Nur die Spitze des Eisbergs?
Beinahe täglich erreichen uns Meldungen über die Verbrechen des Islamischen Staates. Der radikale Islamismus hat durch die Gewalttaten dieser Terrorgruppe eine neue Dimension erreicht. Kaum ein anderes Thema beschäftigt uns derzeit so intensiv – und es ist, leider, nicht anzunehmen, dass es damit bald ein Ende haben wird. Es steht außer Zweifel, dass wir uns mit diesem Thema auseinandersetzen müssen. Aber wie soll diese Auseinandersetzung auf fruchtbare Weise geschehen? Wie kann sie zu Ergebnissen führen, die langfristig helfen?
Natürlich ist uns seit langem klar, dass wir auch in Deutschland von der Gefahr des islamischen Radikalismus betroffen sind. Und das nicht nur, weil die Möglichkeit von innereuropäischen Anschlägen immer präsenter wird und mit den Attentaten von Paris im Januar 2015, jenem in Kopenhagen oder auch dem Terror in Brüssel im Jahr zuvor eine grausame Aktualität bekommen hat.
Betroffen sind wir aber vor allem deshalb, weil der Islamismus auch bei uns Wurzeln schlägt. Vor den Schulen und in Fußgängerzonen werben Salafisten für ihre Sache – und ihre Propaganda zeigt Wirkung.
Die Anzahl junger Menschen, die bereit sind, für ihre radikalen Überzeugungen in den Krieg zu ziehen, steigt beständig. Die offizielle Schätzung, wonach knapp 700 junge Männer und Frauen von Deutschland aus in den Dschihad gezogen sind, ist ganz sicher zu niedrig. Man muss momentan mindestens von einer Zahl zwischen 1500 und 1800 ausgehen. Auch die Zahl der Salafisten ist gestiegen. Sie liegt derzeit meiner Einschätzung nach bei etwa 10000 Menschen. Das sympathisierende Umfeld ist aber noch um ein Vielfaches größer.
Wenn wir also von Radikalen reden, dann sollten wir zunächst einmal fragen: Von wem genau sprechen wir da überhaupt? Meiner Ansicht nach muss man, wenn man auf die Radikalen blickt, zwischen drei Gruppen unterscheiden: Ganz oben stehen Gruppierungen wie Al-Qaida und der IS, deren Schreckenstaten wir auch in Europa bei Anschlägen wie in Paris oder Kopenhagen erleben. Zu diesen extrem gefährlichen und gewalttätigen Gruppierungen gehören ebenfalls Boko Haram, die in Nigeria unglaubliche Gräuel verüben, oder Al Shabaab, die in Somalia wüten, die Hamas und die Hisbollah.
Eine Stufe darunter stehen die Muslimbrüder. Auch ein Islamverständnis, wie es der türkische Staatspräsident Erdoğan vertritt, gehört in diese Kategorie.
Sehen müssen wir vor allem aber, was ganz unten in dieser Pyramide das Fundament bildet. Das nämlich sind diejenigen, die ich die Generation Allah nenne. Menschen, die unter uns leben, Jugendliche, die vielleicht sogar den Salafismus ablehnen, deren Denken und mitunter auch Handeln aber nicht mit den Werten unserer Gesellschaft übereinstimmen und nicht mit der Demokratie vereinbar sind. Diese Generation Allah bildet die Basis für den Radikalismus. Und diese Basis ist breit.
Wenn ich in diesem Buch von der »Generation« Allah spreche, dann meine ich diejenigen, die vielleicht nicht im Fokus des Verfassungsschutzes sind, weil sie sich nicht durch gewalttätige Aktionen oder explizit antidemokratisches Verhalten als Gefährdung für unsere Gesellschaft offenbart haben, für die aber ideologische Inhalte und Werte Teil ihrer Identität geworden sind. Mitunter mögen es nur Teilideologien sein, aber bereits diese legen den Grundstein für ein Denken, das allzu leicht in Islamismus umschlagen kann.
Mit all jenen, die Geschlechtertrennung befürworten, die Gleichberechtigung ablehnen, die an Verschwörungstheorien glauben, die antisemitische Einstellungen haben, die jeden Zweifel und jedes Hinterfragen des Glaubens ablehnen, die an einen zornigen Gott glauben, der Ungläubige mit der Hölle bestraft, mit all jenen, die Andersdenkende abwerten, müssen wir uns auseinandersetzen, auch wenn sie sich nicht explizit zum Islamismus bekennen.
Gefährlich sind auch jene schleichenden Prozesse der Radikalisierung, die unsere Gesellschaft unterwandern. Von den Sicherheitsbehörden wie auch in der allgemeinen Wahrnehmung werden sie unterschätzt, weil sie sich nicht explizit eines Jargons der Gewalt bedienen. Demokratiefeindlich sind die von diesen Radikalen propagierten Inhalte aber dennoch. Auf diese Weise bereiten sie den Nährboden für Extremismus, und genau das müssen wir bekämpfen. Wenn wir erst dort ansetzen, wo der Islamismus sich in gewalttätigen Aktionen zeigt, haben wir bereits verloren. Wir müssen uns mit der Generation Allah auseinandersetzen! Denn die Generation Allah ist der Pool, aus dem die Islamisten fischen.
