Der Nährboden der Finanzkrise
Um zu verstehen, wie es zu solcher Gier kommen konnte, ist ein Blick auf die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den Jahren vor dem Ausbruch der Finanzkrise notwendig. Denn die bildeten die Basis für die florierenden Geschäfte und verleiteten die Finanzprofis dazu, Warnungen vor einem Zusammenbruch des Systems «Gewinne ohne Risiko» als unverbesserliche Schwarzmalerei abzutun.
Die amerikanische Wirtschaft hatte sich in kürzerer Zeit als weithin befürchtet von dem mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verbundenen Konjunktureinbruch erholt. Dazu trugen vor allem Steuererleichterungen bei. Rohstoffe waren nach der weltweiten Wirtschaftsflaute immer noch billig zu haben. Offiziell noch als Schwellenländer geführte Staaten, insbesondere China, warfen immer preiswertere Produkte auf den Weltmarkt. Die Inflationsraten sanken im Rekordtempo.
Diese Situation nutzten die Zentralbanken, die Zinsen zur weiteren Konjunkturankurbelung auf ein bis dahin nicht gekanntes Niveau zu senken. 2003 betrugen die Leitzinsen in den USA nur noch rund 1 Prozent, in Europa 2 Prozent. In den Jahren 2003 und 2004 sanken die US-Zinsen sogar unter die erwartete Inflationsrate. Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang von negativen Realzinsen. Die Zinsen waren so weit gesunken, dass es vernünftiger schien, sich Geld zu leihen, als Geld zu sparen.
Geld gab es praktisch umsonst. Zugleich deregulierte die Bush-Regierung die Finanzmärkte. Das freie Spiel der Kräfte, gepaart mit der Politik extrem niedriger Zinsen und Steuererleichterungen, ließ die US-Wirtschaft boomen. Der Vorrang einer sich selbst regulierenden Marktwirtschaft galt absolut. Von Anfang 2005 bis Mitte 2007, als die Blase platzte, wurden riskante Kredite im Wert von 1,2 Billionen Dollar bewilligt.
Hochspekulative Hedgefonds und Private-Equity-Unternehmen, die Firmenübernahmen preisgünstig per Kredit finanzieren konnten, machten hohe Gewinne und schossen wie Pilze aus dem Boden. Das im Überfluss vorhandene Geld ermöglichte verlockende Kreditgeschäfte in nahezu grenzenlosem Umfang. Denn wer auf Kredit investierte, hebelte die Erträge auf ein Vielfaches. «Leveraging» nennen Finanzexperten dieses Instrument der Gewinnvermehrung. Dabei stockt beispielsweise ein Hedgefonds das Investorengeld mit Krediten auf, kauft also statt für 100 Millionen Dollar von Anlegern über zusätzliche Kredite Wertpapiere für 600 Millionen. Der Investor, der 1000 Dollar einzahlt, ist damit am Markt tatsächlich mit 6000 Dollar aktiv. Geht die Spekulation auf, multiplizieren sich die Gewinne. Dieses Prinzip funktioniert aber auch in die andere Richtung. Kommt es zu Verlusten, multiplizieren sich diese ebenfalls. Genau dies ist in der Finanzkrise in unfassbarem Ausmaß geschehen.
Doch erst einmal wurden sagenhafte Geschäfte gemacht: Denn auch die Banken investierten mit geliehenem Geld in die von der eigenen Branche geschaffene Wertpapiergattung, nutzten das geborgte Geld, um die Rendite auf das eingesetzte eigene Kapital zu hebeln. «Durch den Einsatz von Fremdkapital in Höhe des 35fachen des Eigenkapitals konnte die Branche allein 2005 aus 500 Milliarden Dollar an Subprime-Krediten einen Gewinn von 18,8 Milliarden Dollar machen», rechnet ein Insider vor. Gute Geschäfte machten jedoch nicht nur die großen Player im Finanzgeschäft. Millionen US-Bürger borgten sich Geld zu billigen Zinsen und investierten es in Immobilien und Aktien mit großen Wertsteigerungen.
Vor allem begeisterten die niedrigen Hypothekenzinsen, die den typisch amerikanischen Traum vom Eigenheim für viele endlich wahrzumachen versprachen. Die Grundlage für eine sich schnell entwickelnde Immobilienblase war gelegt. Anders als in Deutschland können in den USA Hypothekenbesitzer jederzeit umfinanzieren. Sinken beispielsweise die Hypothekenpreise, haben sie die Möglichkeit, ihre alte, teure Hypothek abzulösen und durch eine preiswertere zu ersetzen. Steigt der Wert des Hauses, können sie die Kreditsumme problemlos erhöhen und sich so zusätzliches Bargeld verschaffen. Ein Großteil des amerikanischen Konsums wurde mit solchen Krediten finanziert. Dass solch ein System nur bei steigenden Immobilienpreisen funktioniert, wurde in Zeiten eines scheinbar grenzenlosen Optimismus schlicht außer Acht gelassen.
