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DIE GRENZEN DER HIERARCHIE IN EINER BESCHLEUNIGTEN WELT
Dieses Buch ist ein Buch über und für Pioniere. Die Themen, die ich hier ansprechen werde, sind alle mit einer einzigen, bahnbrechenden Beobachtung verbunden: Überall haben Organisationen große Schwierigkeiten, mit dem zunehmenden Tempo des Wandels schrittzuhalten – geschweige denn, ihm zuvorzukommen.
Die meisten Menschen nehmen die rasanten Entwicklungen in ihrem Umfeld gar nicht in ihrem vollen Ausmaß wahr, und das ist ein Teil des Problems. Objektiv betrachtet aber sind die Daten überzeugend: Fast alle großen Wirtschaftsindizes zeigen, dass sich die Welt rasend schnell verändert. Und ähnlich exponentiell nehmen auch die Dinge zu, die dabei für uns auf dem Spiel stehen – die finanziellen, gesellschaftlichen, ökologischen und politischen Konsequenzen des beschleunigten Wandels.
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Doch wie kann man in einem zunehmend von Turbulenzen und Umbrüchen geprägten Umfeld wettbewerbsfähig bleiben und profitabel wachsen? Das ist die große Frage, mit der sich Führungskräfte heute überall auseinandersetzen müssen. Das größte Problem liegt darin, dass jedes Unternehmen jenseits der Gründungsphase viel stärker auf Effizienz hin optimiert wird als auf strategische Agilität – die Fähigkeit, schnell und selbstbewusst Chancen zu nutzen und Gefahren auszuweichen. Ich könnte Ihnen bestimmt hundert Beispiele von Unternehmen nennen, die wie der US-Buchhändler Borders oder der kanadische Smartphone-Hersteller Research in Motion (RIM) die Notwendigkeit eines großen strategischen Schrittes zwar erkannt haben, ihn aber nicht schnell genug umsetzen konnten und am Ende von agileren Konkurrenten an den Rand gedrängt wurden. Das Muster ist immer dasselbe: Eine Organisation sieht sich plötzlich mit einer echten Bedrohung konfrontiert oder erkennt eine große Chance und versucht – ohne Erfolg – mithilfe von Strukturen, Prozessen und Methoden, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, große Veränderungen im Schnellverfahren herbeizuführen. Doch die alten Methoden reichen für die Entwicklung und Umsetzung neuer Strategien oft einfach nicht mehr aus.
Früher haben Unternehmen ihre grundlegenden Strategien nur selten überarbeitet – eigentlich nur dann, wenn sie dazu gezwungen waren. Heute setzt jedes Unternehmen seine Existenz sofort aufs 3Spiel, wenn es seine grundsätzliche Ausrichtung nicht wenigstens alle paar Jahre überdenkt und bei Bedarf zügig die erforderlichen operativen Änderungen vornimmt (auf neue Bedingungen muss es natürlich ständig reagieren). Das sind die Auswirkungen des beschleunigten Wandels. Dabei kann jede Führungskraft bestätigen, dass es oftmals einem Spagat gleichkommt, wenn man in einem immer härteren Wettbewerbsumfeld die Nase vorn behalten will und gleichzeitig die jährlichen Finanzziele erreichen muss.
Wir dürfen die zahlreichen Aufgaben nicht unterschätzen, die in jedem Unternehmen tagtäglich zu erledigen sind und die von traditionellen Hierarchien und Managementprozessen noch immer sehr gut bewältigt werden können. Ganz im Gegensatz zu der Herausforderung, die größten Gefahren und Chancen früh genug zu erkennen, in kürzester Zeit innovative strategische Initiativen zu formulieren und diese vor allem hinreichend schnell umzusetzen.
Vom Netzwerk zur Hierarchie
Praktisch alle erfolgreichen Organisationen weltweit durchlaufen einen ganz ähnlichen Lebenszyklus: Sie beginnen als netzwerkartige Struktur, die einem Sonnensystem mit Sonne, Planeten, Monden und sogar Satelliten ähnelt. Im Mittelpunkt stehen die Gründer. Die einzelnen Knoten repräsentieren die Mitarbeiter, die an verschiedenen Initiativen arbeiten. Alles Handeln ist darauf ausgelegt, Chancen zu nutzen und Risiken einzugehen, und folgt dabei stets einer Vision, mit der sich alle Beteiligten identifizieren – mit dem Ergebnis, dass energiegeladene Mitarbeiter schnell und flexibel agieren.
Mit der Zeit entwickelt sich eine erfolgreiche Organisation in mehreren Phasen (ein wichtiger Aspekt, daher später mehr dazu) zu einem Unternehmen, das hierarchisch aufgebaut ist und von altbekannten Managementprozessen angetrieben wird: Planung, Budgetierung, Stellenbildung, Stellenbesetzung, Messung und Problemlösung. Mit einer gut strukturierten Hierarchie und geschickt gelenkten Managementprozessen kann diese reifere Organisation unglaublich zuverlässige und effiziente Wochen-, Quartals- und Jahresergebnisse liefern.
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Eine gut strukturierte Hierarchie ermöglicht es uns, Arbeit in Abteilungen, Sparten und Regionen aufzuteilen, in denen fundierte Fachkenntnisse entwickelt und gefördert, bewährte Verfahren erfunden und eingesetzt werden und eindeutige Vorgesetztenverhältnisse und Rechenschaftspflichten bestehen. Zusammen mit Managementprozessen, die selbst Tausende Mitarbeiter auf der ganzen Welt lenken und koordinieren können, ergibt sich daraus ein Betriebssystem, das die Menschen genau das tun lässt, worin sie besonders gut sind.
