Christian Schwarke, Anne-Maren Richter
Technik und Lebenswirklichkeit in der Moderne. Zwischen Unverfügbarkeit und Handlungsfreiraum – Eine Einleitung
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ließ die Erkenntnis unabweisbar werden, dass Technik die gesamte Lebenswirklichkeit der westlichen Gesellschaften durchdringt. Konnte man als Intellektueller im 19. Jahrhundert noch einzelne Produkte industrieller Fertigung nutzen, sich aber ansonsten in die Villenviertel Berlins oder Heidelbergs zurückziehen, so drang Technik nach dem Ersten Weltkrieg sowohl durch die Präsenz ihrer Artefakte (Industrieanlagen ebenso wie Automobile) als auch durch die mit ihr einhergehenden Konflikte in die Alltagswelt der bürgerlichen Schichten ein. Nun wurde Technik als ein dominierender Faktor der Kultur wahrgenommen, den es zu verstehen, einzuordnen und möglichst einzuhegen galt. Die philosophischen und theologischen Konzepte, die auf diese Lage reagieren und cum grano salis zwischen 1919 und 1950 entstanden, bestimmen bis heute maßgeblich die Diskussion. Es gibt keine Technikphilosophie oder -theologie, die nicht in der einen oder anderen Weise an Martin Heidegger anknüpfte.1 Kaum ein kulturwissenschaftlicher Beitrag zur Medientechnik in der Moderne kommt ohne Verweis auf Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz aus.2
Die in diesem Band vorgelegten Studien gehen in der Mehrzahl auf eine Tagung zurück, die im Rahmen des systematisch-theologischen Forschungsprojektes „Konstruktionen von Transzendenz und Gemeinsinn in Technik und Theologie“ im Dresdner Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ veranstaltet wurde. Im Gegensatz zu ethischen Themenstellungen und deren normativen Implikationen ging es dem Projekt um eine Hermeneutik der Technikwahrnehmung, insofern darin Transzendenzverweise sichtbar werden. Unter „Transzendenz“ werden dabei solche Diskurse und Praktiken verstanden, die sich auf die Konstruktion von „Unverfügbarkeiten“ beziehen. Insbesondere im 20. Jahrhundert wurde Technik wahrgenommen als in Spannung stehend zwischen einer Verfügbarmachung natürlicher Prozesse und der Erzeugung neuer Kontingenz.
Hatte der Vorgängerband zu diesem Buch3 das Verhältnis von Technik und Transzendenz im Rahmen einer Bestimmung der Technik als Kultur durch historisch-empirische Fallstudien zu erhellen versucht, so geht es nun um eine Auseinandersetzung mit theologischen und philosophischen Deutungen der Technik. Das Ziel der dem vorliegenden Band zugrunde liegenden Tagung mit dem Titel „Unverfügbarkeit und Handlungsfreiraum. Gestalten theologischer und anthropologischer Technikdeutung“ lag darin, den Schwerpunkt von der eher negativen Konnotierung des Technischen in der deutschen Theologie und Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugunsten einer mehr konstruktiven Blickrichtung zu verschieben. Um solche konstruktiven Verhältnisbestimmungen zwischen Techniken und Handlungsspielräumen der modernen Lebenswelt zu eröffnen, wurden religionstheoretisch und anthropologisch relevante klassische Technikdeutungen analysiert.
Die Beiträge des ersten Teils rekonstruieren einzelne Techniktheorien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie zeigen das breite Spektrum der Theorieansätze und markieren den jeweiligen systematischen Ertrag für gegenwärtige Bemühungen um eine theologische Reflexion der Technik. Der zweite Teil des Bandes fragt daraufhin konstruktiv nach geeigneten theologischen Zugangsmethoden und Kategorien der Technikdeutung, welche die Herausforderungen durch Technik produktiv wenden.
In aller Vielfältigkeit der Zugänge und Perspektiven der behandelten Autoren lassen sich dennoch gemeinsame Linien und Bezüge identifizieren. Drei dieser Verbindungen sollen im Folgenden kurz erläutert werden. In je unterschiedlicher Weise geht es in theologischen und philosophischen Technikdeutungen um die Themenkreise der Bedeutung von Technik in der Moderne (1), um die Relation von Technik und Macht (2) und um das Verhältnis zwischen Technikdeutungen und theologischen Weltdeutungen (3).
