VISION I – Ich bin ein Neandertaler
»Wenn Sie wie ein Neandertaler denken wollen,
müssen Sie lernen, in Stein zu denken.«2
Jeder moderne Europäer trägt durchschnittlich drei bis vier Prozent Neandertalergene in sich. Das bedeutet, dass die Neandertaler zu unseren Ahnen gehören. Wir müssen uns dafür nicht schämen. Die Neandertaler waren keine Dummis und weder grunzende, bekloppte Halbaffen noch primitive Höhlenmenschen.
Die Neandertaler waren Menschen wie wir – fast. Sie waren uns so ähnlich, dass einem ein ganz normal gekleideter Neandertaler in einer Fußgängerzone nicht auffallen würde. Allerdings waren die Neandertaler viel muskulöser, und vor allem hatten sie ein wesentlich größeres Gehirn als wir. Auch waren sie erfolgreicher. Sie hatten über einen Zeitraum von mindestens 250 000 Jahren ein und dieselbe Kultur. Sie brauchten keine andere, weiter entwickelte oder »fortschrittlichere« Kultur, weil ihre Kultur schon so perfekt an ihre Um- und Lebenswelt angepasst war, dass Veränderungen nicht nötig waren. Die Neandertaler brauchten keinen Fortschritt. Ist doch der Fortschrittsglaube typisch Homo sapiens sapiens. Ihre Kultur brauchte auch kein Wachstum. Und, sie brauchte kein Geld.
Die Neandertaler in Europa lebten fast ausschließlich von der Jagd. Sie ernährten sich also zu fast 100 Prozent vom Fleisch erlegter Beutetiere. Für die Jagd verwendeten sie starke Speere mit scharfen Steinspitzen. Sie jagten mal alleine, mal in der Gruppe. In der Gruppe, zu der höchstwahrscheinlich auch kräftige Frauen gehörten, jagten sie Mammuts und Wollnashörner, die beiden größten Säugetiere der Eiszeit, aber auch Pferde, Bären, Wisente, Auerochsen, Hirsche und Rentiere. Viele Menschen glauben heute, dass die jagenden Neandertaler ein hartes Leben hatten, dass sie ständig ums Überleben kämpfen mussten, sich panisch vor den Naturgewalten fürchteten und deswegen keine Zeit hatten, um eine höhere Kultur zu entwickeln. In der Tat gab es in der Zeit der Neandertaler keine architektonischen Meisterwerke, keine Kirchen, keine Börsen und Banken, keine klassische Musik, kein Theater, keine Salzburger Festspiele, keine gedruckten Bücher, keine digitalen Netze, keine Handys und keine Computer. Denn all diese Dinge brauchten die Neandertaler nicht. Sie waren anscheinend glücklich und zufrieden mit dem, was sie hatten. Sie hatten das perfekte Leben, denn es genügte ihren Ansprüchen. Und apropos keine Zeit: Sie hatten, wie übrigens alle Jägervölker, reichlich Zeit. Sie mussten lediglich alle paar Wochen ein Mammut töten. Dazwischen hatten sie ganz viel Zeit: für die Pflege sozialer Kontakte, um sich Geschichten zu erzählen und gemütlich am Lagerfeuer zu sitzen, für den erholsamen Müßiggang und zum Denken. Weshalb sonst besaßen sie ein größeres Gehirn als wir?
Unser Denken und unser Gedächtnis haben ihren Sitz im Gehirn und formen unser Bewusstsein. Beim Denken verbindet und vergleicht man das Wahrgenommene mit den im Gedächtnis gespeicherten Informationen und leitet daraus Erkenntnisse ab. Darüber, was die Neandertaler dachten, wissen wir nur sehr wenig. Auf jeden Fall haben sie an ihre Toten gedacht und sie in ihrem Gedächtnis bewahrt. Das können wir daraus schließen, dass sie ihre Toten bestattet haben. Die Bestattung ist ein Ritual. Ein Ritual ist eine standardisierte, wiederkehrende Handlung, die etwas Bestimmtes im Gedächtnis aktiviert, die Sinn stiftet. Übrigens ist auch unser Weihnachten ein Ritual, allerdings oft sinnentleert, und damit zum reinen Brauch verkommen.
Manche Neandertaler haben Bergkristalle in ihre Behausungen gebracht. Wozu? Andere haben versteinerte Armfüßer (fossile Brachiopoden), die heute noch im Volksmund Taubensteine genannt werden, als Anhänger an Halsketten getragen. Wozu? In den meisten bekannten schamanischen Kulturen werden (bis heute!) Bergkristalle rituell verwendet – meist von Schamanen und Schamaninnen. Vielerorts heißt der Bergkristall sogar Schamanenstein. Er symbolisiert die Verbindung zu den anderen Wirklichkeiten: den Visionen, also den Reisen in die Anderswelt3, dem Ursprung der Welt und der lichtdurchfluteten Heilkraft. Viele Schamanen legen gerne Versteinerungen, darunter auch fossile Brachiopoden, auf ihre Altäre; sie stellen übernatürliche, gewöhnlich unsichtbare Verbündete oder Geisthelfer des Schamanen dar. Wenn ein Schamane seinen Geist auf solche Versteinerungen konzentriert, kann er einen leichten Zugang zur Geisterwelt erlangen. Aber können wir durch diese Befunde darauf schließen, dass die Neandertaler Schamanen hatten? Immerhin war und ist der Schamanismus bei allen Jägervölkern verbreitet. Dieses Kapitel heißt »Vision I«, weil ich eine psychedelische Vision davon hatte, wie der Schamanismus bei den Neandertalern entstanden sein könnte. Ob diese Vision der prähistorischen Wirklichkeit entspricht, sei dahingestellt. Immerhin gelten Visionen bei Schamanen als »Einblicke in die wahre Wirklichkeit«; die Alltagswelt gilt ihnen als Illusion.
