2. Vorlesung
Theorie und Systematik
Anna Freud12 nannte zehn Abwehrmechanismen: Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung, Isolierung, Ungeschehenmachen, Introjektion (mit Identifizierung gleichgesetzt), Projektion, Wendung gegen die eigene Person, Verkehrung ins Gegenteil und Identifizierung mit dem Aggressor. Schon ihr Vater hatte in einer frühen Arbeit13 zahlreiche Mechanismen der Abwehr unterschieden und den bis dahin bekannten Krankheitsbildern zugeordnet: Der Zwangsneurose die Ersatzbildung, der Psychose die Projektion und der Hysterie die Konversion.
Aus heutiger Sicht erscheinen die zehn „Mechanismen“ Anna Freuds als sehr heterogen:
- Einige wirken als Manipulation am Trieb, seiner Quelle, seinem Objekt oder seinem Ziel: Regression, Verkehrung ins Gegenteil (Verwandlung des Triebziels wie in der Polarität von Sadismus und Masochismus), Wendung gegen die eigene Person (eine Vertauschung des Triebobjekts), Sublimierung (als Verschiebung des Triebziels oder Triebobjekts) und Projektion (eine Illusion über die Triebquelle).
- Andere lassen sich zu Techniken der Gegenbesetzung zusammenfassen: Isolierung, Ungeschehenmachen, Reaktionsbildung und Introjektion bzw. Identifikation mit dem Angreifer.
- Übrig bliebe die Rationalisierung, die als nachträgliche Rechtfertigung zu verstehen ist und insofern eigentlich aus der Systematik der Abwehrmechanismen herausfällt.
- Die Verdrängung nimmt eine Sonderstellung ein: Sie ist an allen Abwehrmechanismen beteiligt.
Der Ärger in der Kinokassen-Schlange
Bevor ich versuchen will, die Theorie und Systematik durchzugehen, möchte ich anhand eines alltäglichen Beispiels einige der besonders häufigen Abwehrformen charakterisieren. Man stelle sich folgende Situation vor: Wir stehen vor der Kinokasse in einer langen Warteschlange. Es ist schon spät, die Schlange ist lang, und es könnte sein, dass nur noch wenige Plätze zur Verfügung stehen. In dieser Situation geht ein Unbekannter von hinten an uns vorbei und stellt sich ganz weit vorn in die Warteschlange. Jetzt droht uns eine innere Gefahr: Ein Wutaffekt, der je nach Persönlichkeit milder oder krasser ausfallen könnte und – wiederum je nach Persönlichkeit – von uns selbst mehr oder weniger gefürchtet würde – wenn er ins Bewusstsein oder gar ins Handeln drängte. Hier nun eine Auswahl möglicher Abwehrformen:
- In der Verleugnung glauben wir, nichts gesehen zu haben. Wir haben nicht wahrgenommen, dass sich jemand vordrängelte, es gibt also nichts, worüber wir uns ärgern müssten.
- Wir könnten auch die Verneinung wählen; in diesem Fall nehmen wir zwar wahr, dass jemand nach vorn an uns vorbeiging, aber wir glauben z. B., dass der Unbekannte schon vorher dort gestanden hatte. Die Verneinung wäre demnach ein weniger starker Eingriff in die Realitätswahrnehmung als die Verleugnung, aber doch eine sehr weitreichende Manipulation der Wirklichkeitserfahrung.
- Wie sähe die Wendung gegen die eigene Person aus? Wir könnten uns Vorwürfe machen, dass wir uns viel zu spät angestellt haben. In diesem Falle wären wir selbst schuld, es geschähe uns ganz recht.
- In der Reaktionsbildung würden wir den (uns selbst!) drohenden Zorn in sein Gegenteil zu verwandeln suchen, z. B. amüsiert reagieren: „Na, der traut sich ja was …“, und vielleicht, wie bei Reaktionsbildungen häufig, einen subtil-aggressiven Gedanken anheften: „… so ein kleiner Psychopath!“
- Auch eine Identifizierung mit dem Aggressor wäre leicht denkbar: „Ich sollte froh sein, wenn es heute mit der Eintrittskarte nichts mehr würde. Denn morgen ist Kinotag, die Karten werden deutlich billiger sein, und dann würde ich sogar noch Geld sparen.“
- Schließlich: Die Rationalisierung ist in dem gewählten Beispiel weniger leicht vorstellbar, denn diese Abwehrform zielt weniger darauf, den gefürchteten Affekt unbewusst zu halten, sondern versucht, diesen Affekt mit einer vermeintlich akzeptablen Begründung doch auszuleben. Wir könnten uns also vor den Vordrängler in die Schlange stellen und sagen: „Ich glaube, Sie haben vorher schon hinter mir gestanden.“
Für die Verdrängung kann ich hier kein eigenes Beispiel erfinden. Sie kommt allein wohl auch gar nicht vor, sondern sie erscheint als Reaktionsbildung oder als Verleugnung oder als Verneinung usw. Insofern ist sie in ihrer Funktion, ein unlustvolles Erleben unbewusst zu halten, an den hier aufgezählten Abwehrformen mehr oder weniger beteiligt – stärker im Falle der Verleugnung, weniger stark im Falle der Rationalisierung. Vielleicht sollte man die Verdrängung gar nicht als eigene Abwehrform betrachten, sondern als Bezeichnung für das allgemeine Schicksal des Abgewehrten: nämlich unbewusst zu werden.
