2. Innere Organisation der ersten Universitäten
Genossenschaftliche Organisation in zwei Varianten
Das entscheidende gemeinsame Merkmal der Universitäten gegenüber ihren antiken Vorläufern war, dass sie als ein Raum eigenen Rechts konstituiert waren. Das bedeutete überall in Europa, dass sie nach außen, vor allem gegen die Stadt, sich abgrenzten als ein Rechtsraum mit eigenen (und anderen) Normen, und dass sie nach innen auf einer genossenschaftlichen Grundlage beruhten und wichtige Dinge mit Mehrheit entschieden. Dabei gab es zwei Ausprägungen dieses genossenschaftlichen Organisationsrahmens. Das ältere Modell war das einer Genossenschaft der Studierenden, wie es schon in Bologna zu finden ist. Hier schlossen sich die Studierenden, die ja fast alle Fremde in der Stadt waren, nach ihrer Herkunftsregion in sogenannten «nationes» zusammen. Das waren religiös fundierte Schwurgemeinschaften auf Zeit mit dem Ziel der gegenseitigen Hilfe und des Rechtsschutzes, vor allem gegenüber der Stadt und ihren Bürgern. Studierenden aus Bologna verbot ihre Stadt dagegen die Zugehörigkeit zu einer «natio», um der Gefahr einer doppelten und damit weniger verbindlichen Loyalität zu entgehen. Regelmäßige gemeinsame Messen und Prozessionen und die Verehrung des eigenen Schutzheiligen bestärkten symbolisch die Bindung zwischen den Mitgliedern einer «natio». Insgesamt gab es in Bologna drei «nationes» für die aus Italien kommenden (eine lombardische, eine toskanische und eine römische) und 14 ultramontane für die von jenseits der Alpen kommenden Studierenden. In Überlagerung mit einer Einteilung nach Studienfächern waren diese Bologneser Nationen in drei «Universitäten» zusammengefasst, je einer für die Juristen aus Italien und für die Juristen von jenseits der Alpen, und einer dritten für alle übrigen Studierenden. Die drei Universitäten ihrerseits hatten sich zur eigentlichen Universität zusammengeschlossen, die als «confoederatio universitarum» bezeichnet wurde. 1796 hob Napoleon sie – nach französischem Vorbild – ersatzlos auf.
Aus diesem komplexen Organisationsgefüge wird besonders deutlich, dass «universitas» eben nicht auf den Universitätsbegriff von heute zielt, sondern auf die Selbstständigkeit und Entscheidungsmacht einer Organisation von gleichartig Tätigen. Die Bologneser Ausprägung dieses genossenschaftlichen Modells bedeutete, dass die Studierenden als Träger der Organisationen alle wichtigen Fragen ausführlich diskutierten und dabei lernten, ihre Meinung begründet zu vertreten. Die Durchführung der Beschlüsse sicherten Ämter mit einer meist sehr kurzen Amtszeit (von einem Monat bis zu einem Jahr), in die man gewählt wurde. Selbst der Rektor kam aus dem Kreis der Studierenden, wobei man zur Erfüllung der mit dem Amt verbundenen repräsentativen Verpflichtungen gerne vermögende Mitstudenten wählte, oftmals Söhne von Adeligen.
Paris war demgegenüber straffer organisiert; hier gab es nur eine «universitas», und sie war sehr bald unterteilt in die vier noch zu beschreibenden klassischen Fakultäten. Studentische Organisationen nach der Herkunft gab es in Paris zwar (eine französische, normannische, picardische und für alle anderen die englische «natio»), aber nur bei den Studienanfängern im recht überlaufenen Vorbereitungsstudium der «Artes»-Fächer. Die Dekane der Fakultäten und der Rektor der Universität wurden auch in Paris gewählt, aber nur durch die Genossenschaft der Lehrenden. Im Unterschied zu Bologna war das Studium in Paris stärker internatsmäßig gestaltet und damit mehr von den Lehrenden gesteuert. Aus diesem Vergleich heraus lässt sich die Frage nach der «ersten Universität» differenzierter beantworten: Nimmt man den Gedanken der kooperativen Autonomie in Form einer rechtlich geordneten Genossenschaft aller Beteiligten als Hauptkriterium, dann ist Bologna die älteste Universität. Betont man dagegen die Autonomie vor allem der Lehrenden und deren genossenschaftliche Selbstverwaltungsrechte nach innen, insbesondere in Fragen von Lehre und Prüfungen, dann ist Paris die älteste.
Ämter und Funktionen an der Spitze der Universität
Im eigenen Rechtsraum der Universität zeigt sich das mittelalterliche Verständnis von Freiheit, die immer sehr konkret gedacht wurde. Universitäten bestimmten selbst ihre Regeln, nahmen eigenständig ihre Mitglieder auf und schlossen sie gegebenenfalls auch aus und hatten die Macht, Verstöße gegen ihre Regeln selbst zu sanktionieren. In diesem Sinne wurde im Mittelalter jedes Privileg als ein spezifisches Recht auf eine Freiheit verstanden und nicht alle zusammen als Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip diskreditiert wie bei der Auflösung der französischen Universitäten im Zuge der Revolution.