In meiner Vision erscheint ein einzelner Neandertaler, der in der Nähe eines Gletschers durch die Tundra streift. Plötzlich sieht er bei einigen Zwergbirken und Fichten einen riesigen Höhlenbären. Der Neandertaler kann sich gerade noch hinter einem Wacholder verbergen. Der Bär hat seine Witterung noch nicht aufgenommen. Der Neandertaler will den Bären nicht erlegen, nur beobachten, denn er hat von Bären schon oft etwas über den medizinischen Gebrauch bestimmter Gewächse gelernt. Da sieht er, wie der Bär zuerst an einem rot-weißen Pilz – einem Fliegenpilz! – schnuppert und ihn schließlich verspeist. Bald darauf legt sich der Bär wohlig ins Tundragras, blickt in den Himmel und greift mit seinen Vordertatzen in die Luft. Ganz so, als würde er etwas Unsichtbares ergreifen. Unser Neandertaler folgt diesem Naturschauspiel gebannt und fragt sich: »Was macht der Bär da? Wonach greift er? Sieht er irgendwas, was ich nicht sehe?« Nach einer Weile schläft der Bär ein! Das macht er sonst nie, im Freien schutzlos schlafen. Er liegt da, wie tot. Nach ein paar Stunden wacht der Bär wieder auf – und ist putzmunter.
Da kommt unserem Neandertaler ein Gedanke: »Was der Bär, unser Tierschamane, kann, das kann ich auch.« Er pflückt einen schönen großen Fliegenpilz, hockt sich hin und isst ihn auf. Erstaunlich wohlschmeckend. Plötzlich verändert sich die Umwelt. Die Gletscherwand erscheint ihm ganz rot mit blinkenden Flächen, die wie weiße Punkte strahlen. Als der Neandertaler die Veränderungen der eisigen Wand bestaunt, tanzen plötzlich bunte Schnüre durch die Luft, formen sich nach und nach zu einem Ball, der aus vier Vierteln, jedes in einer anderen Farbe, zusammenfließt. Der bunte Ball schwebt in der Luft und bewegt sich auf die Gletscherwand zu. Ganz gebannt folgt ihm der Neandertaler. Der leuchtende Ball fliegt zu einem Höhleneingang. Dann saust er in die Höhle hinein und erleuchtet sie. Der Neandertaler hinterher. Ja, so etwas hat er noch nie zuvor gesehen. Die Höhlenwände sind mit strahlenden Kristallen übersät. Und mitten in dem Gefunkel steht ein kleiner Kerl mit einem rot-weiß gepunkteten Hut, der zu dem Neandertaler spricht: »Du hast echt Glück gehabt. Bedanke dich bei dem Bären, der dir den Weg zu mir geöffnet hat. Ich verleihe dir die Gabe, immer wieder zu mir kommen zu können und mich um Rat zu fragen. Wenn jemand aus deiner Sippe krank wird, kann ich ihm helfen. Wenn ihr kein Jagdwild seht, werde ich es euch zeigen.« Der Neandertaler traute seinen Ohren nicht. Da sagte das Pilzmännchen: »Immer, wenn du mich brauchst, iss einen Fliegenpilz und schau konzentriert in einen Bergkristall. Dann kannst du hierher reisen. Zum Dank möchte ich nur, dass du vorher und nachher roten Ocker auf den Schädel eines Höhlenbären streust.«
Da stand der Neandertaler plötzlich wieder in der Tundra. Der schlafende Bär war weg. Alles sah aus wie immer. Aber sein Bewusstsein hatte sich erweitert. Nun wusste der Neandertaler, dass es außer der Eiszeitlandschaft noch eine andere Welt gab. Den Schlüssel dazu hatte er jetzt gefunden.
Unser Neandertaler ist nach diesem lebensverändernden Erlebnis zunächst in die nahe gelegene Ritualhöhle gegangen. Dort lag ein alter Höhlenbärenschädel, in dessen Wangenknochen ein Schenkelknochen steckte. Der bleiche Schädel war schon häufiger mit rotem Ocker bestreut oder beblasen worden. Der Neandertaler legte seine Hand auf die Schädeldecke und bedankte sich bei dem Bärengeist. Danach schmierte er eine Paste aus rotem Ocker und Speichel auf einige Stellen des Schädels. Der war jetzt rot und weiß gefärbt und erinnerte an die Farbigkeit des Fliegenpilzes.
So könnte es gewesen sein oder auch ganz anders. Wer weiß?!
Aufgrund archäologischer Grabungen wissen wir, dass die Neandertaler in bestimmten Fällen roten Ocker als rituelle Farbe benutzt haben. Man fand das rote Mineral auf Schädelknochen, den Gebeinen von Neandertalern und an einigen Gegenständen, die nicht der Jagd dienten. Auch hat man einen Stein gefunden, in den Linien geritzt worden waren. Warum – wissen wir leider nicht. Aber es könnte sich um ein schamanisches Ritualobjekt handeln (allerdings auch um einen sinnlosen Zeitvertreib).
Die Farben Rot und Weiß gehören nicht nur zum Weihnachtsmann, sie haben im Schamanismus eine wesentliche Bedeutung. Rot ist die Farbe des Weiblichen und Weiß die Farbe des Männlichen. Zusammen ergeben sie ein schöpferisches Paar. Rot ist seit alters her die Symbolfarbe für Blut. Im schamanischen Kontext stellt sie das Menstruationsblut dar. Weiß ist männlich und steht für das Sperma. Deswegen tragen viele Schamanen...