1. Vorgeschichte
Die schlesische Naturlandschaft
Die schlesische Landschaft wird bestimmt durch das von Nordwesten nach Südosten verlaufende Sudetengebirge und das diesem vorgelagerte Oder-Urstromtal. Die Oder, die das ganze Land durchfließt, bildet gleichsam eine Achse. Den Sudeten vorgelagert ist ein Berg- und Hügelland, das fast an das Odertal heranreicht. Östlich der Oder liegt ein flacher Landrücken. Während die Sudeten mit dem Riesengebirge Hochgebirgscharakter haben und eine Höhe von 1600 Metern aufweisen, erreicht der Landrücken nur knapp 400 Meter. Entsprechend unterschiedlich ist die Wasserführung der Flüsse, die von beiden Seiten der Oder zuströmen. Die linken Nebenflüsse haben ein starkes Gefälle und führen oft Hochwasser, während die Oder wie auch die rechten Nebenflüsse gemächlich dahinfließen. Doch bilden auch sie überschwemmungsgefährdete Feuchtgebiete. So die Bartsch, die im Norden fast parallel zur Oder verläuft und deren Niederung mit ihren Sumpfflächen ein ideales Biotop bildet. Die Oder entspringt im mährischen Gesenke, fließt nach Nordwesten durch ein flaches Hügelland, bevor sie bei Leubus nach Norden abbiegt und ab hier ein breites Tal durchquert. Das Urstromtal der Oder ist mit Löss beziehungsweise Löss-Lehm, an manchen Stellen bis zu acht Meter hoch, bedeckt und bietet günstige Voraussetzungen für die Landwirtschaft. Das Vorgebirge der Sudeten wird geomorphologisch durch Relikte der letzten Eiszeit bestimmt, durch Vulkantätigkeit sowie die Erosion der Flüsse, die tiefe Täler in die Landschaft eingeschnitten haben. Die Vulkantätigkeit hinterließ kuppenförmige Erhöhungen aus Granit, von denen der Zobten mit 718 Metern die bedeutendste ist. Die Sandergebiete der ehemaligen Gletscher prägen die Niederschlesisch-Lausitzische Heide mit einer Kiefern- und Heidevegetation.
Das schlesische Bergland enthält reiche Bodenschätze – Erze, Steinkohle, Edelmetalle, Granit –, die seit dem Mittelalter industriell genutzt wurden.
Die Lage Schlesiens im Übergang vom maritimen zum kontinentalen Klima bewirkt große Klimaschwankungen, die sich in starken Niederschlägen, aber auch langen Dürreperioden manifestieren. Die Niederschläge im Zusammenspiel mit langen Eisschmelzperioden in den Bergen führen häufig zu Hochwasserkatastrophen. In vorhistorischer Zeit bedeckten vor allem die Gebirgsregion weite Waldgebiete, während die Lössgebiete in den Flussauen offen waren.
Schlesien bis zum Beginn der Piastenherrschaft
Seit 4200 v. Chr. sind Siedlungen in dem späteren Schlesien nachgewiesen. Unterschiedliche Kulturen, die nach den Fundorten oder ihren Relikten benannt sind, lassen auf unterschiedliche Bevölkerungen schließen. Ackergeräte sind seit der sogenannten Trinkbecherkultur (ca. 2000–1800 v. Chr.) nachgewiesen. Das Material der Streitäxte dieser Kultur bestand aus heimischem Granit, doch beweisen die Funde auch weite Handelsbeziehungen. Eine Hierarchie in der Gesellschaftsordnung lässt sich bei der sogenannten Hügelgräberkultur (1500 v. Chr.) anhand von Grabbeigaben erschließen. Eine relativ hochstehende Kultur, die in die Eisenzeit hineinreicht, war die sogenannte Lausitzer Kultur (ca. 1000–500 v. Chr.), die mit dem Vorstoß des Reitervolkes der Skythen unterging. Von der Nutzung der heimischen Bodenschätze während der Lausitzer Kultur zeugen die Eisenwerkstätten. Die Zahl der Einwohner stieg damals, sie war begleitet von einer starken sozialen Differenzierung. Auf diese Kultur gehen auch die ältesten Flussnamen und Kultgegenstände am Zobten zurück.
Die Herkunft der Stämme dieser Kulturen ist unbestimmt. Zuschreibungen, die im 19. und 20. Jahrhundert aufgrund von nationalen Interessen erfolgten, sind nicht zu halten. Dies gilt auch für die Deutung des Namens Schlesien/Śląsk, der entweder deutscher oder polnischer Herkunft sein soll. Der Name taucht zum ersten Mal bei dem antiken Autor Ptolemäus (100–160 n. Chr.) auf, der den in Schlesien siedelnden Stamm als Σιλιγγαί (Silingai) bezeichnet. Neuere Forschungen haben nachgewiesen, dass der Name in indoeuropäische Zeit zurückreicht, noch bevor sich die germanische und die slawische Sprachgruppe herausgebildet hatten. Die Bezeichnung Schlesien geht auf den Flussnamen Slęza (Lohe) zurück, der am Zobten vorbeifließt und bei Breslau in die Oder mündet. Von ihm ist auch der Name des im sogenannten Bayerischen Geographen im 9. Jahrhundert aufgeführten slawischen Stammes der Slenzane abgeleitet, der später namengebend für alle slawischen Stämme dieses Gebietes wurde.
