Teil 1
Gewohnheitstiere
In den Grundlagen stecken geblieben
Mittlerweile 16 Jahre lange habe ich andere Kletterer aufmerksam beobachtet. Ich habe mir angeschaut, wie sie klettern, ihnen zugehört, was sie über das Klettern erzählen, und verfolgt, was sie probiert haben, um sich zu verbessern. Ich habe miterlebt, wie blutige Anfänger sich zu Weltklasseathleten entwickelten, aber auch, wie extrem talentierte Hoffnungsträger kläglich gescheitert sind und das Klettern aufgegeben haben.
Mit diesen Beobachtungen wollte ich aus ihren Fehlern lernen, um selbst besser zu klettern. Nebenbei habe ich durch meine Tätigkeit als Klettercoach mein Wissen auch an andere Kletterer – im persönlichen Gespräch oder über meinen Internetblog – weitergegeben. Indem ich während der letzten fünf Jahre Kletterer persönlich beraten habe, habe ich viel über die Hürden gelernt, die einem Fortschritt im Weg stehen. Allerdings konnte ich sie nun nicht mehr nur beobachten, sondern auch zu all ihren Erfahrungen, Einstellungen, Alltagsaktivitäten und allen anderen Dingen befragen, die bislang ihre Entwicklung als Kletterer geprägt hatten.
All diese Erfahrungen haben mir mit zunehmender Sicherheit eine Tatsache immer deutlicher vor Augen geführt, und das ist die zentrale Botschaft dieses Buches: Kletterer bleiben an den Grundlagen hängen und verlieren sich in Nebensächlichkeiten.
Unser Verständnis von Kletterleistung hat sich etwa wie folgt entwickelt: Anfangs gab es fast keine Informationen über das Klettern, und man hat sich begierig auf jeden nur denkbaren Wissensbrocken der damaligen Klettergrößen gestürzt. Die ersten Lehrbücher zum Klettern enthielten Fallbeispiele der besten Kletterer der damaligen Zeit, und die waren alle sehr unterschiedlich. Manche hatten erkannt, dass geringes Körpergewicht ein Vorteil war, und aßen kaum Fett. Andere hatten eingesehen, dass Kraft ein Vorteil war, und machten viel Krafttraining. Alles war ein Stochern im Dunkeln. Der beste Kletterer dieser Zeit, der Engländer Jerry Moffatt, fand heraus, dass systematisches Bouldern eine sehr effiziente Möglichkeit war, stark zu werden und schwerere Routen zu klettern, und so war er allen anderen eine Zeit lang voraus, bis auch sie das gleiche machten. Mit derart wenig untersuchten Variablen ließ sich unmöglich ein klares Bild von dem erhalten, worauf es ankam. Das ging erst im Nachhinein.
Heute ist das Problem komplett anders gelagert. Es gibt Tausende von Übungen, Vorgehensweisen und Trainingsplänen, wie man angeblich besser klettern kann. Die Frage dabei ist weniger, was man tun soll, als vielmehr, was man nicht tun soll. Jeder Mensch hat unterschiedliche Voraussetzungen, Erfahrungen und Lebensumstände, und es wird immer schwieriger, die Informationsflut sinnvoll zu verwerten.
Was passiert also? Die meisten Kletterer verlieren sich in Einzelheiten. Vielleicht hilft ihnen ja ein Campusboard oder Hanteltraining oder Unterarmkraft oder ein Eiweißpülverchen? Der Kletterer lässt sich auf Experimente ein, während der er irgendeinen nebensächlichen Faktor für eine viel zu kurze Zeit ausprobiert, als dass er Wirkung zeigen könnte. Am Ende ist der Kletterer über das ausbleibende Ergebnis frustriert und versucht etwas Neues. Sein Vertrauen in die Tauglichkeit von Ratschlägen ist gering, und er gibt ihnen zudem keine Chance, sich überhaupt zu bewähren.
Die Trainingsmethoden und -aktivitäten, die in Sportarten wie dem Klettern in Mode kommen, sind in der Tat oft fragwürdig. In bekannteren Sportarten, in denen mehr Geld fließt, sind sowohl die wissenschaftliche Forschung als auch die Ausbildung der Trainer deutlich fundierter. In Randsportarten hingegen besteht die jeweils anerkannte Lehrmeinung aus einer Mischung von überkommenen Überlieferungen dessen, was die Größen des Sports getan haben oder tun, und einigen aus anderen Sportarten angepassten Techniken. An diesem Punkt steht zurzeit der Klettersport. Neue Ideen, Methoden und Erkenntnisse hinsichtlich der Kletterabläufe entwickeln sich rasant, und es blieb bislang noch nicht genug Zeit, die Spreu vom Weizen zu trennen und die nützlichen Dinge in einen passenden und sinnvollen Zusammenhang zu stellen. Die beste Strategie für Kletterer, die keinen Coach haben, besteht also darin zu versuchen, die Elemente, die den Klettersport ausmachen, von der Pike auf zu lernen. Nur so können Kletterer später die richtigen Entscheidungen treffen und sich verbessern.
Indem sie aber in einem Meer von Einzelheiten, Tipps und Ratschlägen versinken, verlieren die meisten Kletterer die Grundlagen aus den Augen. Fast jeder bleibt in ein oder zwei wesentlichen Gedankenfallen stecken, die er sich im Laufe seiner Entwicklung durch schlechte Gewohnheiten selbst gestellt hat. Da ist meist ein guter Trainer nötig, um diese Fehler zu entlarven und den Kletterern einen verlässlichen Weg zu neuen Verbesserungen zu eröffnen. Dein Kletterpartner wird dir nie sagen, dass Sturzangst das Problem ist, das dich ausbremst – denn vielleicht hast du das Klettern ja sogar von ihm gelernt? Die Chancen zu erkennen, worin das eigentliche Problem besteht, stehen ohne einen unabhängigen Coach extrem schlecht, es sei denn, man startet einen Frontalangriff auf die eigenen lieb gewonnenen Ansichten.