Zahlreiche Autoren haben versucht, die Liste der Abwehrmechanismen zu erweitern und auszudifferenzieren. Bibring et al.14 zählen 45 mehr oder weniger komplexe Abwehrformen, Laughlin15 kam auf 22 „major“ und 26 „minor“ Abwehrmechanismen, und Vaillant16 schlug aufgrund seiner empirischen Langzeitstudie eine Liste mit 18 Mechanismen vor. Andere, empirische Forschungsarbeiten17 operierten mit Fragebögen der Selbst- oder auch Fremdbeurteilung und suchten die Antworten faktorenanalytisch zu gruppieren. Mehrfach ergaben sich so etwa fünf Gruppen von Abwehrmechanismen oder -stilen, unter denen sich regelmäßig die Projektion, die Wendung gegen die eigene Person und die Regression befanden.
Von Anfang an lag es nahe, die Vielfalt der Abwehrformen klinischen Bildern zuzuordnen und dadurch zu kategorisieren – genau genommen war aber die Reihenfolge umgekehrt: Zu den Charakteristika der klinischen Bilder gehörten auch die „typischen“ Abwehrformen. Schon Freuds Verknüpfung bestimmter Krankheitsbilder mit den dafür typischen Abwehrmechanismen stellte einen solchen Versuch dar, der auch bis heute seine Gültigkeit behalten hat. Ehlers und Czogalik unterschieden18 in einer empirischen Arbeit die Abwehrstile von depressiven, zwanghaften und hysterischen Charakteren, und Ehlers wies 1993 in seinen klinischen Studien nach, dass depressive im Vergleich zu hysterischen Charakteren signifikant stärker zur Wendung gegen die eigene Person neigen, während Zwanghafte deutlich häufiger solche Abwehrformen entwickelt haben, mit denen sie eigene Triebimpulse unbewusst machen, wie z. B. durch das Ungeschehenmachen und die Reaktionsbildung.
Man sollte vielleicht gar nicht erst den Versuch unternehmen, eine abschließende Liste aller möglichen Abwehrformen zu suchen. Dabei würde sich jedenfalls zeigen, dass es sich hierbei um eine sehr heterogene Gruppe handelte, deren theoretische Grundlegung, wie auch schon Hoffmann19 in seiner sehr gründlichen Untersuchung fand, dringend einer Revision bedürfte.
Abwehr auf der Zeitachse
Anna Freud20 wies mit Nachdruck darauf hin, dass Abwehrmechanismen an sich kein pathologisches Merkmal seien, sondern durchaus auch bei gesunden Personen vorkämen. Außerdem ordnete sie die Abwehrmechanismen auf einer Zeitachse der Entwicklungsstufen an und beschrieb, unter welchen Voraussetzungen eine Abwehrform überhaupt möglich ist. Mit ihr und aufgrund des Beitrages von Ehlers21 können wir unterscheiden:
- Projektion und Introjektion setzen voraus, dass das Kind schon zwischen Selbst und Objekt unterscheidet.
- Verkehrung ins Gegenteil und die Wendung gegen die eigene Person setzen voraus, dass das Kind einen Konflikt zwischen einem Triebimpuls und einem Verbot erlebt und
- Sublimierung ist erst möglich, wenn das Kind/der Jugendliche sich mit den sozialen Normen seiner Kultur identifiziert.
Diese Anordnung entlang einer Zeitachse erfuhr eine Ausdifferenzierung insbesondere im Hinblick auf die frühe Entwicklung. Strittig ist seither die Frage, ob Abwehrmechanismen ein funktionsfähiges Ich und die Entwicklung einer symbolisch-repräsentativen Innenwelt des Kleinkindes voraussetzen oder ob schon der Säugling in der frühesten Entwicklungsphase Abwehrmaßnahmen einsetzt, um z. B. Enttäuschungen über eine unempathische Mutter zu verarbeiten, wie z. B. Lichtenberg22 meint. Man sollte in diesen Fällen aber von neurophysiologisch gesteuerten Vorläufern der Abwehrmechanismen sprechen, auch wenn deren Ergebnisse wie z. B. die „Verleugnung“ von Angstzuständen oder eine Wut in Begriffen der symbolisierten Welt gefasst werden.
Auch der Abwehrmechanismus der Projektion setzt voraus, dass das Kind begonnen hat, Selbst- und Objektrepräsentanzen zu differenzieren. Wenn man allerdings wie Melanie Klein die Auffassung vertritt, dass Säuglinge schon von Anfang an über ein funktionsfähiges Ich verfügen, lassen sich z. B. auch projektive Identifikationen beschreiben, wie sie für die paranoid-schizoide Entwicklungsstufe typisch sein sollen. Empirische Belege für diese Auffassung beizubringen dürfte schwierig sein, aber in der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen und Psychosen haben sie sich offenkundig bewährt, wie z. B. Kernberg23 glaubt.
Wir sollten uns aber davor hüten, den Begriff der Abwehr allzu weit auszudehnen und jede Form der Bewältigung innerer, belastender Situationen einzubeziehen. Zur Seite der...