Fürs Erste ging die Rechnung von den Verkäufern der Kreditderivate auch auf: Die niedrigen Zinsen lösten einen regelrechten Bauboom quer durch die Vereinigten Staaten aus, in dessen Folge die Preise mächtig anzogen. In Los Angeles stiegen die Immobilienpreise zwischen den Jahren 2000 und 2006 um stolze 170 Prozent. Eine Immobilie, die einmal 100 000 Dollar gekostet hatte, war damit plötzlich 270 000 Dollar wert. In New York erhöhten sich die Immobilienpreise im gleichen Zeitraum um 120 Prozent, in Washington um 140 Prozent und in Miami um 180 Prozent. Mit der sich schnell entwickelnden Immobilienblase aber wurde die Basis für die nächste, die Hypothekenblase, gelegt. Denn das Geschäft mit den Darlehen lief so gut, dass es für die Banken und Immobilienfinanzierer auf dem restriktionsfreien Kreditmarkt kein Halten mehr gab. Mit sogenannten Subprime-Hypotheken für Kunden mit zweifelhafter Bonität nahmen die Immobilienfinanzierer eine neue Zielgruppe ins Visier, die bis dahin von einem eigenen Häuschen oder einer eigenen Wohnung noch nicht einmal zu träumen gewagt hatte: Geringverdiener, Mittellose, Arbeitslose, zumeist Schwarze und Latinos, die in den USA zu den ethnischen Minderheiten zählen.
Die Botschaft, die fast täglich über die Bildschirme in die US-Haushalte getragen wurde, lautete immer gleich: «Jeder Traum, der mit Geld zu haben ist, kann Realität werden. Ohne Risiko und sofort.» Man müsse lediglich einen Kredit zu Superkonditionen aufnehmen. Banken und andere Immobilienfinanzierer drängten potenziellen Kunden die Kredite förmlich auf. Sie vergaben Hypotheken, ohne dass die Antragsteller auch nur ein Dokument als Beleg ihrer Bonität vorlegen mussten. Der sogenannte Subprime-Markt entwickelte sich in kurzer Zeit zum Milliardengeschäft. Stammten 2001 noch 5 Prozent aller Darlehen aus dem riskanten Subprime-Segment, waren es 2006 schon 20 Prozent.
Für die US-amerikanischen Banker und anderen Immobilienfinanzierer waren solche Geschäfte in Zeiten von Minizinsen, boomenden Immobilienpreisen und nahezu grenzenloser Liquidität noch nicht einmal mit großen Risiken verbunden. Schließlich gab es mit dem Verkauf der Kredite an Zweckgesellschaften und der Verbriefung und Bündelung in Anleihen die Möglichkeit, Kredite und Risiken schnell wieder loszuwerden. Intern wurden die Papiere von den Bankern treffend als «Ninja-Anleihen» bezeichnet, ein Kunstname, der für «no income, no job, no assets», also kein Einkommen, kein Arbeitsplatz, kein Vermögen, steht. Käufer für Ninja-Anleihen, die entweder besonders hoch verzinst oder wie beschrieben in angeblich sicheren Anleihen versteckt wurden, gab es genug. Die Zinszahlungen flossen reichlich, weil zunächst nur wenige Kredite platzten und nicht mehr zurückgezahlt wurden.
Doch wie bei fast jedem Traum vom ewig währenden Glück sollte es auch hier ein böses Erwachen geben. Angeheizt durch die Niedrigzinspolitik der US-Notenbank und die expandierende Nachfrage, war zügellos gebaut worden, sodass allmählich riesige Überkapazitäten entstanden. Als Folge davon begannen Ende 2005 die Preise rapide zu fallen. Die Immobilienblase platzte, und mit ihr die Hypothekenblase. Zahllose US-Bürger mussten feststellen, dass sie sich verspekuliert hatten. Im Vertrauen auf fortwährende Wertsteigerungen hatten sie wiederholt neue Kredite auf ihre Immobilien aufgenommen, das Geld aber eher für Konsumgüter ausgegeben und damit die amerikanische Wirtschaft in Schwung gehalten. Mit dem Wertverlust ihrer Häuser platzte für viele ihr Traum vom Eigenheim: Zinsen und Monatsraten schossen in die Höhe, Kredithaie, die mit niedrigen Zinsen gelockt hatten, verlangten plötzlich das Doppelte und Dreifache. Besonders hart traf es die ohnehin finanzschwachen Kreditnehmer im Subprime-Bereich. Die Zahl der Zwangsversteigerungen explodierte.
Doch wie um den Schaden perfekt zu machen, ruderten die verantwortlichen Finanzjongleure nicht reumütig zurück, sondern warteten mit einem weiteren Coup auf: Sie erfanden einen neuen Subprime-Kredit, diesmal für Unternehmen mit schlechter Kreditwürdigkeit – sogenannte «Cov-Light-Credits», was frei übersetzt «Kredite mit lockerer vertraglicher Regelung» bedeutet. Bei der Vergabe dieser Kredite wurde auf bestimmte Eigenkapitalquoten verzichtet sowie – erneut – jegliche Vorsichtsmaßnahme des verantwortungsvoll handelnden Kaufmanns außer Acht gelassen.
Warnungen vor einem Kollaps des globalen Finanzsystems wurden immer lauter. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Anfang 2007 beklagte der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), Jean-Claude Trichet, die Undurchsichtigkeit von Finanzinnovationen. Hintergrund war das schier unkalkulierbare Ausmaß der Kreditspekulationen. Ende des Jahres 2007 wurden weltweit Kreditabsicherungen mit einem Gesamtvolumen von fast 58 Billionen Dollar gehandelt, mit denen Kredite angeblich versichert, gehedgt beziehungsweise gedeckt wurden. Die Summe entspricht ungefähr der gesamten Weltwirtschaftsleistung des...