Der Kanzler, manchmal auch Vizekanzler, war nicht wie heute in deutschen Universitäten der leitende Verwaltungsbeamte, sondern der Vertreter des Papstes, der oftmals den örtlichen Bischof zu diesem Amt bestimmte. Seine Hauptaufgabe beschränkte sich sehr bald darauf, die akademischen Grade formell zu verleihen, die letztlich aus der päpstlichen Autorität legitimiert waren. In der Realität hatte er kein eigenes Prüfungsrecht und war gebunden an den Vorschlag der Lehrenden – das war ein zentrales Element von deren genossenschaftlicher Selbstbestimmung.
Der Rektor vertrat die Universität nach außen und leitete nach innen ihre kollegial aufgebauten Organe. Vielfach gehörte zu seinen Amtspflichten, das Richteramt über die Angehörigen der Universität auszuüben. Dazu zählten weit mehr Personen als nur die Lehrenden und Lernenden, nämlich auch die Frauen und Familien und Dienstboten der Professoren, alle weiteren Beschäftigten der Universität und eine Reihe von Handwerkern, die zu ihr und nicht zu den Zünften in der Stadt gehörten. Das waren zum Beispiel Papiermacher, Schreiber, Illuminatoren und Handschriften- und Buchhändler, von denen manche ja noch heute als «Universitätsbuchdrucker» oder «Universitätsverlag» firmieren. Für sie bedeutete dieser Status früher, dass sie und ihre Autoren einer – gewöhnlich milderen – Zensur durch den Rektor der Universität unterworfen waren. Wenn es einen studentischen Rektor gab, dann waren seine Rechte im Vergleich zu einem professoralen mehr oder weniger geschmälert; auf keinen Fall war ein studentischer Rektor beteiligt in Fragen von Lehre und Prüfungen. Deren Entscheidung lag immer beim «collegium doctorum», also der Versammlung der Lehrenden.
Materielle Grundlagen
Im Mittelalter erreichten nur wenige Ausnahme-Universitäten wie Bologna, Paris, Oxford oder Cambridge eine Zahl von 1000 oder etwas mehr Studierenden und 50 bis 100 Lehrenden. Alle übrigen Universitäten waren wesentlich kleiner. Den materiellen Bedarf der mittelalterlichen Universitäten darf man sich nicht allzu groß vorstellen, aber erst recht nicht die Einnahmen aus Gebühren der Studierenden. Dies hat mit der mittelalterlichen Auffassung zu tun, dass das Wissen als Geschenk Gottes nicht verkauft werden dürfe («scientia donum Dei est, unde vendi non potest»), die aber in klarer Spannung zu dem anderen Prinzip stand, dass jeder, auch ein Lehrender, sehr wohl das Recht auf eine Entschädigung für seine erbrachte Arbeit habe. Für den förmlichen Rechtsakt der Immatrikulation, der Aufnahme in die Universität durch Leistung eines Eides der Zugehörigkeit (im schottischen St. Andrews noch heute in lateinischer Sprache), und die damit verbundene Eintragung von Name und Herkunft in die Matrikel fielen nicht allzu hohen Gebühren an. Damit wurde man akademischer Bürger («civis academicus») und unterstand der Gerichtsgewalt des Rektors; bei Vergehen füllten die Geldstrafen die Universitätskasse. Als Anerkennung für die Professoren, bei denen man hörte, wurde eine «collecta» eingesammelt. Wirklich teuer war nicht so sehr das Lernen an der Universität, sondern die Bestätigung des Lernerfolgs durch die Verleihung eines akademischen Grades. Die Prüfungsgebühren waren besonders bei Doktorprüfungen in den höheren Fakultäten sehr hoch und die allgemein erwarteten Geschenke kamen noch hinzu, etwa der bekannte «Doktorschmaus» für alle an der Prüfung Beteiligten.
Als rechtlich selbstständige Institutionen, die zudem vom Papst als der höchsten Autorität legitimiert waren, konnten die Universitäten wie die Kirche von Gläubigen fromme Stiftungen annehmen, die vor allem vor der Reformation als löblich und heilssichernd galten. Ausgehend von den Vermögensübertragungen der Gründer, sammelte sich auf diese Weise ein beträchtlicher Grundbesitz im Universitätsvermögen an. Weinberge in Würzburg oder Forsten in München liefern Erträge, über die diese Universitäten heute frei und ohne Bindung an den vom Staat festgestellten Haushaltsplan verfügen können. Greifswald benötigte um 1900 als vermögendste deutsche Universität fast keinen Zuschuss aus dem preußischen Staatshaushalt, verlor aber fast seinen gesamten Grundbesitz 1945 durch Enteignung....