01 Micki Wohlfahrt
Mein Name ist Micki Wohlfahrt, gebürtiger Dortmunder, aber seit 50 Jahren in Witten lebend, dem großen Parkplatz von Dortmund. Mittlerweile bin ich 56 Jahre alt, Tendenz 57, und ich bin ein mittlerweile sehr positiv ausgerichteter, sehr zufriedener Mensch, der natürlich trotzdem auch seine Krisen hat. Ich habe eine spannende Lebensgeschichte, weil ich nach über 20 Jahren Kinder- und Jugendarbeit im sozialen Bereich mit 48 die wilde Idee hatte, einen freiberuflichen Weg einzuschlagen. Das war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Und eine der Entscheidungen, die so viele Leute nicht verstanden haben:
Wie kann man 15 Jahre vor der Rente aus einer sicheren unbefristeten Stelle rausgehen und in das Risiko Freiberuflichkeit hineingehen? Meine Entscheidung hat übrigens dazu geführt, dass sich viele meiner Bekannten dann auch die Frage stellten, wie ihr Leben eigentlich aussieht. Der größte Teil der Menschen hier in diesem Land hat ja ein sehr großes Sicherheitsdenken. Dem ordnen sie eigentlich alles unter. Dabei vergessen sie, ihr eigenes Leben zu leben. Das ist eine der großen Erfahrungen, die ich mit dem Schritt gesammelt habe. Für mich war es ein großer Schritt der Befreiung, aber auch ein Schritt auf ein großes neues Feld, von dem ich anfangs noch gar nicht ahnen konnte, wieviel Spannendes es zu entdecken und kennenzulernen geben würde.
Und das klappt jetzt mit dem Aufnehmen?
Ja, das hoffe ich doch sehr. Ich hab eine Testrunde am letzten Sonntag gemacht. Schlimmerweise hört man sogar alle meine Atemgeräusche.
Musst Du noch ne Stange Kippen aus dem Kofferraum holen, oder haben wir genug?
Ich hab nicht genug, aber das wird dafür reichen.
Ich habe versucht, wie immer ein guter Gastgeber zu sein. Für Dich habe ich ein stilles Wasser im Gepäck. Du kannst mich gerne erleichtern oder Deine Stimme ölen. Bier wollte ich dem Autofahrer nicht antun.
(lacht) Du meine Güte. Jetzt zu Deiner BuchIdee...
Seit zwei Jahren schleppe ich schon den Gedanken mit mir herum, all das, was so die
letzten Jahre passiert ist – Laden auf, Laden zu, und dann die zweite Nummer – möchte ich doch gerne mal loswerden. Ich suchte dann nach dem richtigen Weg, das alles zu verarbeiten und hab gemerkt, dass mir als Journalist das Medium des Schreibens da naheliegt. Dann hab ich angefangen, das in „Prosa“ zu schreiben.
In Prosa? Deine Geschichte der letzten zwölf Jahre in Prosa, also da wäre ich ja mal richtig gespannt.
Okay, vielleicht ist das stilistisch jetzt nicht ganz richtig. Weniger emotional könnte ich auch Fließtext sagen. Habe das runtergeschrieben. Du bist aber mit den Umfängen unzufrieden, drehst Dich mit den Texten irgendwie sieben Mal im Kreis. Ich hatte zwar 80 Seiten geschrieben, damit aber fünfmal das Selbe erzählt, wenn auch aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Irgendwie war es das nicht.
Dann war ich hier am See unterwegs, das mache ich schon seit ein paar Jahren, und es tut mir jedes mal gut. Vom Ausmaß her schaffe ich das, bin – Achtung Wortspiel – nah am Wasser gebaut und brauche gelegentlich ein bisschen Gewässer in meiner Nähe. Ein guter Naherholungsort für mich. Mal den Kopf frei kriegen, mit einem Gedanken weiterkommen, das geht hier ganz gut. Hab das für mich gut etablieren können.
Mit ein paar Arbeitskollegen gehe ich mittags immer so etwa 200 Meter einen Knapp hoch Richtung Kantine. Laufen und sprechen – wohlgemerkt gleichzeitig – kann ja unheimlich anstrengend sein. Hätteste damals zum Grundkurs Atemtechnik mal ja gesagt.
Du musst einfach mehr üben. Du musst bei den Runden um den See eigentlich viel mehr Gespräche führen. Wie so vieles trainiert sich das ja auch nur durch machen. Das war so das Zahnrädchen, das fehlte. Vier Wochen lang räumte ich nun auch noch im Keller auf und sortierte Zeitungsartikel. Aus besagten zwölf Jahren hab ich mittlerweile so 35 bis 40 solcher durchsichtigen Ikea-Kisten, sehr vieles davon muss noch aufbewahrt werden, aber vieles kann auch mal weggeschmissen werden. Man muss nicht jede Ankündigung aufbewahren, der schöne Nachbericht, an dem das Herz hängt, tut es auch. Mit vielem anderen kann man mal ein schickes Osterfeuer machen.
Dabei habe mich sehr an meine tolle Zeit als Journalist erinnert. Neugierig war ich schon immer. Du erfährst etwas, willst das dann aber auch weitergeben, mitteilen. Geschichten nur zu erleben, und hinterher frisst sie die Katze, das hat mir nie gereicht. Deshalb war das auch immer schön, einen Artikel über Erlebtes schreiben zu können. Die Berichtsform des direkten Interviews hat mir dabei schon immer sehr gefallen. Direkt. Unverschnörkelt. Da kommst Du vielleicht auch mit dem Umfang besser zurecht, als 300 Seiten immer das gleiche zu schreiben. Und ich habe Menschen gefragt, ob sie mitmachen: Viele waren sofort bereit dazu.
