhält sich proportional zur Qualität meiner Leistungen.
Aus der Perspektive eines Psychologen ist Selbstvertrauen eigentlich eine recht uninteressante Größe. Man mag sich überlegen, wodurch es bei manchen Menschen beeinträchtigt wird und wie man es stärken kann. Die entscheidende Frage lautet aber vielmehr, wie es um das Selbstgefühl steht.
Ein gesundes Selbstgefühl bedeutet, in der Lage zu sein, sich selbst nüchtern, nuanciert und akzeptierend zu betrachten.
Das Selbstgefühl kann mehr oder weniger gesund oder intakt sein. Mit den Adjektiven groß oder klein lässt sich seine Qualität nicht beschreiben. Kategorien wie richtig oder falsch, gut oder schlecht, positiv oder negativ haben in diesem Kontext nichts zu...