1. Technik und Moderne. Für zahlreiche Autoren wurde die Technik zum bestimmenden Merkmal der neuen Lebenswirklichkeit. Technik wird in diesen Entwürfen zu einem Epochenbegriff. Für Max Weber, Martin Heidegger, Paul Tillich und Walter Benjamin ist die Moderne nicht nur technisch bestimmt, sondern die Technik bestimmt, was die Moderne allererst konstituiert. Selbst dort, wo die historische Allgegenwart der Technik anerkannt wird, führt die Einführung einer Gegenüberstellung von traditioneller und moderner Technik dazu, die Gegenwart in Abgrenzung zum Vergangenen definieren zu können. Stephan Schleissing hat gezeigt,4 dass mit der Inanspruchnahme der Technik als geschichtsphilosophisches Passwort freilich auch eine Rückwirkung auf Theologie und Philosophie verbunden war. Zukunft konnte nun in Übernahme eines technischen Verständnisses des Zeitlaufs nur noch als offene verstanden werden (siehe auch den Beitrag am Ende dieses Bandes). Nicht zuletzt in Walter Benjamins Konzept wird diese Dopplung von geschichtsphilosophischer Grundierung einerseits und Rückwirkung auf das Geschichtsverständnis andererseits deutlich.
2. Technik und Macht. Mit der Wahrnehmung, dass Technik die gesamte Lebenswirklichkeit unentrinnbar durchdringe, verband sich im 20. Jahrhundert die Frage, wer das Subjekt solcher Entwicklungen sei. Von den hier behandelten Autoren wird diese Frage besonders von Martin Heidegger und Dietrich Bonhoeffer traktiert. Indem Heidegger der Technik nicht nur äußerliche Wirkung bescheinigt, sondern ihren Einfluss weit darüber hinaus auf das Denken und die gesamte Lebensorientierung zu beschreiben versucht, verleiht er dem damals wie heute verbreiteten Urteil Ausdruck, dass letztlich die Technik subjekthaft die Macht in der Moderne an sich gerissen habe. Konnte Heidegger noch in der Kunst sowie in der Dialektik von Gefahren- und Rettungsbewusstsein einen Hoffnungsschimmer sehen, so verdüstert sich dieses Bild bei Michael Trowitzsch zu einer mythisch grundierten Ohnmachtsthese. Die Frage der Macht wird auch in Walter Benjamins Konzept zum Zentralthema, nun aber politisch gewendet: Nicht die moderne Technik an sich konfrontiert den Menschen mit einem übermächtigen Subjekt. Allein die politische Inanspruchnahme dieser Technik zu unterschiedlichen Zwecken befreit oder zerstört den Menschen. Benjamins Rezeption der modernen Technik fällt denn auch signifikant positiver aus als bei den meisten anderen zeitgenössischen Theoretikern.
Die veränderte Signatur der Gegenwart lässt die Frage nach der Technik zu einer Frage des Umgangs mit den von ihr induzierten konkreten Konflikten werden. Antworten darauf findet Christian Polke in ritualtheoretischen Erwägungen, die darauf abzielen, die gewöhnende Einübung mit technischem und religiösem Weltumgang in Parallelen zu begreifen und gleichermaßen ernst zu nehmen. Stephan Schleissing thematisiert konkrete Orte der Kommunikation über technische Innovationen, in denen gerade Transzendenz als Vernunft- und Vermittlungsinstanz erkennbar wird.
3. Technikdeutungen und theologische Deutungen der Lebenswelt. Eine dritte Linie verbindet die behandelten Entwürfe schließlich in der Frage nach den säkularisierenden Wirkungen der modernen Technik und der Frage danach, was dies für die Theologie bedeuten könnte. Bereits Max Weber sieht einen engen Zusammenhang zwischen der durch die Propheten initiierten Säkularisierung und der technischen Entwicklung im Abendland. Benjamin wendet diese Erkenntnis dann auf die konkrete Technik des Films an und stellt die Frage, wie denn eine Kunst in dieser Moderne sich behaupten könne. Damit ist eine Umkehr der Fragerichtung verbunden: Wie lässt sich ein religiöses Welt- und Selbstverständnis konzipieren, wenn die moderne Technik die Stützen traditioneller Gläubigkeit auflöst? Gesucht wurde daher ein religiös und rational valides Verständnis der Lebenswirklichkeit, das sich der technischen Durchdringung grundsätzlich entzieht. Demgegenüber haben amerikanische Theologen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Frage gestellt, wie denn die Theologie in Übereinstimmung mit den technischen Herausforderungen gedacht werden könnte. In dieser Tradition zielen Gordon D. Kaufman und Sallie McFague dabei auf eine Revision des Gottesbegriffs. Mit der Erfahrung interdisziplinärer Gespräche der letzten zwanzig Jahre im Rücken ergibt sich heute freilich nicht nur das Problem, religiöse Begriffe und Vorstellungen zu modernisieren, sondern die Lebenswirklichkeit auch begrifflich zu integrieren: Theologische Technikdeutung muss sich der Konkretion des Technischen stellen, so die Forderung Ralph Charbonniers.
Die dargestellten Linien in den Konzepten der klassischen Autoren werden mithin auch von den Beiträgen im zweiten Teil des Bandes fortgezogen. Stellt man die...