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Im Zwielicht stehen drei Gestalten vor einer der armseligen Hütten in Avouil, dort, wo die Enge des Tals sich zu weiten beginnt und den Blick freigibt auf eine Almlandschaft, die bis zu den Gletschern reicht. Die Männer gestikulieren, weil der Gletscherbach, der etwas unterhalb von ihnen schäumt, so laut ist, dass sie sich kaum verständigen können. Es sieht aus, als ob sie den Berg, der im Widerschein der untergegangenen Sonne wie ein Kristall strahlt, beschwören wollten. Von nirgendwo sonst im Tal wirkt das Matterhorn so bestimmend: ein stumpfer Riesenkeil, der in die Unendlichkeit ragt.
»Also morgen früh«, sagt einer im Weggehen.
»Gute Nacht«, der Zweite.
»Bis morgen.«
»Vor Tagesanbruch und in aller Stille«, betont der Dritte. Noch einmal grüßt er mit einer flüchtigen Handbewegung. Um keinen Verdacht zu erregen, soll am nächsten Morgen jeder der drei aus einer anderen Richtung aus dem Dorf zu diesem Treffpunkt kommen. Genau so wie sie jetzt einzeln zu ihren Häusern zurückkehren.
Avouil, eine Gruppe kleiner Gehöfte am untersten Rand des Südhangs, die Häuser aus Stein und Rundholz gebaut, ist in den Sommermonaten das Zuhause einer Handvoll Familien. Von hier treiben sie ihre Tiere auf die hochgelegenen Weideflächen, hier lagern sie Butter, Käse und Brennholz.
In der Morgendämmerung – am Himmel die allerletzten Sterne, das Tal noch im Dunkel der Nacht – gehen die drei dem Gebirge zu. In Avouil heißt es, sie gingen Murmeltiere fangen, und sie haben auch den »grafio« dabei, einen langen Stock aus Eschenholz mit eisernem Haken am unteren Ende, wie er hier zum Murmeltierfang verwendet wird.
Es sind drei merkwürdige Gestalten, die an diesem wolkenlosen Morgen dem Matterhorn zustreben, das die Alten im Tal »La gran becca« nennen, »der große Schnabel«. Da ist Jean-Jacques Carrel, dunkel gewandet, hager, ein weitkrempiger Hut auf seinem Kopf. Als Ältester scheint er das Kommando zu haben. Er ist Jäger, mit untrüglichem Instinkt für das Gelände und einem Einfühlungsvermögen ausgestattet, das ihn manchmal wie ein Tier empfinden lässt. Bei der Suche nach Gämsen, an den steilen Südhängen des Matterhorns, läuft, klettert, springt er, als sei er selbst eine Gämse. Er hat, sagt man, im ganzen Tal nicht seinesgleichen: das Gesicht sonnenverbrannt, die Hände zerfurcht, die Augen schmale Schlitze unter der Hutkrempe. Die Zeit, die er auf den Almen und zwischen den höchsten der zugänglichen Felsfluchten zugebracht hat, um bei Frost und Hitze, Regen und Nebel dem Wild nachzustellen – hat ihn geformt. In seinem Gebaren steckt viel Selbstsicherheit, aber kein Stolz. Wie alle Männer im Tal redet er wenig, geht sonntags in die Kirche und werktags seiner Arbeit nach. Vor fast einem Vierteljahrhundert war er der Einzige gewesen, der den Mut hatte, am Theodulferner in eine Gletscherspalte hinabzusteigen, in der ein Verunglückter lag. Und noch immer steckt die Bereitschaft in ihm, das Leben zu wagen.
Jean-Antoine Carrel sieht nicht nur aus wie ein Outlaw, sein verwegener Blick und sein Mut haben ihn zu einem Außenseiter gemacht. Im Tal nennt man ihn spöttelnd den »Hahn von Valtournenche«. Gorret ist viel jünger und als angehender Priester zwar neugierig, aber vorsichtiger als die beiden Älpler.
Jetzt steigen die drei – Jean-Jacques voraus – zügig bergwärts. Nach mehreren Wintern mit geheimen Besprechungen und einsamen Sommern auf der Alm – immer öfter den Blick auf das Matterhorn gerichtet – wollen sie endlich herausfinden, wie hoch sie an ihrem Berg kommen können. Sie sind trittsicher, ausdauernd, ausgezeichnete Fußgänger. Ihre Schritte setzen sie gleichmäßig und ohne miteinander zu reden. Trotzdem, es sieht verboten aus.
Beim Weiler Planet treffen sie auf Gabriel Maquignaz und Carrel »le peintre«, erwähnen ihr Vorhaben aber nicht. Ein bisschen reden sie über Murmeltiere und das Wetter, dann gehen sie weiter. Die beiden Hirten grüßen verlegen und schütteln den Kopf, als wollten sie nicht einmal Komplizen sein bei der gefährlichen und verbotenen Hochgebirgsjagd. Noch weiter oben stoßen die drei auf einen Senner, der ihnen zuwinkt. Sie schwenken ihren »grafio« und steigen schneller. Noch höher glotzen ihnen nur noch die Kühe, die auf der Weide stehen, aus großen Augen nach.
»Ein böser Tag für die Murmeltiere«, hören sie den Hirten flüstern, während sie an seiner Herde vorbeisteigen. Als schwarze Punkte entschwinden sie ihm bald am steilen Berghang. Auf der höchsten Alm ist zum Glück niemand. Nur Ziegen kommen des Weges, neugierig und nach Salz an ihren Kleidern schnuppernd.