Das kann ich sehr gut verstehen. Die nächste Frage ist: Wer liest sowas? Das ist die kritische Variante daran.
Richtig. Ich denke, dass ich über den Bogen der vielen Menschen, die ich befrage und mit denen ich zu tun hatte, eine interessante Mischung anbiete.
Dann bin ich jedenfalls nach Hause vom besagten Abend am See und hab mich hingesetzt und eine Liste möglicher Gesprächspartner geschrieben. Und bei 100 aufgehört.
(lacht) Ja, kann ich nachvollziehen.
Und du denkst, ich hab doch wirklich nur die ersten 60 aus dem Gedächtnis geschrieben. Dann hab ich mein Handy genommen und bin die Kontakte durchgegangen. Dabei dachte ich: Das passt schon, das ist nicht alltäglich, was ich bisher gemacht hab. Das macht mich schon aus. Mittlerweile bin ich bei 110, 70 davon habe ich schon angeschrieben. Ob das ein Schlager wird? Wer weiß das schon. Aber ich möchte eine Verpackung nehmen, mit der ich mit meinem Päckchen, das ich trage, gut loslaufen kann.
Eigentlich hört sich das ja erstmal nach Aufarbeitung an, denke ich. Die einen machen eine Therapie, andere greifen zu Papier und Stift, um über Geschichten, Erlebnisse oder vielleicht sogar Traumata ein Buch zu schreiben. Das ist ja immer wieder befreiend, und das ist wichtig.
Ist richtig, warum nicht über ein Buch verarbeiten. Ich glaube, mit der Stilform Interview kommt mir das Ganze selbst am nächsten.
Der Reiz liegt ja auch nochmal darin, damit gleich so viele Leute und Beobachtungen wiederzugeben. Spannend ist vor allem ja auch Deine Lebensgeschichte, die dahintersteckt. Da steht ja auch eine Lebenseinstellung hinter. Ich glaube, das wird spannend zu lesen, aus verschiedenen Perspektiven. Allein der Punkt, dass Du ja ein Mensch bist, der ein Handicap hat – wie man heute sagt, und Du es aber nie herausstellen würdest. Allein das ist für mich tatsächlich ein Riesen-Mutmacher. Das Handicap ist für Dich kein Kriterium, hält Dich nicht von Visionen ab. Es geht um Begeisterung, um Emotionen, für eine Sache brennen, um Freude. Dann ist vieles möglich, egal, ob man – wie es in der deutschen Normsprache heißt, zu 100 Prozent leistungsfähig oder 70 Prozent ist, das spielt überhaupt keine Rolle. Wenn jemand für etwas brennt, dann brennt der.
Da bist Du in der Kulturszene nach wie vor jemand, der dafür wie ein Flaggschiff steht. Das merke ich heute noch in Gesprächen mit vielen Künstlerkollegen. Es hat einfach mit Leidenschaft zu tun, und die hast Du.
Ja, da will ich nicht widersprechen.
Ich kann das auch an der Frage zu Freiberuflichkeit und Selbstständigkeit ausmachen. Die einen meinen, das geht von alleine. Andere merken schnell, dass das kein Selbstläufer ist. Alle können immer irgendwo scheitern, das muss man sich mal vor Augen führen. Es gibt keinen Garant für Erfolg. Das ist so. Im ganzen Leben. Scheitern gehört zum Leben. Trotz aller Schwere, die da drinsteckt, ist da eben auch ganz viel Mut, der hervorkommt.
Scheitern ist sicher zu Beginn schon ein Stichwort. Ich will keinen Hehl daraus machen, dass ich derzeit 140.000 Euro Schulden vor mir her schiebe. Mein Ziel ist nicht, mit dem Buch schuldenfrei zu werden. Es ist für mich eher wichtig, um autobiografisch weiterzukommen, Vergangenheit zu akzeptieren und weiter voran zu gehen. Ich möchte Mut machen, will mir mit den 52 Runden um den See aber auch ein ordentliches sportliches Ziel setzen.
Für mich ist jetzt schon die versteckte Botschafft des Buches: Geist und Körper müssen zusammen in Bewegung bleiben. Ich komme ja bald an die 60 und merke gerade, dass viele meiner Altersklasse sich genau damit beschäftigen, nämlich Geist und Körper in Bewegung zu halten: Wir brauchen Formen, die genau das bringen, damit wir nicht einrosten.
Ich habe mit Erasmus Stein mal eine Runde um ihn im Rolli gemacht. Das war damals nach einer Knie-OP und es war eine dieser Runden, bei der man sich fragt: Schaff ich das irgendwann nochmal ohne? Seither habe ich mich immer besonders gefreut, wenn ich ihn zu Fuß umrunden konnte. Gut, ich weiß, ich muss mir keine drei Runden vornehmen. Aber ich kann mit ein bis zwei gelaufenen Runden sehr glücklich sein.
Freude und Zufriedenheit sind jetzt wirklich groß. Die Veränderung zur Selbstständigkeit wirkt jetzt seit acht Jahren. Spannend ist, dass mir heute 90 Prozent der etwa 100 Leute, mit denen ich vor acht Jahren sprach und die mir damals abrieten, heute anerkennend auf die Schulter klopfen. Die Bedenken bei denen waren groß. Was, wenn das schiefgeht? Du bekommst dann keine Stelle mehr. Du bist zu alt, fällst direkt durch zu...