Diese Hauptfehler, die einen von besserem Klettern abhalten, sind in keinem herkömmlichen Kletterlehrbuch zu finden. Solche Lehrbücher und Artikel sind einfach nicht darauf ausgelegt, diese Fehler auszumachen. Sie listen vielmehr alle Möglichkeiten auf, die der Leser dann ausprobieren kann.
Das vorliegende Buch wählt einen anderen Ansatz. Ich werde ständig auf die Fehler und Irrwege hinweisen, die einem Kletterer auf seinem Weg zur Perfektion begegnen und denen fast alle Kletterer auf den Leim gehen. Nutze dies als einen Spiegel – welche Fehler machst du? Ich vermute mal, dass du sie zwar siehst, aber nicht akzeptieren magst. Es ist verdammt schwer, eine Gewohnheit zu ändern – wie etwa das ständige Vermeiden eines Sturzes. Es fühlt sich am Anfang so falsch an. Statt das eigentliche Problem anzugehen, suchen sich die meisten lieber etwas anderes, das sie leichter ändern können. Das funktioniert aber nicht. Die einzige Alternative zur kurzfristigen Unannehmlichkeit, eine schlechte Gewohnheit abzustellen, besteht darin, auf Dauer keine Fortschritte zu machen. Wenn du deine Hauptfehler erkennst und den Mut hast, sie zu beseitigen, können sich die verschiedenen Aspekte des Klettersports plötzlich wie bei einem Puzzle zusammenfügen. Du hast die Wahl.
Die wichtigste Erkenntnis
… ist, dass jeder Aspekt deines Lebens auch ganz anders aussehen könnte. Klingt vielleicht erschreckend. In der Tat besteht eine der größten Schwierigkeiten beim Coaching von Kletterern, vor allem von denjenigen, die langfristig deutliche Verbesserungen erzielen wollen, darin, sie dazu zu bringen, dass sie es überhaupt in Betracht ziehen, Änderungen in ihrem Leben, egal welcher Art, tatsächlich vorzunehmen. Sie haben zu viel Angst davor. Der Mensch ist darauf getrimmt, sich gegen das Unbekannte zu wehren und es wann immer möglich zu vermeiden. Wenn jemand mit dem Klettern anfängt, fühlt sich alles schön und leicht an. Es gibt nichts zu verlieren. Zusammen mit Gleichgesinnten aus der Schule, dem Alpenverein oder einem Kletterkurs geht es am Wochenende in den nächsten Klettergarten, man sieht und lernt jedes Mal etwas Neues – ein neues Gebiet, eine neue Klettertechnik oder was auch immer. Man verbringt viel Zeit an Felsund Plastikgriffen und lernt, bei dieser bestimmten Wandneigung oder -struktur zunehmend besser zu klettern. Der Lohn für diese konzentrierten Maßnahmen: ein gutes Gefühl. Aber irgendwann erreichen die Fortschritte an dieser Art von Wand/Felstyp/Neigung ein Plateau, und es wird langweilig.
Dann wird nach einer Möglichkeit gesucht, dieses Leistungsplateau zu überwinden. Aber natürlich lässt sich nicht alles sofort ändern – und erstmals geht es darum, etwas zu opfern. Wer etwas Neues versucht wie Bouldern oder stark überhängende Routen, ist darin zunächst ziemlich schlecht. Wie peinlich! Schlimmer noch: Er riskiert, auch in den vertrauten Bereichen, in denen er sich so wohlfühlt und gut ist, womöglich schlechter zu werden.
Auf diese Weise tappen die meisten Kletterer in die Falle. Das ist natürlich und menschlich. Verlustangst, egal wie gering der Verlust sein könnte, wiegt für uns schwerer als die Verlockungen der Vorzüge, die sich bieten, wenn wir etwas Neues mit ungewisser Erfolgsquote probieren. Dabei geht es oft auch mit der Moral bergab. Die meisten Kletterer vertuschen sie allerdings gut, sagen, dass sie nun mal nicht dafür gemacht sind, schwer zu klettern, oder schieben die ausbleibenden Fortschritte auf einen Mangel an Zeit oder eine Verletzung. Andere machen aus reiner Gewohnheit einfach weiter wie bisher, bis sie wegen veränderter Umstände vorübergehend gar nicht mehr zum Klettern kommen und womöglich auch nie wieder den Weg zurück finden.
Diese Verlustangst ist die erste und größte Hürde, die es zu überwinden gilt, um ein besserer Kletterer zu werden. Je länger jemand klettert und je stärker seine Gewohnheiten verwurzelt sind, desto wirkungsvoller wird es für ihn sein, den alten Trott zu durchbrechen (Tipp: Worauf wartest du also noch?).
Meist kann die Angst vor einer Veränderung der aktuellen Umstände nur durch äußeren »Zwang« überwunden werden. Den Menschen werden von außen ständig selbst einschneidende Veränderungen ihres Lebens aufgezwungen: Krankheit, Arbeitslosigkeit, alles, was die bisherigen Ansichten und Zukunftsaussichten völlig über den Haufen wirft. Was passiert? Der Status quo hat sich...