Ich bin kein Theologe. Ich bin Psychologe und arbeite seit Jahren in sozialen Projekten mit Jugendlichen, deshalb werde ich keine theologische Diskussion über islamische Ideologie führen. Aber ich werde die wesentlichen Denk- und Verhaltensmuster benennen, die ich in der Auseinandersetzung mit Jugendlichen erkenne. Und ich werde versuchen, diesen Beobachtungen auf den Grund zu gehen, nach ihren Entstehungsweisen zu fragen. Nicht zuletzt werde ich, im dritten Teil dieses Buches, Konzepte vorstellen, mit denen diesen Entwicklungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene frühzeitig begegnet und vorgebeugt werden kann. Und wo es für diese Prävention zu spät ist, da müssen Konzepte zur Hand sein, um mit einer gezielten Deradikalisierungsarbeit jene zurückzugewinnen, die sich bereits innerlich von unserer demokratischen Gesellschaft verabschiedet haben. Auch wie dieser Ausweg aus der radikalen Ideologe aussehen könnte, möchte ich zeigen. Nichts anderes darf das Gebot der Stunde sein.
Mit meinem Buch, das auf meiner jahrelangen Arbeit mit Jugendlichen und deren Eltern, meinen Erfahrungen als Psychologe und in meiner Arbeit in Schulen und nicht zuletzt auf meiner eigenen Biographie basiert, möchte ich einen Beitrag zu dieser Debatte leisten. Das Buch ist der Versuch, die zuweilen konfuse und von Naivität und ängstlicher Verharmlosung auf der einen und Panikmache auf der anderen Seite bestimmte Diskussion zu ordnen.
Wir müssen uns dafür die Besonderheiten der heutigen Situation vergegenwärtigen: dass wir es nicht nur mit ein paar hundert jungen Islamisten zu tun haben, sondern mit einer ganzen Generation, die der starken Gefährdung einer Radikalisierung ausgesetzt ist und die einige der ideologischen Inhalte dieses Radikalismus auf eine beinahe selbstverständliche Weise in ihr Denken integriert hat.
An dieser Stelle seien sechs Aspekte genannt, die in den vergangenen Jahren dazu geführt haben, dass die Generation Allah mehr und mehr an Kontur gewinnen und eine immer wesentlichere Rolle in unserer Gesellschaft spielen konnte. Diese Aspekte seien hier zunächst nur angerissen, bilden aber die Voraussetzung dafür, sich die Dimensionen des Phänomens grundsätzlich vergegenwärtigen zu können.
Wir haben es in der Hauptsache mit Jugendlichen der zweiten bzw. dritten Migrantengeneration zu tun. Mit Jugendlichen also, die sehr viel besser Deutsch sprechen können und sehr viel stärker integriert sind, als ihre Eltern oder Großeltern es waren. Deshalb verfügen sie auch über eine größere Kompetenz und ein größeres Selbstbewusstsein, wenn es darum geht, ihre Vorstellungen offen in der Mehrheitsgesellschaft zu artikulieren. Wir haben es hier nicht mehr mit Migranten zu tun, sondern mit deutschen Jugendlichen. Das sollte man nicht verwechseln! Diese Jugendlichen sind Teil unserer Gesellschaft – und deshalb sind auch ihre Probleme und die Herausforderung, vor die sie uns stellen, Teil unserer Gesellschaft.
Grundsätzlich kann man beobachten, dass die Bedeutung von Religion in den vergangenen Jahren immer mehr zugenommen hat und weiterhin zunimmt. Diese Feststellung hat weltweite Gültigkeit. Die Gründe sind vor allem in dem gestiegenen Bedürfnis zu sehen, innerhalb einer immer heterogeneren, unübersichtlichen Welt auf feste Werte und Vorstellungen zurückgreifen und darin Halt und Orientierung finden zu können. Das gilt auch und gerade für Jugendliche.
Hinzu kommt, dass die muslimischen Länder, aus denen die Vorfahren vieler dieser Jugendlichen stammen und in denen sie häufig noch Familie haben, in jüngster Zeit regelmäßig von Konflikten heimgesucht werden. Diese medial vermittelte Instabilität, vielleicht sogar das unmittelbare Betroffensein der dort beheimateten Familienmitglieder, sensibilisiert die Jugendlichen für ihre Wurzeln, für ihre Hintergründe. Bei diesen Konflikten und Kriegen handelt es sich häufig um politische Konstellationen, in denen der Westen, gerade die USA und Europa, schwierige Entscheidungen fällen mussten. Dass diese Entscheidungen nicht immer zu den besten Lösungen geführt haben, hat zweifelsohne zur Folge gehabt, dass die Identifikation vieler muslimischer Jugendlicher mit ihrer Kultur zugenommen hat.
Wenn diese Jugendlichen parallel dazu mit der Erfahrung aufgewachsen sind, von der sie umgebenden Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, dann steigt das Bedürfnis, sich eine neue Identität zu suchen und sich auf diese Weise von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen. Diese Abspaltung passiert nicht nur, weil die Mehrheitsgesellschaft sie diskriminiert, sondern auch, weil in manchen Familien die Ablehnung eben dieser Gesellschaft und ihrer Werte Teil der Erziehung ist.
Zentral ist zudem, dass die meisten arabischen bzw. muslimischen Länder gezielt die Missionierung von deutschen Muslimen in Deutschland steuern. Erdoğan betreibt das von der Türkei aus, Gleiches machen die Muslimbrüder von Ägypten und Katar oder die Salafisten von Saudi-Arabien aus. Es sind...