Es gibt Menschen, die all das als bürokratisches Überbleibsel der Vergangenheit verspotten, das für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts völlig ungeeignet ist. „Weg damit“, fordern sie. „Dem Erdboden gleichmachen. Von vorn anfangen. Als Spinnennetz organisieren. Das mittlere Management eliminieren und auf Selbststeuerung der Mitarbeiter setzen.“ Die Wahrheit aber ist, dass die managementgesteuerten Hierarchien, die in guten Unternehmen zum Einsatz kommen und die wir für selbstverständlich halten, zu den genialsten Innovationen des 20. Jahrhunderts zählen. Und sie sind nach wie vor absolut notwendig, damit Organisationen überhaupt funktionieren können.
Genial ist zum Beispiel die Tatsache, dass sie optimiert werden können, um auf Veränderungen zu reagieren, die über bloße Wiederholung 5hinausgehen – zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Wir haben gelernt, in einem hierarchischen System Initiativen auf den Weg zu bringen, um neue Aufgaben zu bewältigen und unsere Leistung bei den alten zu verbessern. Wir wissen, wie man neue Probleme identifiziert, Daten in einem dynamischen Marktumfeld findet und analysiert, und anhand von Business Cases untersucht, wie wir verändern können was wir tun, wie wir es tun, wie wir es verkaufen und wo wir es verkaufen. Wir haben gelernt, diese Änderungen umzusetzen, indem wir Taskforces, Tiger-Teams, Projektmanagement-Abteilungen und Executive Sponsoren für neue Initiativen einsetzen. Dabei können wir uns gleichzeitig noch immer um die tagtäglichen Aufgaben der Organisation kümmern, weil sich diese Methode der strategischen Veränderung leicht in eine hierarchische Struktur und in einfache Managementprozesse integrieren lässt. Und genau das haben Führungskräfte bisher überall getan – und zwar jedes Jahr in einem etwas größeren Ausmaß.
Jede einschlägige Umfrage unter Führungskräften, die mir in den letzten zehn Jahren untergekommen ist, hat ergeben, dass mehr strategische Initiativen denn je auf den Weg gebracht werden. Fähige Führungspersonen waren schon immer um Produktivitätssteigerungen bemüht. Jetzt aber versuchen sie, mehr Innovationen in kürzerer Zeit hervorzubringen. Und wenn historische, über viele Jahre oder Jahrzehnte entstandene Organisationskulturen schwerfälliger werden, versuchen ungeduldige Führungskräfte, sie zu verändern. Dabei besteht das oberste Ziel all dieser Bemühungen natürlich immer darin, profitables Wachstum zu beschleunigen, um mit der Konkurrenz mitzuhalten oder sie zu überholen.
Dieselben Umfragen zeigen aber auch, dass der Erfolg bei all diesen Initiativen oft nur eine Illusion ist. Ein kürzlich unternommener Neustart bei dem US-Einzelhändler JC Penney etwa schien außergewöhnlich vielversprechend – für ein paar Monate. Und dann begannen die vielen strategischen Projekte langsam komplett auseinanderzufallen.
6Die Grenzen managementgesteuerter Hierarchien
Die Schwachstellen des Systems sind uns allen wohlbekannt.
Wenn wir einmal darüber nachdenken, stellen wir fest, dass wir die Leitung von Schlüsselinitiativen immer wieder demselben kleinen Kreis vertrauter Personen überlassen. Das schränkt sowohl unseren Handlungsspielraum als auch die Umsetzungsgeschwindigkeit erheblich ein.
Wir stellen fest, dass die Kommunikation in siloartigen Strukturen nicht ausreichend schnell und wirksam ist. Dasselbe gilt für den Informationsfluss von der Spitze der Organisation an die Basis und umgekehrt. Die Folge: Weitere Verzögerungen.
Wir stellen fest, dass selbst die sinnvollsten Grundsätze, Regeln und Verfahren strategische Veränderungen blockieren. Im Laufe der Zeit nehmen diese Mittel – implementiert als Lösungen für reelle Kosten-, Qualitäts- oder Compliance-Probleme – zwangsläufig an Umfang zu. In einer schnelllebigeren Welt aber macht sie das mindestens zu Bremsschwellen, wenn nicht gar zu ausgewachsenen Betonbarrieren.
Wir stellen fest, dass der kurzfristige Fokus auf Quartalszahlen mit zukunftsorientierten Anstrengungen kollidiert, Gas zu geben und unsere Konkurrenten zu überholen. Es ist klar, welches Thema eine Besprechung dominieren wird, bei der sowohl über ein großes Programm zur Ausweitung der Innovationstätigkeit als auch über die Aufräumarbeiten nach einem Brand in einer Ihrer Betriebsstätten diskutiert werden soll. Multipliziert mit dem Faktor Hundert oder Tausend führt diese inhärente Tendenz unvermeidlich dazu, dass so viele gute Ideen zur Steigerung des Innovations- und Erfolgspotenzials einer Organisation entweder zum Stillstand kommen oder völlig verkümmern.
Zum Teil ist dieses Problem politisch und gesellschaftlich bedingt: Es widerstrebt uns oft, ohne die Einwilligung...