Als kulturell bedeutende Gruppe siedelten seit 300 v. Chr. Kelten im schlesischen Raum. Sie verfügten in Ansätzen über eine Geldwirtschaft, betrieben gewerblichen und nicht mehr Tauschhandel. Auch besaßen sie ein stark differenziertes Handwerk. An der Spitze stand eine kleine Herrenschicht, die über staatsähnliche Strukturen verfügte. Auf die Kelten gehen befestigte, stadtähnliche oppida zurück, von denen eine vermutlich am Zobten lag. Die dort gefundenen Steinplastiken und Befestigungsreste werden mit den Kelten in Verbindung gebracht. Trotz ihres hohen kriegerischen Standards gelang es den Kelten nicht, sich gegen die aus Jütland beziehungsweise Mittelschweden einwandernden Germanenstämme zu behaupten, deren Namen den antiken Autoren zufolge nicht eindeutig fassbar sind. Seit dem 3. nachchristlichen Jahrhundert setzt sich der bei Ptolemäus angeführte Name Silingai = Silingen für die in Schlesien siedelnden germanischen Stämme durch. Die von Osten um 375 n. Chr. eindringenden Hunnen, die sich allerdings nicht in Schlesien niederließen, verdrängten die Silingen, die mit den Burgundern bis Südspanien gelangten. Kleine Stammesreste blieben zurück, sie sind mit ihrer Königsherrschaft noch bis 500 n. Chr. nachweisbar und standen mit dem nordafrikanischen Königreich der Wandalen in Kontakt. Im Hinblick auf ihre handwerkliche Produktion, etwa auf dem Gebiet der Töpferei und Metallherstellung, sind starke römische Einflüsse feststellbar. Von ihrer Kunst, aber auch von römischen Importen zeugen die Grabbeigaben der 1887 in Sakrau, zwanzig Kilometer nördlich von Breslau, entdeckten Fürstengräber. Sie enthielten Fibeln, Finger- und Halsringe sowie Schnallen aus Gold, Silber und Bronze. Diese stammten aus römischen Importen, aber auch aus heimischer Produktion. Die im 19. und frühen 20. Jahrhundert aufgestellte nationalistische These, dass trotz des Wegzugs der Silingen wesentliche Teile der germanischen Stämme sich weiterhin im Land behaupteten, aufgrund derer die Kolonisation im 13. Jahrhundert als «deutsche Wiederbesiedelung» bezeichnet wurde, ist eindeutig widerlegt. Bei den hier siedelnden Germanen handelte es sich nicht um deutsche Stämme. Die zurückgebliebenen germanischen Volksteile vermischten sich mit den seit Beginn des 6. Jahrhunderts einwandernden Slawen. Doch hat sich in der deutschen Chronistik des 11. Jahrhunderts eine Erinnerung daran erhalten: Thietmar von Merseburg berichtet von einem Zug Kaiser Heinrichs II. (1017) vor die Burg Nimptsch (ad urbem Nemzi), «die diesen Namen trägt, weil sie einst von den Unsrigen erbaut wurde». Der Name leitet sich von Němci (= Stumme, Fremde) her, ein Ausdruck, den die slawischen Stämme für die zurückgebliebenen Gruppen der germanischen Stämme verwendeten, weil sie deren Sprache nicht verstanden. (Von diesem Wort leitet sich auch das polnische Niemiec für Deutsche ab.) Die von Thietmar geschilderte Episode beweist jedoch, dass die einstigen germanischen Volksrelikte in der slawischen Bevölkerung aufgegangen waren.
Die slawischen Stämme, die seit der Mitte des 6. Jahrhunderts den schlesischen Raum besiedelten, führt um die Mitte des 9. Jahrhunderts der sogenannte Bayerische Geograph (der Verfasser war vermutlich ein Mönch aus dem Regensburger Kloster St. Emmeram) in der Regensburger Völkertafel auf. Er nennt die regiones der Dedosizi im nordwestlichen Odergebiet zwischen (dem späteren) Crossen und Leubus sowie der Slenzane in Mittelschlesien. Die bei ihm aufgeführten Trebowanen sind nicht eindeutig zu lokalisieren – fraglich, ob sie in Schlesien, dann wohl im Liegnitzer Gebiet, oder in Böhmen ihre Niederlassungen hatten. Die ebenfalls aufgeführten Boborani hatten im Flussgebiet des Bober ihre Burgen. Östlich der Einmündung der Glatzer Neiße in die Oder lag das Gebiet der Opolani und im Süden anschließend das Gebiet der Golensizi. Diese Stämme besaßen nach Angaben des Bayerischen Geographen befestigte Plätze (civitates = zentrale Orte), und zwar die Dedosizi und Opolani je 20, die Slenzane 15 und die Golensizi fünf civitates. Diese stehen wohl für die Siedlungskerne mit einer Burg beziehungsweise einer Wallanlage als Herrschafts- und Verwaltungszentrum im Mittelpunkt. Die Siedlungskerne wurden in dem relativ schwach besiedelten Land durch große Waldareale voneinander getrennt. Die Archäologie hat Burgwälle für das 9. und...