Endlich allein – Murmeltiere pfeifen, ein Adler kreist zwischen vereinzelten weißen Wolken, im Gletscher rechts vor ihnen rauscht das Schmelzwasser –, bleiben sie stehen. Jetzt können sie sich Zeit lassen. Als sie sich dann langsam der Vegetationsgrenze nähern, ziehen sich allerorten die Murmeltiere in ihre Löcher zurück.
An der Moräne des Matterhorn-Gletschers wenden sie sich dem Felsgrat zu, der den Gletscher links begrenzt. »Keu de Tzarciglion«, sagt der Jäger, der alle Felsen hier kennt und benennen kann. Er weiß, schon sein Großvater ist bis hierher gekommen, auf der Jagd nach Gämsen. Sie steigen, ein paar Stunden weit, über einen gut gestuften Felsgrat empor. Ohne einen bestimmten Plan, ohne ein weiteres Wort. Stufe um Stufe. Alles geht glatt. Nur der Blick auf die zerklüfteten Felswände weiter rechts, über dem Gletscher, lässt sie schaudern.
Noch bevor sie den höchsten Punkt einer Scharte links vom Matterhorn erreicht haben, trennen sie sich: Der Jäger sucht seinen Weg über harten Schnee, während die beiden anderen auf den Felsen bleiben, wo ihnen das Weiterkommen sicherer erscheint. Als Gorret den Jäger um Hilfe rufen hört, eilt Jean-Antoine herbei. Jean-Jacques kann weder vorwärts noch zurück, keinen einzigen Schritt weit. Eine einzige falsche Bewegung schon könnte ihn aus dem Gleichgewicht werfen und Hunderte Meter tief abstürzen lassen. An dieser Stelle ist die Eisfläche so steil und glatt, dass kein Halten ist, wenn einer abrutscht.
Aus der gemeinsamen Schockstarre löst sich zuerst Jean-Antoine Carrel. Er ist der Geschickteste der drei und übernimmt jetzt das Kommando. Der »Bersagliere«, wie er im Tal auch genannt wird, und Amé Gorret, der Seminarist, versuchen dem Jäger zu Hilfe zu kommen. Schritt für Schritt, den Bergstock in der Hand, wagen sie sich, einer am anderen sich haltend, auf das Eis. Es gelingt ihnen, Jean-Antoine immer voraus, sich bis zum Jäger vorzutasten. Nachdem das Beil, das Jean-Jacques bei sich trägt, aus dessen Tasche gezogen ist, schlägt Jean-Antoine Stufen ins Eis, auf denen alle drei zurückbalancieren können. Bis zu den Felsen.
Man kann nur mit seinesgleichen auf Berge steigen. Jean-Antoine sagt es nicht, er speichert diese Erkenntnis in seinem Gedächtnis, sie wird ihm zum Instinkt.
Außer Atem erreichen die drei wenig später die Grathöhe zwischen der Tête du Lion und der Dent d’Hérens, von wo sie erstmals auf die andere Seite der Bergkette schauen können. Dort tut sich ihnen eine völlig neue Welt auf: Erschrocken blicken sie auf den fünfhundert Meter unter ihnen liegenden Tiefenmatten-Gletscher! Hatten sie nicht die Geschichte gehört, hinter dem Matterhorn liege die Ortschaft Hérens? Diese Legende von einer Zivilisation hinter den Bergen erzählt man im Valtournenche seit Jahrhunderten. Aber da ist kein Dorf, da ist nur ein vergletschertes Tal, von riesigen Felsmauern umschlossen. Ein überwältigender Blick in die Tiefe! Einige Augenblicke lang schweigen sie, noch immer erschrocken über die Stille der Bergwelt – Felsgrat hinter Felsgrat gestaffelt –, die ganz anders ist als ihr grünes Heimattal, anders auch als das Paradies, wie es der Pfarrer an hohen Feiertagen von der Kanzel herab beschrieben hat. Was für Abgründe! Zerrissene Gletscher, darüber himmelhohe Gipfel, für die Bauern aus Breuil alle ohne Namen. Sie stehen im Sattel zwischen ihrem Heimattal und der menschenleeren Wildnis dahinter. Links führt der Grat zum Gipfel der Dent d’Hérens, rechts über der Tête du Lion ragt das Matterhorn auf.
Plötzlich beginnt einer der drei damit, Steinblöcke in den Abgrund zu rollen. Sie sehen die Trümmer kollern, folgen ihnen mit den Augen und sind begeistert, wie sie, in die Tiefe springend, Wolken von feinem Schnee aufwirbeln, weiter unten in gigantischen Sätzen und mit dumpfem Aufprall an Felsen zersplittern und ganz unten in geheimnisvollen Schlünden am Gletscher verschwinden.
Sie haben keine Eile. Sie sind zwar müde, aber die Sonne steht hoch, und das Matterhorn ist ganz nah. Seine Felsfluchten wirken von hier aus gegliederter als von Avouil. Und der Gipfel über ihnen! Jean-Antoine weiß, er wird ihn eines Tages erreichen.
»Sonderbar«, sagt einer von ihnen, »aus dieser ungewohnten Perspektive wirkt das Matterhorn weniger abweisend als aus dem Tal.«
Der Berg gehört ihnen zwar nicht – oder doch, schließlich kann ihn niemand wegtragen –, Jean-Antoine aber macht ihn an diesem Tag zu seinem Ziel.
Die anderen zwei denken nicht weiter an eine Besteigung, sondern setzen den Aufstieg aus purer Neugier fort. Ohne Schwierigkeiten erreichen sie die Tête du Lion, von wo sie erstmals auf die breite Kluft hinabsehen, die sie vom eigentlichen Matterhorn trennt. Auf der anderen Seite – vorerst unerreichbar – türmt sich der steile Fels bis zum Himmel.
Als sie längs der Südflanke der Tête du Lion ins Tal absteigen, entdecken sie eine Reihe...